Pauline Viardot, die vor 200 Jahren in Paris in eine andalusische fahrende Opernfamilie hineingeboren wurde, war in jeder Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung: Sie komponierte und veröffentlichte (vor allem Vokalwerke mit französischen, russischen, deutschen, italienischen und spanischen Texten), spielte Klavier auf dem Niveau einer Clara Schumann, unterrichtete, vermittelte zwischen Künstler:innen, Gönner:innen und Kulturen, betätigte sich als Herausgeberin, schuf zahlreiche Bearbeitungen für Stimme und entwarf sogar ihre Kostüme für die Opernbühne selbst. Sie war Republikanerin und hatte trotzdem den preußischen Hochadel zu Gast, lebte jahrzehntelang in einer liebevollen Beziehung mit ihrem Ehemann, die beide jedoch nicht als exklusiv verstanden, und verdiente den Lebensunterhalt für sich und ihre Familie. »Pauline Viardot konnte einfach alles«, meint die Musikwissenschaftlerin Beatrix Borchard, die eine umfangreiche Viardot-Biografie verfasst und jüngst zusammen mit Miriam-Alexandra Wigbers den Briefwechsel von Pauline Viardot und Julius Rietz, einem deutschen Dirigenten, herausgegeben hat.

Pauline Viardot-García verbrachte ihre ersten Lebensjahre auf Tour, zum Teil in Mexiko und den USA. Ihre Schwester Maria Malibran war ebenfalls Sängerin und als solche extrem erfolgreich. Zurück in Paris erhielt Pauline Viardot-García schon im Alter von sieben Jahren Klavierunterricht bei Franz Liszt. Nach dem frühen Tod von Vater und Schwester musste sie als Siebzehnjährige auf den Opernbühnen der Welt für sich und die Mutter sorgen und das Erbe der Gesangsdynastie weitertragen. Ihr Repertoire war dabei sehr vielfältig, deckte zahlreiche Sprachen, Entstehungszeiträume und Stimmfächer von Koloratursopran bis zu tiefen Mezzo-Partien ab. Als Charakterdarstellerin bereitete sich Viardot-García auf jede Inszenierung akribisch vor (sie beherrschte sieben Sprachen, unter anderem Altgriechisch, das sie lernte, um antike Vorlagen zu durchdringen) und gestaltete einige ihrer Rollen schon im Kompositionsprozess entscheidend mit. Ihre glänzende internationale Gesangskarriere beendete Viardot-García nach gut 20 Jahren. Sie zog mit ihrem Ehemann und vier Kindern nach Baden-Baden, um sich dort fortan aufs Komponieren und Unterrichten zu konzentrieren. Und aufs Netzwerken – mit wirklich allen kulturellen Größen ihrer Zeit. »Es gibt fast niemanden, den sie nicht kannte«, heißt es in der Einleitung zum Briefwechsel mit Julius Rietz. Wegen des preußisch-französischen Krieges verließ Pauline Viardot Baden-Baden Anfang der 1870er Jahre, ging für kurze Zeit nach London ins Exil und dann zurück nach Paris, wo ihr Salon schnell zum Knotenpunkt des Kulturlebens wurde. Mit Beatrix Borchard spreche ich über die vielen Leben der Pauline Viardot, die die Musikwissenschaftlerin als »absolut filmreif, in jeder Hinsicht« beschreibt.

Pauline Viardot war in ziemlich vielen Rollen aktiv und erfolgreich – als Sängerin und als Komponistin, aber auch als Bearbeiterin, als Pianistin, Pädagogin, als Herausgeberin, als Salonière, als Muse. Können Sie eine Gewichtung vornehmen, welche Tätigkeit ihr Leben besonders geprägt hat? 

Nein. Es geht gerade um die Verknüpfung dieser verschiedenen Handlungsfelder. Heute spricht man vom ›kulturellen Handeln‹, das ist sprachlich ein schrecklicher Begriff, aber er passt ganz gut, wenn man nicht hierarchisieren will. In den traditionellen Lexika steht immer ›Beethoven, Komponist‹. Der hat aber davon gelebt, dass er Klavierunterricht und Konzerte als Pianist gegeben hat. In unserer Vorstellung ist das Komponieren immer das Wichtigste. Aber bei der Viardot ist ganz klar, dass sie diese verschiedenen Felder vernetzt hat. Und im Alter hat sie auf all diesen Feldern noch einmal publiziert: Gesangsübungen herausgegeben, Stücke aus ihrem Repertoire – sie war ja, was für ihre Zeit außergewöhnlich war, Spezialistin für Alte Musik, ab dem 17. Jahrhundert – mit Kommentierungen, Vortragsanweisungen … außerdem eigene Kompositionen und Bearbeitungen. Das alles hat sie bewusst als ihren Nachlass herausgegeben. Und sie hat im hohen Alter noch einmal aufgeschrieben, mit wem sie alles zu tun gehabt hat, eine Liste voller Berühmtheiten, völlig irre. Dieser Vernetzungsgedanke war ihr sehr wichtig. 

