In Zeiten berechtigter Wut über den russischen Angriffskrieg in der Ukraine verliert man bisweilen aus den Augen, dass es auch im heutigen Russland noch Anstand und Mut gibt. Am 23. Februar 2022 schrieb die Pianistin Polina Osetinskaya auf Facebook: »Aktuelle Stimmung: Das Gesicht in den Kissen vergraben, um diese Realität nicht zu sehen, und dann Händel beweinen, weil der heute Geburtstag hat.« Osetinskaya sah jedoch nicht weg, als einen Tag darauf die russische Invasion begann. Sie fühle »Schmerz, Verzweiflung, Scham«, schrieb sie in einem Statement für VAN und auf Social Media. Schon in den Jahren zuvor hatte die Pianistin sich immer wieder geweigert, die Augen vor der Realität zu verschließen: Sie protestierte 2013 gegen die Bolotnaja-Prozesse, setzte sich für Kirill Serebrennikow und Pussy Riot ein und gehörte im Februar 2021 zusammen mit dem in London lebenden Jewgeni Kissin zu den ersten russischen Musiker:innen, die sich im Rahmen einer Protestaktion gegen staatliche Repression und den Terror gegen die eigene Bevölkerung stellten.

Doch im Gegensatz zu vielen anderen russischen Künstler:innen, Studierenden, Akademiker:innen, Intellektuellen und Journalist:innen hat Osetinskaya ihr Land nach der russischen Invasion nicht verlassen. Sie lebt weiterhin mit ihren beiden Kindern in Moskau. Weil sie ihre Ablehnung gegenüber dem Krieg immer wieder in Sozialen Medien zum Ausdruck bringt, wurden alle ihre Auftritte in staatlichen Konzertsälen abgesagt. »Mein Leben hat sich sehr verändert, aber wir wissen, dass sich das Leben von Millionen von Menschen noch viel dramatischer gewandelt hat«, schrieb sie mir Anfang Februar 2023. »In Anbetracht des Leids, das wir in der Ukraine verursachen, möchte ich mein eigenes Schicksal nicht überbewerten.« Zwei Wochen später erreichte ich sie via Zoom zuhause in Moskau, einen Tag nach ihrer Rückkehr von einer Konzertreise nach Málaga (Osetinskaya spielte in den letzten Monaten außerdem unter anderem in der Carnegie Hall in New York und der Koerner Hall in Toronto, jeweils mit dem Geiger Maxim Vengerov). »Es ist, als ob man in zwei Welten lebt«, erklärt sie mir zu Beginn unseres Gesprächs. »Jetzt ist es wirklich schwer, außerhalb Russlands aufzutreten, als russische Künstlerin und als Mensch, der sich für den Krieg sehr stark verantwortlich fühlt.«

VAN: Am 24. Februar 2022 schrieben Sie in einem Statement, Sie fühlten ›Schmerz, Verzweiflung, Scham‹. Können Sie diese Scham beschreiben?

Polina Osetinskaya: Ich hätte nie gedacht, dass dieser Krieg möglich sein könnte. Wir sind groß geworden mit der Überzeugung, dass es nach dem Zweiten Weltkrieg nie wieder Krieg geben dürfe. Ich schäme mich auch dafür, dass nicht alle meine Freundinnen und Freunde gegen den Krieg waren. Das war es, was mich zu Beginn am meisten deprimiert hat. Der Großteil meines Freundeskreises war dagegen, aber es gab immer noch einige, die meinten: ›Endlich!‹ [macht eine triumphierende Geste]. Mit denen rede ich nicht mehr, aber ich schäme mich auch dafür. ›This too shall pass‹, wie es bei König Salomon heißt. Das versuche ich mir auch zu sagen. Aber die Schande geht nicht vorüber, und sie hat unser Leben ruiniert, das Leben unserer Generation, das Leben unserer Kinder. Alles, was ›russisch‹ ist, gilt heute als unmenschlich, und es wird sehr lange dauern, bis sich das ändert.

