Wenn die ganze Welt in Trümmern liegt, zerfallen auch die Geschichten. So bleiben aus meinen letzten drei Wochen statt einer konsistenten Erzählung lediglich Wegmarken, die mir helfen, mich an einiges von dem, was wichtig war, zu erinnern.

Der erste Tag des Krieges. Ich wache auf, lese die Nachrichten und die Welt um mich herum bricht zusammen. Es kommt mir jetzt so dumm vor, dass ich geglaubt hatte, alles sei nur ein Bluff und würde nie Wirklichkeit. Aber zu wissen, dass mein Land genau in diesem Moment die Ukraine bombardiert, ist unerträglich. Ich verbringe den Tag in einem Nebel aus Panik. Mein Mann geht Milch holen und kommt zurück, um mir zu sagen, dass im Lebensmittelgeschäft Leute jubeln und sich gegenseitig zu dieser Invasion gratulieren. Freund:innen und Familienangehörige kommen zu uns – unsere Türen stehen immer allen offen, die uns besuchen wollen – und wir sitzen einfach schweigend da. Am Nachmittag habe ich das Gefühl, die Familie meines Vaters besuchen zu müssen, also fahre ich dorthin, und mein Mann geht gegen den Krieg demonstrieren. Ich bin erleichtert, als ich feststelle, dass meine Stiefmutter und meine Schwester, die sich nie für Politik interessiert haben, wie man in Russland sagt, genauso empfinden wie ich. Sie sind schockiert, als sie feststellen, dass einige ihrer Freund:innen den Krieg unterstützen und viele sich überhaupt nicht für die Nachrichten interessieren. Ich bin schockiert, als ich Menschen auf den Straßen sehe, die sich der Tragödie, die sich gerade abspielt, anscheinend überhaupt nicht bewusst sind. Sie gehen einfach friedlich zwischen den erstaunlich zahlreichen Polizeiautos und Polizist:innen im Stadtzentrum spazieren. Ich fahre heim und habe zum ersten Mal seit Jahren eine Panikattacke. Zuhause angekommen wird mir klar, dass ich in 10 Minuten einen Vortrag über Zoom halten muss – einen Kurs in Musikgeschichte, den ich in einem Zentrum für besonders begabte Jugendliche gebe. Es ist zu spät, um abzusagen, also gehe ich einfach online und improvisiere. Ich spreche über Krieg und Protest, spiele eine Aufnahme des War Requiem von Benjamin Britten, dann Le déserteur, ein Lied von Boris Vian, und dann bekomme ich eine SMS von einem Freund, in der steht, dass mein Mann auf der Straße verhaftet wurde. Er wird über Nacht auf der Polizeiwache festgehalten. Es ist nicht das erste Mal, dass er an Protesten gegen die Regierung teilnimmt, aber es ist das erste Mal, dass er verhaftet wird, und am Morgen lässt man ihn nur nach Hause gehen, damit er dort auf seinen Prozess wartet. Bei der ersten Festnahme wird man in der Regel mit einer Geldstrafe belegt, die etwa einem halben Monatsgehalt entspricht. Beim zweiten Mal geht man für bis zu einen Monat ins Gefängnis. Beim dritten Mal drohen einem nach einem kürzlich verabschiedeten Gesetz bis zu 15 Jahre Haft.

Mein Mann hat zwei Jobs, als Gymnasiallehrer und Diakon der russisch-orthodoxen Kirche. Die Schule, an der er arbeitet, war bisher eine der wenigen, in der Lehrer:innen noch liberale politische Ansichten hatten und sogar zu Demonstrationen gehen durften. Das Predigen und Reden mit jungen Menschen war schon vor dem Krieg sehr schwer und der Druck wurde jeden Tag größer. Er war jedoch nie gezwungen, gegen seine Überzeugungen zu sprechen. Im Gegenteil, er fand immer Worte, um die Wahrheit zu sagen, ohne in große Schwierigkeiten zu geraten, selbst wenn er sich für diejenigen, die es hören wollten, einer etwas kuriosen Sprache bedienen musste. Doch als Russland in die Ukraine einmarschiert, ist klar, dass es keine Kompromisse mehr geben kann. Wir wissen beide genau, was jetzt passiert, und so soll es auch kommen, kurz nach unserer Abreise. Die Lehrer:innen erhalten Anweisungen, was sie ihren Schülern über die »Sonderoperation« erzählen sollen, es wird sogar das neue Fach »Achtsames Lesen« eingeführt, in dem die Schüler:innen Propagandatexte serviert bekommen. Der Patriarch bezieht Stellung und unterstützt Putins Krieg. Für meinen Mann gibt es jetzt es in Russland keinen Platz mehr, es sei denn im Gefängnis.