Welche Personen haben in diesem Beziehungsnetzwerk eine besonders große Rolle für sie gespielt? 

Als erstes der russische Schriftsteller Iwan Turgenjew, mit dem sie in der Baden-Badener Zeit eine Schaffensgemeinschaft gebildet hat. Ansonsten hat sie eng mit Berlioz zusammengearbeitet, als es um die Wiederaufführung von Orfeo ging. Außerdem hat sie viele gefördert, zum Beispiel Massenet und Fauré, der ihr einen Nachruf geschrieben hat, in dem er sie als ›presqu’une collaboratrice‹ bezeichnet. Das kann man nicht gut übersetzen, aber es bedeutet, dass sie gewissermaßen an seinen Kompositionen mitgearbeitet hat. Mit Saint-Saëns war sie engstens verbunden. Der Karneval der Tiere ist in ihrem Salon uraufgeführt worden. Bis zu ihrem Tod – sie ist ja 89 alt geworden – hat sie einen Ort geschaffen, an dem junge Komponist:innen ihre Werke zum ersten Mal präsentiert haben. 

Außerdem war sie mit George Sand befreundet, die ihr den Sängerinnen-Roman Consuelo mit auf den Weg gegeben. Der endet damit, dass die Sängerin Consuelo nach tausend Irrungen und Wirrungen die Aufgabe hat, singend die Botschaft der französischen Revolution zu den Menschen zu bringen, über alle Grenzen hinweg und explizit auch zu den Frauen. Bei den beiden hieß es nicht ›Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit‹, sondern ›Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit‹. Und das ist ganz klar Viardots Hintergrund.

Der Pariser Salon Pauline Viardots. Als Gäste zu erkennen sind unter anderen Balzac, Sand, Turgenjew und Bériot. 

Consuelo ist erschienen, als Pauline Viardot noch sehr jung war. Kann man nachvollziehen, inwiefern sie dem Vorbild Consuelo folgend gehandelt hat?

Sie hat Briefe gerade an Sand zum Teil mit ›Consuelo‹ unterzeichnet. Und sie wollte den Stoff eigentlich komponieren. Das ist ihr nicht gelungen, aber es ist auch wirklich ein sehr ausufernder Roman, weil George Sand davon gelebt hat, Fortsetzungsromane zu schreiben. Wie man daraus ein Libretto machen soll, weiß ich auch nicht. In jedem Fall hat Pauline Viardot sich mit der Figur identifiziert. Aber wenn man sich vorstellt, dass einem mit 18 Jahren so ein Roman gewidmet wird, dann ist das natürlich auch eine Last – diese riesige Erwartung von Sand, die sie auch in Briefen explizit macht: dass Viardot in der Kunst die Revolution machen soll, die das Volk auf der Straße macht.

Was hat Viardot Revolutionäres gemacht in ihrer Musik?

Es gibt ein Gedicht – ausgerechnet von Goethe –, in dem es um eine Frau geht, die vor Gericht nicht preisgibt, wer der Vater ihres unehelichen Kindes ist, obwohl sie weiß, dass das für sie Gefängnis unter Umständen den Tod auf dem Schafott bedeuten kann. Diesen Text, Vor Gericht, hat Pauline Viardot vertont (die Noten sind immer noch nicht gedruckt) und diese Szene am Weimarer Hof und im Salon bei Liszt gesungen. Die Leute, vor allem die Frauen, haben scharenweise den Salon verlassen, weil sie es vollkommen unmöglich fanden, dass Pauline Viardot einer Frau, die nach damaligen Vorstellungen ihre Ehre beschmutzt hatte, in so einer Art und Weise eine Stimme gibt. Diese Dimension begreifen wir heute nicht mehr. Der Text endet mit: 

›Herr Pfarrer und Herr Amtmann ihr,
Ich bitte, laßt mich in Ruh!
Es ist mein Kind, es bleibt mein Kind,
Ihr gebt mir ja nichts dazu.‹

Egal ob Ehe oder nicht. Fertig. Das war damals politisch. Aber alleine Pauline Viardots Existenz war schon eine Provokation für viele Leute. 