Das historische Selbstverständnis der Russ:innen als Sieger über den Faschismus instrumentalisiert Putin jetzt für seine Propaganda, wie zum Beispiel jüngst in seiner Rede in Wolgograd: Wieder werde Russland von der Ideologie des Nazismus in seiner Existenz bedroht.

Das ist eine große historische Tragödie in Russland: Wir haben die Dinge nie beim Namen genannt. Wir haben die Verbrechen der Revolution, die Ermordung der Zarenfamilie, die von Lenin und Stalin und der kommunistischen Partei verursachten Völkermorde nie also solche bezeichnet. Die verantwortlichen Kommunist:innen hätten verurteilt werden sollen, aber das ist nie passiert. In Deutschland lernen die Kinder von klein auf in der Schule über die Verbrechen des Nationalsozialismus. In Russland haben wir uns mit unseren eigenen Verbrechen nie beschäftigt. Und jetzt sind wir an einem Punkt angelangt, an dem Stalin wieder der Gute ist. Wir haben keinen der großen Verbrecher zur Rechenschaft gezogen, und so wurden sie wieder zu Helden. Jetzt hängen sie wieder Stalin-Porträts in Schulen, in Krankenhäusern, an öffentlichen Plätzen auf. Es ist, als würde man in einem schlechten Traum leben. Als wir sagten: ›Nie wieder‹, haben wir nie unsere eigenen historischen Fehler gemeint. Früher war es der KGB, jetzt ist es der FSB, der das Land regiert. Wenn ich dazu noch mehr sage, könnte ich morgen im Gefängnis sitzen, aber meiner Meinung nach liegt das daran, dass wir nicht aus den historischen Fehlern gelernt haben.

Die Cembalistin Liza Miller schrieb letzten März in VAN: ›Wir dachten, wir würden unser Bestes tun, aber in Wahrheit taten wir nur so viel, wie es für uns eben gerade passte. Hätten wir den Krieg verhindern können? Ich weiß es nicht, aber wir hätten bei dem Versuch sterben können.‹ Gibt es so etwas wie eine ›Kollektivschuld‹? Fühlen Sie sich schuldig?

Natürlich gibt es eine Art Kollektivschuld. Ich habe meine Gedanken und Gefühle über das, was vor sich geht, immer ehrlich und lautstark zum Ausdruck gebracht. Ich habe mich immer für die politischen Gefangenen in unserem Land eingesetzt und für die Wahrheit gekämpft. Wir dachten wirklich, wie Liza schrieb, dass wir mit diesen kleinen Taten genug tun würden. Am meisten schäme ich mich dafür, dass wir dadurch nichts verändert haben, und jetzt können wir es nicht mehr. An diese unsere Rolle zu denken, ist für mich sehr schmerzhaft.

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Polina Osetinskaya spielt die Arie Schafe können sicher weiden aus Johann Sebastian Bachs Kantate BWV 208 als Zugabe bei einem Konzert in der Moskauer Niko Art Gallery am 20. Dezember 2022.

Es soll eine Liste mit 37 Künstler:innen – hauptsächlich aus dem Pop-Bereich – geben, die in Russland nicht mehr auftreten dürfen. Diese Liste werde an Veranstalter verschickt. Gibt es etwas Ähnliches auch für die klassische Musik? Wissen Sie, ob Sie auf einer solchen Liste stehen?

All meine Konzerte in staatlichen Konzertsälen wurden abgesagt. Ich persönlich kenne einige Musiker:innen, die gezwungen wurden, nicht mehr aufzutreten. Es gibt viele Denunziationen gegen mich: ›Polina schreibt immer noch Negatives über die Regierung‹ – was ich in den letzten 10, 15 Jahren ständig getan habe. Ich hatte wegen meiner politischen Positionen nie Konzerte in den wichtigsten Sälen hier in Russland. Viele Dirigenten und Veranstalter haben mir unter der Hand gesagt, dass ich zu viel rede.

Ihre Konzerte in St. Petersburg und Irkutsk im vergangenen September wurden kurzfristig abgesagt, angeblich aus ›gesundheitlichen Gründen‹. Wie wurden die Absagen Ihnen gegenüber kommuniziert?