Eine Aufzeichnung in Moskau am 1. Februar 2022.

Das nächste, woran ich mich erinnere, ist der vierte Tag des Krieges, Sonntag, der 27. Februar. Ich hatte für diesen Tag ein Konzert geplant und will es zuerst absagen. Aber am Sonntagmorgen weiß ich dann, dass wir Russland verlassen werden, wir haben für den 1. März Tickets nach Eriwan ergattert. Also beschließe ich, das Konzert als Abschiedskonzert zu spielen. An diesem Tag ist es genau sechs Jahre her, dass Boris Nemzow, der wohl klügste Politiker der russischen Opposition, auf einer Brücke in einigen hundert Meter Entfernung von den Kremlmauern ermordet wurde. Viele meiner Freund:innen gehen zur Gedenkstätte auf der Brücke, um dort Blumen niederzulegen, und müssen feststellen, dass diese von der Polizei blockiert wird. Zu meinem Konzert bringen die Leute die Blumen mit, mit denen man sie nicht zur Nemzow-Gedenkstätte gelassen hat, und ich lege zu seinem Gedenken einen Strauß Rosen auf den Boden vor das Cembalo. Ich versuche, vor dem Spielen eine kleine Rede zu halten, aber ich kann nur weinen. Dann, zwischen den Stücken, finde ich endlich einige Worte. Ich spüre, dass es wichtig ist, zu spielen – als Erinnerung an das Leben, das wir hinter uns lassen. Ein Leben, das so gut war, in einer Stadt voller Kunst und Energie. Wir hatten das Gefühl, dass wir die Welt zu einem besseren Ort machen, aber wir betäubten auch den Schmerz der immer enger werdenden Umklammerung aus Propaganda und Lügen, indem wir in einer kleinen Enklave, die noch nicht unter der Kontrolle des totalitären Staates war, so etwas wie Freiheit imitierten. Es war nur eine Frage der Zeit, und ich habe heute das Gefühl, dass diese Zeit mich fast zu einer Komplizin dieses schrecklichen Wandels, der meinem Land widerfahren ist, gemacht hat, obwohl ich gesprochen, geschrieben und demonstriert habe, um mich dem Regime entgegenzustellen. Ich nehme Abschied von einem Leben, das ich geliebt habe, und von so vielen Menschen, die mir lieb und teuer sind. In diesem Moment suchen Menschen mit ihren Kindern Schutz vor den Bomben, und ich spüre, dass mein Herz bei ihnen in den Kellern und U-Bahnhöfen ist. Als ich meine drei Söhne sehe, die in dieser Nacht friedlich in ihren Betten schlafen, weine ich, bis mir die Tränen versiegen. 

Ich verbringe die nächsten 24 Stunden mit Packen, dem Unterschreiben von Vollmachten und Verabschiedungen. Es ist, als hätte etwas in mir einen Mechanismus ausgelöst, der mir sagt: »Lass alles stehen und liegen, schnapp dir die Kinder und geh.« Meine Familie und die meines Mannes haben, wie die meisten Familien im ehemaligen sowjetischen Raum, unter Repressionen gelitten. Die Familie meiner Großmutter musste über Nacht fliehen und alles zurücklassen, um der Konfiszierung allen Eigentums und der Deportation zu entgehen, die allen wohlhabenden Bauern in den Jahren 1929–1930 drohte. Meine Kindheit war voll von Geschichten über Menschen, die das Land in den 70er Jahren verließen, als jüdischen Familien die Auswanderung erlaubt wurde. Es war, als würde mir eine Art genetisches Gedächtnis sagen, was ich tun soll. Menschen kommen und gehen, Koffer werden gepackt – meist mit Büchern, Fotos und Dokumenten. Den Kindern wird erzählt, dass wir in einen langen Urlaub fahren und viele interessante Orte besuchen. Am nächsten Morgen sind wir weg.