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Wie sah Pauline Viardots Schaffensgemeinschaft mit Turgenjew aus?

Meistens wird diese Gemeinschaft reduziert auf eine sogenannte Dreiecksbeziehung und nur unter erotischen Gesichtspunkten als spannend empfunden. Ich kann immer nur sagen: Ich war nicht dabei, darum interessiert mich nur das, von dem wir heute noch Zeugnisse haben. Pauline Viardot hat eine ganz wichtige Rolle gespielt für alles, was Turgenjew geschrieben hat. Faktisch hat er keine Zeile veröffentlicht, ohne dass sie diese vorher für gut befunden hat. Es gibt auch viele Texte und Frauenfiguren bei ihm, die direkt mit Pauline Viardot zu tun haben. Und umgekehrt hat er für sie Libretti geschrieben. Sie hat daraus Stücke entwickelt für ihre Kinder und zahlreichen Schülerinnen. Alle, die bei ihr zu Besuch kamen, wurden gleich musikalisch eingebaut mit ihren Fähigkeiten. Auch Turgenjew hat mitgespielt, das hat ihm offenkundig größtes Vergnügen bereitet. 

Total interessant finde ich auch die ›Jeux d’èsprit‹- Spiele, zu denen ausgewählte Gäste am Abend in den engsten Familienkreis eingeladen wurden. Man hat gezeichnet – Viardot war auch eine sehr witzige Zeichnerin – und dann hat man geraten: Was ist das für eine Figur? Und alle durften etwas aufschreiben, haben das Blatt umgeknickt und dann weitergegeben. So sind ganz lange Papierstreifen entstanden und man hat sich totgelacht über die verschiedensten Antworten. Das war aber für Turgenjew nicht nur ein Spiel, ihm hat das zur Typenentwicklung gedient, und Pauline Viardot auch. In ihren Werken ist immer alles sehr charakteristisch, zugespitzt, szenisch gedacht. 

Iwan Turgenjew, gezeichnet von Pauline Viardot. 

Viardots Briefe sind sämtlich so herzlich und leicht geschrieben, dass man das Gefühl hat: Alle, die sie kannten, haben sie zumindest gemocht, wenn nicht gar geliebt. Gab es überhaupt Menschen, mit denen sie sich gar nicht verstanden hat? 

Es gibt äußerst böse Äußerungen von dem Intendanten des Karlsruher Theaters, der nicht von der ›García‹ spricht, sondern von der ›Garstica‹. Die Aufführung ihrer opérette de salon Der letzte Zauberer fiel dann auch in den Kritiken durch, weil er die Presse hinter sich hatte. Das war ein regelrechter Feind. 

Und was man auch nicht unterschätzen darf: Pauline Viardot stand für Internationalismus. Und ab 1870/71, nach dem preußisch-französischen Krieg, war der nicht mehr gefragt. Stattdessen wollte man nationale Bekenntnisse. Viardot hat beispielsweise nur kurz am Pariser Conservatoire unterrichtet, weil man ihr vorgeworfen hat, dass alles, was sie macht, zu deutsch sei. Und in Deutschland war sie zu französisch. Besonders als Komponistin wurde sie nicht ernst genommen. 

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Auf welchen Ebenen lässt sich dieser Internationalismus aus Pauline Viardots Musik heraushören? 

Ihre ganze Kindheit war sie unterwegs und hat sehr schnell die Sprachen gelernt. Und ihre erste Konzertreise als Sängerin – sozusagen die Testreise, um zu sehen, ob sie mit ihrer berühmten Schwester Maria Malibran mithalten kann – führte sie nach Deutschland. Da hat sie dann sofort deutsch gesprochen und auch deutsche Lieder komponiert, zu Texten von Uhland – mit 17 oder 18 Jahren! Und da geht es ja nicht nur darum, in welcher Sprache der Text verfasst ist. Die Unterschiede gehen bis in die musikalische Gestik, in das musikalische Material hinein. Leute wie Robert Schumann waren absolut begeistert von ihrer Dreifachbegabung: als Sängerin, als Komponistin und als Pianistin. Ihre große Karriere hat sie dann in Russland gemacht. Und die russische Kultur hat sie in ihr Schaffen integriert und bewusst vermittelt. Sie war wirklich das Gegenteil dieser Haltung ›Am deutschen Wesen soll die Welt genesen‹. Für sie war all die wunderbare Musik der Welt gleichwertig. Sie hat alles adaptiert, ist mit allem umgegangen.