In St. Petersburg informierte man mich einen Tag im Voraus. Ich war gerade erst in der Stadt angekommen. Niemand sagte den wahren Grund, aber jeder verstand ihn. Das einzige Konzert, das noch nicht abgesagt wurde, ist eines mit Vladimir Spivakov im Moskauer Haus der Musik, das im März stattfinden soll. Aber bevor ich das nicht gespielt habe, kann ich nicht sagen, ob es stattfindet, denn sie können es auch eine halbe Stunde vor Aufführungsbeginn noch absagen. Vielleicht hatten sie einfach noch keine Zeit, sich die Programme anzuschauen.

Seit sechs Jahren mache ich ein musikalisches Programm mit der Schauspielerin Kseniya Rappoport zum Unbekannten Freund von Iwan Bunin. Letzte Woche sollte Kseniya eigentlich mit dem Stück Einstein und Margarita und Schauspieler Alexei Serebrjakow auf der Bühne stehen. Die Aufführung wurde eine halbe Stunde vorher, als das Publikum bereits im Saal war, aus ›technischen Gründen‹ abgesagt. Aber alle wissen, dass Kseniya einen offenen Brief geschrieben hat zur Unterstützung von Lija Achedschakowa, der berühmten 84-jährigen Schauspielerin, die wegen ihrer politischen Haltung beim Sovremennik Theater rausgeflogen ist, wo sie seit 46 Jahren gearbeitet hat.

Wo dürfen Sie denn noch auftreten? 

Ich kann in kleinen privaten Locations spielen oder privaten Konzertsälen wie dem DK Rassvet – da bin ich gerade mit der Geigerin Elena Revich aufgetreten. Oder in der Niko Art Gallery, einer Kunstgalerie, die jetzt von der Tochter des armenischen Künstlers Nikolai Bagratovich Nikogosyan geleitet wird. Gestern habe ich im Sacharow-Zentrum gespielt, anlässlich des 100. Geburtstags von Andrej Sacharows Frau, Jelena Georgijewna Bonner. Das Zentrum wird jetzt auch geschlossen, weil es als ›ausländischer Agent‹ eingestuft wurde. Ich spiele auch in Kinderhospizen, in Krankenhäusern, in Privatwohnungen. Ich weiß noch: Als ich sieben Jahre alt war, ging mein Vater öfters zu Konzerten großer Rockgruppen wie Aquarium, die in Privatwohnungen auftraten. Diese Art von Underground-Kultur der frühen 80er Jahre ist plötzlich wieder da. Ich werde weiterhin an solchen Orten spielen, denn die Menschen, die Russland nicht verlassen können oder lieber in ihrem eigenen Land bleiben und so gut es geht für die Wahrheit kämpfen, brauchen Kunst und Musik, um ihren Schmerz zu lindern.

Polina Osetinskaya bei der Eröffnung einer Ausstellung über Jelena Georgijewna Bonner im Moskauer Sacharow-Zentrum am 15. Februar 2023

In der russischen Propaganda ist oft von einem westlichen ›Krieg gegen die russische Kultur‹ die Rede. Den größten Schaden nimmt die russische Kultur allerdings innerhalb Russlands. Sie waren bei der letzten Veranstaltung des Gogol-Zentrums vor dessen Schließung Ende Juni dabei; viele russische Künstler:innen sind ins Ausland gegangen. Wie erleben Sie die lokale Kunst- und Kulturszene jetzt? Gibt es noch regimekritische Veranstaltungen?

Es gibt einige kleine Veranstaltungsorte mit Programmen, die man als Protest bezeichnen könnte. Ich möchte sie nicht beim Namen nennen, um sie nicht zu gefährden. Man kann immer noch Bach und Mozart spielen, aber man kann nie sicher sein, ob sie nicht eines Tages auch zur Musik des Feindes erklärt werden. Viele Menschen emigrieren innerlich, in ihren Gedanken und ihrem Geist. Alles wird immer trauriger. Jetzt unterstützt die Regierung diejenigen, die ›patriotische‹ Projekte ins Leben rufen. Zum Beispiel Festivals mit patriotischer Musik, bei denen es darum geht, dass es ›eine große Ehre ist, Russe zu sein‹, dass ›wir gewinnen‹ und so weiter.