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Die nächsten zwei Wochen bestehen aus der immer gleichen Abfolge von Auspacken, Packen, Wohnungssuche, Treffen mit Freund:innen, die wie wir auf der Flucht sind. Die meisten sind völlig verloren. Ich klammere mich an einen Plan – nur, um überhaupt einen zu haben. Pläne ändern sich. Eriwan fühlt sich, obwohl Russ:innen hier willkommen und viele Freund:innen aus Moskau hier gelandet sind, zu nah an Russland an. Dass sich Armenien seit dem Krieg mit Aserbaidschan im Jahr 2020, in dem Putin den Retter gespielt hatte, nur um die demokratische Regierung zu stürzen und seine Truppen in den Grenzregionen des Landes zu stationieren, in Abhängigkeit von Russland befindet, lässt mein Herz schmerzen. Meine Familie hat armenische Wurzeln, und ich kann nicht umhin, den Schmerz dieses kleinen Landes zu spüren, das zwischen zwei mächtigen Feinden gefangen ist – Russland und der mit Aserbaidschan verbündeten Türkei.

Am dritten Tag unserer Reise poste ich auf Facebook, dass ich das Land verlassen habe und warum. Nur eine Stunde später erhalte ich einen Anruf vom Leiter meiner Abteilung am Moskauer Konservatorium, der mir mitteilt, dass meine Abwesenheit bemerkt worden sei und dass ich eine Entscheidung treffen müsse. Zu diesem Zeitpunkt hat der Rektor, Alexander Sokolov, bereits ein Schreiben zur Unterstützung der »speziellen Militäroperation« in der Ukraine unterzeichnet. Das Gesetz gegen »Fake News«, das die Verwendung des Wortes »Krieg« verbietet, steht kurz vor der Verabschiedung; ein weiteres Gesetz, das Personen mit Pässen der »feindlichen Länder«, die Russland sanktioniert haben, den Kauf, Verkauf oder die Schenkung von Eigentum verbietet, ist bereits in Kraft getreten; wir machen uns keine Illusionen mehr. Ich setze ein Kündigungsschreiben auf, in dem ich erkläre, dass ich nicht weiter Musik unterrichten könne, wenn es mir nicht erlaubt sei, die Wahrheit über den Krieg zu sagen, und dass es die beste Lektion sei, die ich meinen Schüler:innen mit auf den Weg geben könne, wenn ich meine Stelle aus Protest kündige. Der Brief wird zweimal abgelehnt und erst angenommen, als ich ihn auf Facebook und Instagram postete.

Im Proberaum im Moskauer Konservatorium mit schlafendem Sohn (nicht im Bild) • Foto © Lyudmila Tsukankova

Anschließend geht es für uns weiter nach Tiflis, wo wir eine weitere Schar demoralisierter Landsleute und eine Bevölkerung vorfinden, die vom Krieg mit Russland 2008 und der Welle russischer Migrant:innen traumatisiert ist. Während die Regierung Kompromisse mit Russland eingeht, können die Georgier:innen nicht anders, als sich über die russische Invasion ihrer Gebiete und die rücksichtslosen russischen Tourist:innen zu ärgern, die weiterhin nach Georgien kommen, als ob nichts geschehen wäre. Wir wollten ursprünglich eine Weile in Tiflis bleiben, überlegen es uns aber anders, weil wir merken, dass wir nicht ignorieren können, wie sehr unsere Anwesenheit Menschen verletzt. Unterdessen wird meine Bitte an das Barockorchester von Tiflis, mich auf dem Cembalo üben zu lassen, abgelehnt, und mein Kontakt im Orchester meint, das läge daran, dass ich Russin sei.