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Also wurde sie einerseits für ihre Vielseitigkeit gelobt, andererseits war sie dann aber nicht national genug in ihrer Kunst? 

Ja, das war auch eine Frage der Zeit. Anfang der 1840er Jahren wurde sie noch als Ausnahmeerscheinung bejubelt, aber auch nur, wenn sie ihre Stücke selbst gesungen hat. Bei den russischen Stücken, für die Turgenjew sich sehr engagiert hat, damit sie in Russland veröffentlicht werden, hieß es schnell: schön, aber nicht wirklich russisch. Und in Deutschland wurde ihr vorgeworfen, nicht wirklich deutsch zu klingen. Ihre Noten sind gedruckt worden, aber wir wissen nicht, wie verbreitet sie waren. Nur bei ihren Vokalbearbeitungen der Mazurken von Chopin wissen wir, dass sie viel gesungen wurden. Die sind auch heute noch Leckerbissen für jede Sängerin, die in der Lage ist, sie zu interpretieren, denn sie sind sehr anspruchsvoll. 

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Mit Chopin hat Pauline Viardot auch zusammen musiziert.

Die haben bei George Sand gemeinsam versucht, Volksmusik aus dem Berry zu transkribieren. Und man weiß, dass Chopin Vergnügen an ihren Bearbeitungen hatte und sie damit sogar öffentlich im Konzert begleitet hat, obwohl er sonst äußerst selten öffentlich aufgetreten ist. 

George Sand, lesend, und Frédéric Chopin, schreibend, gezeichnet von Pauline Viardot.

Was hat das Aufwachsen in dieser fahrenden Truppe bedeutet für die Rollenerwartungen an sie als Frau des 19. Jahrhunderts? 

Freiheit! In einer normalen bürgerlichen Familie aufzuwachsen, hieß damals für Mädchen, dass sie nicht das Recht hatten, den Mund aufzumachen. Aber diese fahrende Familie war nicht bürgerlich. Da wurden alle Fähigkeiten und Fertigkeiten gebraucht, bis zum Schneidern von Kostümen und dem Bau von Kulissen. Und sie hat das weitergeführt in ihrem kleinen Baden-Badener Privattheater. Ich denke, für sie war es eine wahnsinnige Chance, jenseits dieser Rollenerwartungen groß zu werden. 

Und dann kommt noch ihre Ehe hinzu. Ihr Mann war ja mehr als 20 Jahre älter. Er hat die Rolle des Beschützers und Managers eingenommen. Aber ich glaube, es gibt noch einen wesentlichen anderen Aspekt: Louis Viardot war wirklich ein Kind der französischen Revolution. Diese Vorstellung von Ehe, exklusiver Sexualität, dieses ganze bürgerliche Familienmodell teilte ihr Mann auch nicht. Mit dieser Ehe war also auch ein Freiraum verbunden. Pauline Viardot schreibt selbst an Rietz, dass sie immer wieder ›kleine Ausflüge‹ brauche. Das hat sie nicht nur gemacht, sie schreibt das sogar, bekennt sich also dazu. Das finde ich unglaublich. In Deutschland wäre das zu der Zeit unvorstellbar. 

In ihrer Biografie schreiben Sie, dass eine der Kernfragen im Leben von Pauline Viardot die nach der Rolle der Künstlerin in einer Gesellschaft, in der Kunst immer mehr zur Ware wird, war. Wie versteht Viardot diese Rolle?

Sie war der Meinung, dass man nicht nur irgendwas machen soll, weil es einem Spaß macht, sondern genau wissen muss, was man tut. Sie wollte zur Verbindung der Kulturen beitragen – eine genuin politische Absicht. Und das hat sie auch getan, indem sie in verschiedenen Kulturen komponiert hat. Ein Beispiel: Eduard Mörike war damals noch sehr unbekannt. Sie hat seine Texte ins Russische übersetzen lassen und ihn auf Russisch vertont, damit man ihn in Russland kennenlernt. Umgekehrt hat sie Puschkin nicht nur auf Russisch vertont, sondern ihn auch auf Deutsch übersetzen lassen und die Übersetzung dann auch vertont, beziehungsweise hat sie die Vertonung angepasst, weil die Sprachen einfach ganz anders funktionieren. Das war ein Transfer, um die Kulturen miteinander bekannt zu machen.