Sind Sie jemals für so ein ›patriotisches Projekt‹ angefragt worden?

Nein.

Außerhalb Russlands gibt es eine Art Generalverdacht gegenüber russischen Künstler:innen, die das Land nicht verlassen haben, vor allem gegenüber denen, die sich – im Gegensatz zu Ihnen –  noch nicht öffentlich gegen den Krieg positioniert haben. Was meinen Sie: Ist es die Pflicht einer jeden Künstlerin und eines jeden Künstlers, Stellung zu beziehen? Wird man zur Komplizin oder zum Komplizen des Terrors, wenn man das nicht macht?

Es gibt da auf jeden Fall eine Verantwortung, aber ich denke nicht, dass sie von außen eingefordert werden kann, denn jeder Mensch lebt unter anderen Umständen und hat das Recht, zu sagen, was er ohne Angst sagen kann. Nach den neuen Gesetzen, die kurz nach dem 24. Februar eingeführt wurden, kann man schon für die Verwendung des Wortes ›Krieg‹ ins Gefängnis kommen. Alles, was man sagt, kann als ›Falschnachricht über die Armee‹ gewertet werden. Jedes Wort, das wir in den Mund nehmen, kann unvorhersehbare Folgen haben. Sie beobachten uns alle, vor allem diejenigen, die nicht loyal dem Regime gegenüber sind. Ich würde nicht gerne ins Gefängnis gehen. Aber Angst ist das schrecklichste und unangenehmste Gefühl, das ich in meinem ganzen Leben hatte, und jetzt kann ich es einfach nicht mehr fühlen. 

Auch innerhalb der russischen Community gibt es eine tiefe Kluft: zwischen denen, die geblieben sind, und denen, die gegangen sind, und zwischen denen, die eine kollektive Schuld sehen für das, was passiert ist, und denen, die das anders sehen. Wie erleben Sie das?

Ja, das ist ein schreckliches Problem zwischen denen, die geblieben, und denen, die gegangen sind. Noch eine traurige Geschichte – victim blaming von beiden Seiten. Leider wird da viel aus einem Gefühl der moralischen Überlegenheit heraus argumentiert.

Haben Sie schon mal darüber nachgedacht, Russland zu verlassen? 

Das hier ist mein Land, und solange ich noch die Möglichkeit habe, jemandem hier zu helfen, werde ich das machen. Noch sitze ich nicht im Gefängnis, ich kann etwas für die Menschen tun. Aber wenn ich feststelle, dass hier niemand meine Hilfe braucht, dann werde ich vielleicht das Gegenteil in Erwägung ziehen.

Konzert von Polina Osetinskaya in einem Moskauer Hospiz am 26. Dezember 2022

Machen Sie sich Sorgen, dass es Ihnen zum Vorwurf gemacht werden könnte, dass Sie nicht gegangen sind? 

Dieser Vorwurf ist mir schon gemacht worden. Es gibt zum Beispiel einen sehr berühmten ukrainischen Musiker, den ich seit 15 Jahren wirklich sehr bewundere. Im Sommer war ein Freund von mir für Konzerte in Odessa und sie trafen sich, unterhielten sich über Klaviermusik. Mein Freund schickte ihm den Link zu meinen Goldberg-Variationen, und er war sehr angetan. Dann fragte er: ›Wo lebt sie, hat sie Russland verlassen?‹ Und mein Freund sagte: ›Nein, das hat sie nicht. Ihr Publikum ist dort, ihr Zuhause, ihre Kinder gehen dort zur Schule.‹ Und er meinte: ›Wenn sie in Russland lebt, dann bedeutet das, dass sie einverstanden ist mit dem, was vor sich geht, und dass sie den Krieg unterstützt, also schick mir bitte keine Links mehr von ihr.‹ Das war wie ein Schlag ins Gesicht.