Mittlerweile sind wir in Budva in Montenegro gelandet. Einige Russ:innen, die bereits länger hier leben, haben eine Stiftung gegründet, die sowohl ukrainischen Geflüchteten als auch Russ:innen, die vor dem Regime fliehen, Zuflucht gewährt. Ich habe mir schon so oft ausgemalt, was ich der ersten Person aus der Ukraine, die ich treffe, sagen würde, aber als mir klar wird, dass die Menschen, die uns beim Einzug und beim Kauf lokaler SIM-Karten und von Lebensmitteln usw. helfen, aus Charkiw stammen und erst vor wenigen Tage aus der Ukraine geflohen sind, bin ich völlig sprachlos. Ich kann einfach kein Wort sagen. Ein paar Tage später organisiere ich eine improvisierte Party für die Geflüchteten in der Stiftung, bringe Getränke und Pizza mit und bin so froh und dankbar, dass einige der ukrainischen Leute kommen und mit uns das Brot brechen. Mit ihnen zu reden, ihnen zu sagen, wie leid es uns tut, gemeinsam zu weinen, ist der heilsamste Moment seit unserer Abreise.

Ein stiller Moment der beiden Söhne in Montenegro.

Was bleibt mir jetzt zum Abschluss meiner Geschichte noch zu sagen? Wenn ich Frauen und Kinder sehe, die aus der Ukraine kommen, ihre Heimat oder das, was davon übrig ist, zurücklassen, deren Männer geblieben sind, um für ihr Land zu kämpfen, ohne einen Cent in der Tasche, ohne eine Ahnung, wohin sie gehen oder was sie tun sollen, dann möchte ich nur eines sagen. Es tut mir aufrichtig leid. Wir sind in einer friedlichen Welt aufgewachsen und waren nicht bereit, zu leiden oder unsere Gesundheit oder unser Leben zu riskieren, um das Regime in Russland zu stoppen. Wir dachten, wir würden unser Bestes tun, aber in Wahrheit taten wir nur so viel, wie es für uns eben gerade passte. Hätten wir den Krieg verhindern können? Ich weiß es nicht, aber wir hätten bei dem Versuch sterben können. Wir haben es nicht getan, und jetzt bezahlen Menschen mit ihrem Leben für die Jahre, in denen wir friedlich protestiert haben. Was die Musik betrifft, so wünschte ich, dass sie etwas bewirken könnte, aber ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich der Fall ist. In Russland hat die Musik jedenfalls nicht das geschafft, was wir uns erhofft haben.

Es gibt jedoch einige Dinge, die meiner Meinung nach jetzt getan werden müssen. Wir müssen alle möglichen Medienplattformen und Kommunikationsmittel nutzen, um denen, die zurückgeblieben sind, Informationen zukommen zu lassen, die Wahrheit zu den aktuellen Ereignissen, und um an unsere Ideale zu erinnern, die jetzt von der Propaganda verdreht werden. Ich habe all meine Jobs aufgegeben, bis auf den, bei dem ich vor jungen Leuten spreche und sie daran erinnern kann, dass Krieg ein Verbrechen ist, dass Kunst die Wahrheit zum Ausdruck bringt und nicht inmitten von Lügen leben kann und dass es noch Hoffnung gibt. Und dann müssen wir die Wahrheit über uns selbst kommunizieren, über die Russ:innen, die versucht haben, etwas zu ändern, obwohl wir dabei gescheitert sind, über diejenigen, die ihr ganzes Leben hinter sich gelassen haben und geflohen sind, weil das Bleiben unerträglich war, weil wir Kinder retten wollten. Und um vor allem an diejenigen zu erinnern, die zu Hause geblieben sind, die immer noch hoffen, etwas bewirken zu können, und die ihre Freiheit und ihr Leben riskieren, um ihre Meinung zu sagen, und an diejenigen, die aus verschiedenen Gründen nicht gehen konnten und die jetzt mehr denn je bedroht sind. Dies soll mein persönliches Gebet für Russland sein. ¶

Elizaveta Miller

Elizaveta Miller, geboren 1983 in Moskau, ist Pianistin und Cembalistin. Sie studierte bei Alexei Lubimov und Olga Martinowa am Moskauer Konservatorium. 2011 schloss Elizaveta Miller außerdem ihr Masterstudium an der Yale School of Music (bei Boris Berman und Hung-Kuan Chen) ab. Bis vor kurzem unterrichtete sie am Moskauer Konservatorium als Assistentin von Lubimov.