Inwiefern hat Pauline Viardot sich unterschieden von den anderen großen Sängerinnen ihrer Zeit?

Sie hat immer die mangelnde Bildung der Leute, mit denen sie aufgetreten ist, beklagt. Das hat sie total genervt. Und dass die Leute nichts anderes im Kopf haben. Sie sind nur präsent, wenn sie singen oder spielen, aber im Grunde haben sie nichts zu sagen. Sie war selbst eine sehr intellektuelle Künstlerin, das war sehr ungewöhnlich. 

Sie war außerdem keine Schönheit nach den damals geltenden Maßstäben. Normalerweise hatte man als Opernsängerin schön zu sein. Sie war im Grunde eine Anti-Diva, die durchschaut hat, dass man als Projektionsfläche dient für viele Leute, diese ganzen erotischen Fantasien, die sich auf die Frauen auf der Bühne gerichtet haben. Das wusste sie alles. Bei ihrer erheblich älteren Schwester, die verehrt wurde bis zum geht nicht mehr, hat sie miterlebt, dass sie trotzdem ein sehr getriebener Mensch war. Und das war einfach nicht der Weg von Pauline Viardot. Sie war kontrolliert, sie brauchte den geistigen Austausch, und den hat sie sich in ihren Salons geschaffen, in die sie die Leute eingeladen hat, mit denen sie immer schon mal reden wollte. Und die kamen alle gerne.

Was wir heute auch oft vergessen: Frauen mussten zu dieser Zeit schweigen in der Öffentlichkeit. Nur auf der Bühne hatten sie eine Stimme. Die Gesangsstimme war für Pauline Viardot die einzige Möglichkeit, überhaupt in der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden. Da hängt in einer Zeit, in der Frauen bei Wahlen kein Stimmrecht hatten, auch politisch viel dran. Und es war auch fast der einzige Beruf, durch den man als Frau eine ökonomische Unabhängigkeit gewinnen konnte. In seinem Testament bedankt Louis Viardot sich dafür, dass sie ihn nicht verlassen hat – das hat mich fast zu Tränen gerührt – und er betont, dass der ganze Reichtum von ihr erwirtschaftet wurde. Sie kommt ja eigentlich aus einer nicht begüterten Familie, deren Reichtum in dem bestand, was sie konnten. Sie hat sich wirklich selber ihren sozialen Ort geschaffen. 

Pauline Viardot wird von Zeitgenoss:innen oft als ›geniale Interpretin‹ bezeichnet. Was war damit gemeint?

Man hatte damals sehr viel mehr Freiheit als ausübende Künstlerin. Ich habe viele Jahre an Musikhochschulen unterrichtet. Dort geht es immer um den heiligen Buchstaben und man darf nicht nach rechts und links gucken. Da halten es manche Lehrer:innen sogar für störend, wenn die Studierenden Musikwissenschaft machen, weil sie dann ja nachdenken unter Umständen – ich spitze das jetzt ein bisschen zu. Und dadurch, dass es früher viel mehr Freiräume gab, auch bezogen auf die Kadenzen, konnte Viardot selbst viel komponieren. Auch für ihre Schülerinnen, die dazu nicht in der Lage waren. Schon da gab es einen Generationenwechsel bezüglich der Frage: Was heißt Interpretation? Was bin ich als Sängerin? Es gibt einen hochinteressanten Brief an Clara Schumann – mit der Pauline Viardot befreundet war – in dem sie darauf besteht, dass die Interpretierenden und die Komponierenden auf Augenhöhe miteinander stehen, dass es keine Hierarchie zwischen ihnen gibt, wie zum Beispiel Robert Schumann meinte. Pauline Viardot vertrat, dass nur beide zusammen die Musik zum Klingen bringen können – was  ja auch vollkommen richtig ist. Das ist aber eine Position, die immer stärker angegriffen wurde. Dazu kam dann die Geschlechtsvorstellung, dass Frauen bestenfalls das umsetzen können, was Männer sich ausgedacht haben. Aber das war nicht Viardots Ding. Sie war selbst schöpferische Musikerin, allumfassend. 

In einem musikwissenschaftlichen Proseminar würde man eher lernen: Im 19. Jahrhundert ist das Genie per se männlich. Aber Viardot wurde andauernd und von allen möglichen Leuten als genial bezeichnet.

