Es begann mit einem Bruch: Die thematische Umorientierung meiner Dissertation über Vertonungen von Gedichten Friedrich Rückerts in Richtung dessen, was man heute Genderforschung nennt, interpretierte mein Bonner Betreuer als Zeichen für verderbliche Berliner Einflüsse. Nach endlosen Diskussionen und daraus resultierenden Schreibblockaden ließ sich ein Bruch nicht länger vermeiden. Gar nicht so einfach, denn ein Betreuungsverhältnis ist auch ein Abhängigkeitsverhältnis. Wie sollte es nun weitergehen? Ich ließ die Arbeit liegen und verdiente meinen Lebensunterhalt in einer Hochschulverwaltung. Jedoch meine Unzufriedenheit wuchs von Tag zu Tag. Dank eines nachgezahlten Doktorandenstipendiums des Cusanuswerks öffnete sich für ein halbes Jahr noch einmal eine Tür. Alle Trümmerstücke einer unfertigen Dissertation kamen auf den Tisch. Zum Katalysator wurde dabei ein Buch: Eva Riegers 1981 erschienene Studie Frau, Musik und Männerherrschaft. Zum Ausschluß der Frau aus der deutschen Musikpädagogik, Musikwissenschaft und Musikausübung.1 Ich erinnere mich genau, wie das Buch aussah, ein Taschenbuch, schwarzer Kartoneinband, leuchtend grüner Titel. Die Reihe: Ullstein-Materialien.
Die Lektüre dieser Veröffentlichung wirkte auf mich wie eine Enttabuisierung: Es war also möglich, öffentlich über den Zusammenhang zwischen Geschlecht und Kunstausübung, zwischen Geschlecht und Wissenschaft nachzudenken. Das machte mir Mut, und ich entschied mich, unabhängig davon, ob der Text als Dissertation akzeptiert werden würde oder nicht, ›mein‹ Buch zu schreiben. Zum Ausgangspunkt meiner Fragen wurde nun die Liedersammlung Der Liebesfrühling auf Texte von Friedrich Rückert, Robert Schumanns op. 37, Clara Schumanns op. 12. Ein komponierendes Ehepaar, eine Gemeinschaftskomposition? Im Zeichen der Genieästhetik war das auch für mich damals kaum vorstellbar, und ich begann die Kontexte zu ergründen. Das Ergebnis: eine vergleichende künstlersozialgeschichtliche Studie über die Schumann’sche Ehe als Schaffens-, Liebes- und Wirtschaftsgemeinschaft. Sie wurde an der Universität Bremen als externe Promotion angenommen, mit summa cum laude bewertet und im Rahmen einer neugegründeten interdisziplinären Reihe an der FU Berlin »Ergebnisse der Frauenforschung« veröffentlicht.2 Glück und Pech zugleich. Ich musste keinen Druckkostenzuschuss zahlen, aber im vorrangig pädagogisch ausgerichteten Weinheimer Beltz-Verlag vermutete niemand eine musikwissenschaftliche Arbeit. Allein der Erscheinungsort und auch die Publikationsreihe markierten bereits ein ›Draußen‹.
Ein renommierter Fachvertreter verriss meine Dissertation gnadenlos. Geschlechtsspezifische Schaffensbedingungen? Kein Thema. Schon gar nicht für die Musikwissenschaft. Aber auch von anderen ›Vertretern Robert Schumanns auf Erden‹ wurden meine Fragen beispielsweise nach den finanziellen Grundlagen und der Rollenverteilung als Kratzen an der ›Ehre‹ des ›großen Komponisten‹ interpretiert. Diese reflexhafte Verteidigung ›von Mann zu Mann‹ trotz historisch nachweisbarer Fakten erlebe ich bis heute. Immerhin meldete sich auch eine andere renommierte Stimme: Vielleicht werde erst die Zukunft zeigen, dass in dieser Dissertation so manches Diskussionswürdige verhandelt werde. Dreizehn Jahre später fand mein Buch als Referenz Eingang in den MGG-Artikel Musiksoziologie,3 und inzwischen gibt es zahlreiche Publikationen zu dem, was nun Männer4– sowie Paarforschung5 genannt wird.
Ein Studierendenstreik im Wintersemester 1988/89 brachte mir den ersten Lehrauftrag. Studentinnen forderten Lehrveranstaltungen zu sogenannten Frauenthemen, Eva Rieger hielt einen Vortrag. Im Anschluss erging die Einladung an mich, im nächsten Semester ein Seminar über Clara Schumann anzubieten. Teilnehmerinnen waren zu Beginn meiner Lehrtätigkeit ausschließlich weibliche Studierende, denen es bewusst geworden war, dass sie sich bisher ausschließlich mit von Männern komponierter Musik auseinandergesetzt hatten – praktisch und theoretisch. Nun begaben sie sich auf die Suche. Wir stellten einige von ihnen nach und nach in den Kontexten ihres Lebens und Schaffens im Rahmen von moderierten Konzertprojekten öffentlich vor. Die sehr engagierten Studierenden, unter ihnen zunehmend auch Männer, begannen, immer ausführlichere Programmhefte zu schreiben, um ihre oft sehr zeitaufwendigen Recherchen zu dokumentieren. Die anfängliche Skepsis von ihren Gesangs- und Instrumentallehrenden wich einem wachsenden Interesse; einige von ihnen übernahmen die musi- kalische Einstudierung. Schließlich wurden diese Entdecker-Konzerte zu den intern und extern am besten besuchten Veranstaltungen der Hochschule.