Es ist sehr schwer zu erklären, warum das so nicht stimmt. Ich kann dazu nichts anderes sagen als: Was ist, wenn alle Menschen, die gegen die Regierung sind, Russland verlassen? Wer bleibt dann noch? Und wer wird den Neuanfang machen, wenn das alles vorbei ist? Überall gibt es Menschen, die verstehen, was vor sich geht, und solche, die das nicht verstehen. Die Nanny meiner Kinder kommt aus der Westukraine, sie arbeitet seit sieben Jahren bei uns, ihre Mutter ist in der Ukraine, ihre Kinder, alle. Sie schickt das Geld, das ich ihr zahle, an ihre Familie in der Ukraine. Sie ist immer noch bei mir, weil wir verstehen, was in der Seele und im Kopf der jeweils anderen vor sich geht.

Im Februar 2022 schrieben Sie: ›Auch wenn es unmöglich ist, diese schändliche Tat zu vergessen, bitte ich die Ukrainer:innen und die ganze Welt, im Gedächtnis zu behalten, dass viele Russ:innen diesen Bruderkrieg nicht wollten und wollen.‹ Dieses ›andere Russland‹ ist aber in der Minderheit und je länger Krieg und Verbrechen andauern, desto unsichtbarer wird es. Denken Sie, dass es wichtig ist, dass ein Teil dieses ›anderen Russlands‹ im Land bleibt?

Ich denke, dass es sehr wichtig ist, dass dieser Teil Russlands in Russland bleibt. Es gibt viele solcher Menschen, aber sie haben Angst zu reden. Eine alte Freundin, die ich sehr liebe, liegt mit einer Krebsdiagnose im Sterben, und gestern habe ich versucht, für sie ein Hospiz zu organisieren, jemanden, der zu ihr nach Hause kommt und sich um die Sterbebegleitung kümmert. Was wäre, wenn all diese Menschen gehen würden? Wer würde bei den Kranken bleiben, den Kindern und allen, die Hilfe brauchen? Seit Februar haben schon so viele gute Ärztinnen und Ärzte Russland verlassen, darunter auch viele Freund:innen von mir. Ich sehe hier immer noch viele wunderbare Seelen, die nicht gehen können oder wollen, weil sie es als ihre Pflicht ansehen, hier zu bleiben. Aber öffentlich schweigen sie meist, weil die Gefahr so groß ist. Die Leute schreiben jetzt Briefe, in denen sie ihre Nachbar:innen, Universitätsprofessor:innen und Lehrer:innen denunzieren, wenn die anderer Meinung sind. Es ist wie unter Stalin. Es gibt ein berühmtes Sprichwort: ›Stalin war ein sehr schlechter Mensch, aber wer hat die vier Millionen Briefe geschrieben, in denen Nachbar:innen denunziert wurden?‹

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Osetinskaya spielt Arvo Pärt, Valentin Silvestrov und Giya Kancheli im Kulturzentrum DK Rassvet am 31. Mai 2022. 

Sie kennen den Komponisten Valentin Silvestrov gut, haben seine Werke aufgenommen und aufgeführt. Im Mai 2022 haben Sie ein Stück von ihm im selben Saal gespielt, in dem einen Monat vorher das Konzert des Pianisten Alexei Lubimov von der Polizei unterbrochen wurde. Stehen Sie in Kontakt mit Silvestrov?

Ich habe seine Flucht aus Kiew aufmerksam verfolgt und ihm einige Worte übermittelt, aber nicht persönlich. Ich möchte ihn im Moment nicht behelligen, für ihn ist es eine sehr schwierige Situation. Ich habe Silvestrov nicht nur im Mai gespielt, sondern auch im Juni und im November, und ich werde das auch weiterhin tun. Silvestrov ist heute zum wichtigsten Komponisten geworden.