Da sieht man mal, was falsch läuft in den Proseminaren [lacht]. Der Geniebegriff war aber männlich konnotiert, und es war das höchste Kompliment einer Frau gegenüber zu sagen, sie sei wie ein Mann.

Pauline Viardot hat als Interpretin entscheidend in Kompositionsprozesse eingegriffen. Bei Meyerbeers Le prophète hat sie ihren Part der Fidès von Anfang an mit gestaltet, mit geschrieben. 

Es gibt da die schöne Formulierung von einem Kollegen, der geschrieben hat: Diese Rolle von Meyerbeer ist nicht für ihre Stimme geschrieben, sondern mit ihrer Stimme. Meyerbeer hat ihr immer wieder ihren Part geschickt, dann haben sie sich getroffen und darüber gesprochen … Man kann nicht belegen, wie das im Detail ausgesehen hat, aber es ist ganz klar, dass es da eine enge Kooperation gegeben hat. Die Proben hat sie auch geleitet, ganz eng mit allen Sänger:innen, auch mit dem Orchester gearbeitet. Nach Großbritannien zur englischen Erstaufführung von Le Prophète ist Meyerbeer gar nicht erst mitgefahren, weil er wusste, dass sie die Einstudierung dort im Griff hat. 

Sie haben die Biografie von Pauline Viardot nicht chronologisch aufgebaut – Ausbildung, Karriere, Spätwerk, Nachruhm –, sondern stattdessen in drei sogenannten ›Montagen‹. Warum haben Sie sich dafür entschieden?

Chronologie suggeriert immer Folgerichtigkeit. Man wird geboren und irgendwann ist man tot – das ist folgerichtig. Aber alles, was dazwischen passiert, könnte immer auch ganz anders laufen, es gibt immer diese Weggabelungen. Und die andere Frage war: Welche Materialien habe ich überhaupt? Ich hasse es, wenn Briefwechsel nur als Steinbrüche benutzt werden, aus denen das passende Zitat herausgerissen wird, und dann meint man, zu wissen, was die oder der gedacht hat. Bei der Montage ist ganz klar, dass es nur einzelne Steinchen sind, und nicht mehr. Mir ging es darum, deutlich zu machen: Welche Quellen habe ich überhaupt und was sagen die aus? Dann wollte ich möglichst verschiedene Perspektiven reinbringen, zum Beispiel wenn es um ihre Stimme geht [die von Zeitgenoss:innen kontrovers diskutiert wurde]. Da ist dann auch immer klar: Es könnten auch noch tausend andere Perspektiven dazu gezeigt werden. Die Montage ist unendlich erweiterbar, morgen könnten wir schon wieder neue Quellen finden – was bei Pauline Viardot auch wirklich stimmt. Das gilt für die Kompositionen genauso wie für die Briefe. 

Gibt es bestimmte Entdeckungen, auf die Sie hoffen? 

Das beginnt schon mit den Baden-Badener Geschichten. Wir haben eigentlich nur Noten zum Letzten Zauberer. Zu den vier weiteren Bühnenstücken, die sie dort komponiert hat, haben wir überhaupt nichts. Von Cendrillon, das sie ganz am Ende ihres Lebens für Gesang, Klavier und einen kleinen Chor geschrieben hat, haben wir nur eine Realisierungsvorlage, die sie immer wieder variiert hat. Jetzt ist vor kurzem herausgekommen, dass Richard Bonynge, der Mann der Sopranistin Joan Sutherland, Teile des Viardot-Nachlasses, den Sutherland besessen hat, an Havard gegeben, aber auch einiges zurückgehalten hat. Die Frage ist, was bei ihm noch liegt. Auch die Sängerin Marilyn Horne hat sich sehr früh für die Viardot engagiert, weil sie selbst auch eine vergleichbare Stimme mit einem solchen Wahnsinnsumfang hat, die alles konnte. Und auch sie hat viel im Privatbesitz, und wir wissen nicht, was da noch drinsteckt. Da erwarte ich schon noch einiges. 

Inwiefern steht Pauline Viardots Biografie quer zu dem, was die Musikgeschichtsschreibung gerne erzählt?