Der Schriftsteller Viktor Jerofejew schrieb in seinem Tagebuch über seine Abreise aus Russland: ›Es ist Krieg, doch über dem Land liegt Bewusstlosigkeit über das, was sich ereignet. Ich fuhr durch ein Russland, das nicht fähig ist, sich zu entschuldigen, da es nicht weiß wofür.‹

Wenn man wissen will, was wirklich vor sich geht, dann erfährt man das auch. Das Leben hat sich auf so viele Weisen verändert, dass man nur noch leben kann, als sei nichts passiert, wenn man die Wahrheit nicht sehen will. 

Sie haben vor einigen Monaten geschrieben: ›Wenn ich jetzt nicht das dritte Konzert von Prokofjew unterrichten müsste, würde ich wahrscheinlich verrückt werden.‹ Wie verhindern Sie es, verrückt zu werden?

Mitte des Sommers war ich so deprimiert über das, was vor sich ging – jeden Tag sah man das nächste Grauen. Als dann auch noch die abgesagten Konzerte dazu kamen, war ich noch deprimierter, weil ich meine Familie ernähren muss. Letzten Oktober war ich in Jelabuga, in dem kleinen Haus, in dem sich Marina Zwetajewa 1941 erhängt hat. Ich war kurz davor, dasselbe zu tun. Also kam ich zurück nach Moskau und rief meinen Psychiater an, der sagte: ›Sie müssen anfangen, Tabletten zu nehmen, sonst haben wir bald eine Leiche anstelle von Polina.‹ Und ich fing an, Antidepressiva in hoher Dosis zu schlucken. Und so war ich zumindest in der Lage, weiterhin jeden Tag aufzustehen, meinen Kindern Frühstück zu machen und sie zur Schule zu bringen und ein wenig zu arbeiten. Der Krieg beschäftigt einen jeden Tag, man geht zugrunde, weil man nichts ändern kann. Oder man kann versuchen, den Menschen in der eigenen Umgebung zu helfen. Es gibt zum Beispiel viele ukrainische Geflüchtete hier in Russland. [Viele werden unter Zwang nach Russland deportiert– d. Red.] Ein Freund hat einen Fonds für die Geflüchteten eingerichtet: Sie brauchen Schuhe und Lebensmittel, und wir helfen einfach. Das ist die einzige Möglichkeit, damit umzugehen und am Leben zu bleiben.

Anna Achmatowa schrieb 1957 über die Musik von Schostakowitsch: ›Sie ist mit mir im Gespräch, wenn andere ängstlich meine Nähe meiden. Und als die letzten meiner Freunde wegschauten, stieg sie in mein Grab hinab.‹ Welche Musik spricht jetzt zu Ihnen? Und welche nicht?

Im Moment kann ich nicht zum Vergnügen spielen. Ich kann keine Chopin-Walzer spielen. Eine Tragödie, die sich ereignet, muss gesehen und gehört werden, in Klängen, in der Musik, die wir spielen. Ich spiele hauptsächlich Bach und Rameau. In Rameaus Musik habe ich Heilung gefunden.

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Sie haben mir geschrieben: ›Ich denke immer: Würde Maria Yudina gehen? Nein, das würde sie nicht.‹ Was bedeuten Ihnen in diesem Moment Frauen wie Yudina oder auch Marina Zwetajewa?

Sie waren nicht nur Künstlerinnen, sondern auch Vorbilder für Freiheit, Moral und intellektuelle Würde. Maria Yudina wurde gecancelt, aber sie ging trotzdem auf die Bühne und las die Bibel oder verbotene Dichter wie Pasternak. Diese Vorbilder zeigen uns, dass man auch in dunklen Zeiten noch Licht statt Hass in die Welt bringen kann, dass man noch Hoffnung geben kann, statt hoffnungslos zu sein, dass man noch die unterstützen kann, denen es schlechter geht als einem selbst. ¶

... ist Herausgeber von VAN. Er studierte Development Studies, Ethnologie und Asienwissenschaften in Berlin, Seoul, Edinburgh und an der London School of Economics und arbeitete im Anschluss zehn Jahre als Berater in Projekten der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. 2014 gründete er mit Ingmar Bornholz den VAN Verlag, wo er auch als Geschäftsführer fungiert. hartmut@van-verlag.com