An allen Ecken und Enden. Erstmal ist sie eine Frau, und als solche hat sie keinen Platz in der traditionellen Musikgeschichtsschreibung. Dann ist sie aus Sicht der Musikwissenschaft nur eine Interpretin gewesen, und die kommen eigentlich auch nicht vor, es sei denn, sie sind mit berühmten Komponisten verknüpft. Von Joseph Joachim ist immer die Rede, wenn es um Brahms’ Violinkonzert geht, solche Leute werden dann zumindest erwähnt. In der Meyerbeer-Forschung kommt Pauline Viardot natürlich vor, aber mit ihm hat sich die deutsche Musikwissenschaft auch nicht beschäftigt – mit Oper generell nicht. Dass die Opern in der deutschen Forschung gleichberechtigt neben Kammer- und Instrumentalmusik stehen, ist noch eine recht neue Entwicklung. 

Dadurch, dass Pauline Viardot national nicht einzuordnen ist und Musikgeschichtsschreibung immer noch national betrieben wird, kommt sie auch nirgendwo vor, nicht in Frankreich, nicht in Russland, nicht in Deutschland und nicht in Spanien. Erst die Genderforschung hat die Vielfalt ihrer Fähigkeiten und Fertigkeiten in den Blick gerückt, weil nun nicht nur Werk und Autor im Zentrum stehen. Erst wenn man darüber hinaus schaut, wird jemand wie Pauline Viardot sichtbar. Dann ist auch plötzlich der Salon nicht nur ein netter Ort, an dem man ein Butterbrot isst und irgendwas hört, sondern ein Ort kulturellen Handelns, ein Raum der Vernetzung und des Experimentierens. 

Von diesem Ranking von Instrumental- vor Vokalmusik liest man auch schon zu Pauline Viardots Lebzeiten. Hat nicht Julius Rietz sie auch immer wieder aufgefordert, Sinfonien zu schreiben? 

Das ist eine solche Unverschämtheit! Dauernd betet er sie an, missachtet aber ihre Vokalkompositionen, die sind für ihn nichts wert. Was hat das wohl in ihr ausgelöst? Das ist doch grauenhaft! 

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Wie sollte man ihre Vokalkompositionen heute aufführen?

Cendrillon wird ohnehin viel gemacht heute. 

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Ich habe selbst auch viel ausprobiert. Schon vor 22 Jahren habe ich mit Berliner Studierenden versucht, Teile des Letzten Zauberers in Baden-Baden zu präsentieren, kombiniert mit einem musikalischen Porträt. Einen Kontext zu schaffen, ist immer eine Möglichkeit. 

Einen Salon auf die Bühne zu bauen, wie es in Frankreich gemacht wurde – möglichst noch mit George Sand, die dann da kostümiert hineingesetzt wird – finde ich aber falsch. Das geht überhaupt nicht, weil man den Geist des Salons nicht wiedergeben kann, indem man drei Polstermöbel und ein Cocktailtischchen aufstellt. Das macht die ganze Sache klein. 

Man muss die Chance der Improvisation, den Geist, der hinter den Stücken steht, lebendig machen. Das setzt aber voraus, dass die Lehrenden – die Studierenden machen ja alles mit – bereit sind, sich darauf einzulassen, von dieser in diesem Fall unangemessenen Buchstabentreue abzuweichen. In Cendrillon, auf deutsch Aschenputtel, gibt es eine Szene, in der sich die Schwestern dem Prinzen gegenüber als besonders toll darstellen wollen. Da kann man alle möglichen Koloratur-Arien einlegen, in diesem Gesangswettbewerb. Und dann kommt Cendrillon und singt ein einfaches Volkslied. So ist die Operette oder die Kammeroper – schon die Benennung ist ein Problem – angelegt. Diese Leerstellen, die da sind, sollte man nutzen, um den Geist der Sache auf die Bühne zu bringen. 

Ihre Liedvertonungen oder die russischen Romanzen kann man ganz normal in jeden Liederabend integrieren, davon haben wir ja die Noten.

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Die werden dann oft in Abende mit Liedern nur von Komponistinnen eingebaut. Es ist natürlich gut zu zeigen, was es alles gab. Aber ich fände es 2021 eigentlich besser, ihre Musik inhaltlich mit anderem zu verknüpfen. Solche Konzerte oder CDs fehlen mir: in denen Pauline Viardot Teil eines Spektrums ist, in denen es dann um die russische Romanze als solche geht. Oder um die Mélodies, einer Gattung, an deren Entwicklung sie in Frankreich mitgearbeitet hat. Da müssten dann auch Meyerbeer dabei sein, Massenet und Fauré. Oder auch anknüpfend an lebensweltliche Erfahrungen wie Glück, Trauer, Nacht … 

Gibt es heute noch Interpret:innen, die in der Tradition von Viardot wirklich schöpferisch interpretieren, und sich nicht nur als Dienende der Komponistin oder des Komponisten betrachten? 

Diese dienende Haltung ist unglaublich deutsch. Und grundfalsch bezogen auf große Teile des Opern-Repertoires. Aber Gott sei Dank gibt es Cecilia Bartoli! Die verkörpert genau den Geist der Viardot, auch diese Lust am Singen. Sie kann das sängerisch, ist aber gleichzeitig Intendantin, schafft sich auch ihre Räume. 

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Pauline Viardot schreibt ja sehr viele Briefe, nicht nur an Julius Rietz. Was haben diese Korrespondenzen für sie bedeutet? 

Das war ein Gesprächsersatz. Sie meint selbst: ›Ich schreibe keine Literatur.‹ Sie kontrolliert das eigene Schreiben nicht, schreibt einfach, was ihr in die Feder fließt, liest sich die Briefe auch nicht noch einmal durch. Gerade auf Tour in England, wo sie sich über vieles ärgert, ist für sie die Reflektion des Theaterlebens und die Resonanz darauf wichtig.

Ich habe mich auch immer gefragt: Warum schreibt sie das? Sie hatte ja auf Tour genug zu tun, warum nimmt sie sich Zeit für seitenweise Bekenntnisse? Wenn man jetzt den ganzen Briefwechsel liest, wird deutlich, dass sie sich wirklich in einer Krise befand, als sie angefangen hat, Rietz so viel zu schreiben. Da hing ihr der eigene Beruf absolut zum Hals heraus. Sie hatte keine festen Engagements, musste sich rumschicken lassen. Sie blickt in diesem Moment sowohl zurück – wo komme ich her, was sind die Konstellationen? Sie macht eine richtige Familienaufstellung  – als auch: Wie geht es weiter? Und das Tragische ist, dass dieser nur in seiner Denkwelt verharrende Rietz nicht in der Lage ist, wirklich etwas über sie zu begreifen, geschweige denn ihre Arbeit in ihrer Eigenständigkeit anzuerkennen. Er braucht sie als Projektionsfläche für seine sehr traditionellen Weiblichkeitsvorstellungen. Er macht sie zu einer Madonna, die ihn retten soll. Er akzeptiert sie als Sängerin, aber nicht als schöpferische Musikerin auf Augenhöhe. 

Der Briefwechsel versiegt dann auch, als sie ihr Engagement in Paris bekommt und am Ende fast 140 Mal den Orpheus spielt. Das ist natürlich eine Traumrolle, weil sie der Inbegriff des Künstlers und des Musikers ist – alles, was Frauen doch angeblich nicht konnten. Und sie stellt ihn dar, ohne zu überspielen, dass sie eine Frau ist.

Pauline Viardot im von ihr entworfenen Orpheuskostüm.

Darauf folgt dann die Zeit in Baden-Baden, wo sie sich neu erfindet – gerade als Komponistin. Da braucht sie Rietz nicht mehr, vor allem, nachdem sie gesehen hat, wie eng und begrenzt er dachte. Sie war sehr enttäuscht von ihm, wirklich ent-täuscht. Rietz hat sie einfach nicht ernst genommen, weil er sich nicht wirklich auf sie eingelassen hat, auf das Besondere ihres Wirkens. Ganz anders Iwan Turgenjew: Der hat sie begriffen, auch ihre ganze Melancholie. Das war eine ganz andere Tiefe der Beziehung, er hat mit ihr diese Schaffensgemeinschaft gebildet.

Das so zu nennen, ist für viele noch immer eine Provokation. ›Schaffen kann nur ein Beethoven, und keine Pauline Viardot, erst recht nicht in Gemeinschaft.‹ Aber das war für mich die Essenz der Biografie, und da steckt ganz viel Zündstoff für die Musikgeschichtsschreibung drin: Das Pauline Viardot Eigene ist gerade auch das Gemeinsame. ¶

... machte in Köln eine Ausbildung zur Tontechnikerin und arbeitete unter anderem für WDR3 und die Sendung mit der Maus. Es folgten ein Schulmusik- und Geschichtsstudium in Berlin und Bukarest. Heute lehrt sie Musikwissenschaft an der Universität der Künste Berlin und ist Redakteurin bei VAN. merle@van-verlag.com

Eine Antwort auf “Die Anti-Diva”

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