Kurz nach dem Fall der Mauer initiierte ich in Berlin ein Seminar zum Thema »Musikalische Biografien in Ost und West«. Die Hälfte der Studierenden kam von der Hanns-Eisler-Hochschule, die andere von der Hochschule der Künste (heute Universität der Künste). Der Kern des Seminars bestand darin, dass wir uns gegenseitig unsere Musik-Lebens-Geschichten erzählten. Je mehr Lebensgeschichten im Raum waren, unkommentiert und ohne Diskussion, desto länger wurden die Geschichten. Unbewusst nahmen die Studierenden kontrastierend oder ergänzend Bezug auf das, was vorher schon erzählt worden war. Schließlich stand ich selbst vor der Aufgabe, meine Musik-Lebens-Geschichte zu erzählen. Identitätsstiftung durch Erzählen – die Erinnerungsforschung bestätigt diese Erfahrung. War es noch länger möglich, autobiografische Texte, Briefe, Tagebucheintra- gungen, Konzertprogramme, Interviews, Bilder, Fotos, Rezensionen usw., also das Rohmaterial biografischer Darstellung, unhinterfragt als Doku- mente von Wirklichkeit zu lesen und Korrespon- denzen als Steinbrüche für Zitate zu nutzen?6 Ein Meilenstein im Prozess des Nachdenkens über Quellenfragen, nun auch bezogen auf die Rolle von Interpreten für die Bildung von Repertoires und für das Denken über Musik, wurde meine Forschungsarbeit zu dem Geiger, Komponisten und Berliner Hochschulgründer Joseph Joachim und seiner Frau, der Altistin Amalie Joachim.7 Ich stellte einen DFG-Antrag.
Der damalige Fachreferent der DFG gab es mir schriftlich, ich werde niemals in der Lage sein, das Fach Musikwissenschaft in der Lehre zu vertreten. Folglich wurde mir kein Habilitationsstipendium bewilligt, sondern ›nur‹ ein Forschungsstipendium. Diesem Bescheid vorangegangen war ein abendlicher Anruf nach 22 Uhr. Der mir persönlich unbekannte Fachreferent war am Telefon – immerhin überraschend zu einer so späten Uhrzeit. Seine Frage: »Seit wann sind Sie geschieden?« Ich gab die gewünschte Information. Erst nachdem ich den Hörer aufgelegt hatte, begann ich mich zu fragen, woher er überhaupt wusste, dass ich geschieden war. Aus meinen Bewerbungsunterlagen ging dies nicht hervor. Im Übrigen: Was hatte mein Familienstand mit meiner Bewerbung um ein Stipendium zu tun? Ein Rätsel – bis heute.

Das Forschungsstipendium war zwar finanziell schlechter ausgestattet, aber es öffnete mir ein Zeitfenster. Das war entscheidend. Ich konnte meine biografischen und interpretationsgeschichtlichen Forschungen über Joseph Joachim vorantreiben und – ich fiel bei meinen ausgedehnten Recherchen über Koffer und Schubladen.
Ein Haus in London: Unter einem Bett ein Koffer voller Briefe, Briefe eines bekannten Musikers an seinen Bruder in London. Die Tatsache, dass der Absender als ein bedeutender Musiker galt, begründete hinreichend den Ankauf dieser Briefe mit öffentlichen Geldern für ein deutsches Archiv. In einem zweiten Koffer an einem anderen Ort lagen ebenfalls Briefe. Briefe von einer Frau an eben diesen Mann. Auch die Frau war Musikerin. Ihre Tätigkeit als eine der bedeutendsten Lied- und Oratoriensängerinnen ihrer Zeit hatte jedoch über ihren Tod hinaus keine Beachtung gefunden, und sie wurde nicht unter die wegweisenden Musiker des 19. Jahrhunderts gezählt. Also nicht relevant – keine öffentlichen Gelder. Der Koffer blieb, wo er war – in Privatbesitz (immerhin wurde er nicht entsorgt). Kriminalistischer Sinn führte auf seine Spur. Nun argumentierten die Nachkommen, der Inhalt der Briefe sei kaum von allgemeinem Interesse, außerdem habe sich das Paar scheiden lassen – eine Familienschande. Damals vielleicht, jedoch heute noch? In diesem konkreten Fall konnten die Bedenken zwar ausgeräumt werden, aber eindrücklicher hätten Quellenrecherche und Überlieferungsgeschichte nicht zeigen können, dass Biografie und Musikgeschichtsschreibung »Effekt[e] von Überlieferung« sind.8
Eine Professur? Das war damals noch außerhalb meiner Überlegungen, ich hatte ja nicht den üblichen akademischen Weg über eine Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin beschritten, sondern kam von ›Draußen‹. Und dennoch, zunächst ging es vor allem um Prüfungsberechtigungen: Studierende, die bei mir Lehrveranstaltungen besucht hatten und ihre Themen dementsprechend wählten, sahen sich oft bei der Benotung benachteiligt. Denn die Prüfungen wurden von Kollegen abgenommen, die sich nie mit der Materie beschäftigt hatten und deswegen nolens volens zumeist inadäquate Fragen stellten. Um das zu ändern, beantragten Studierende die Einrichtung einer zusätzlichen Mitarbeiterinnenstelle für den Bereich musikbezogene Frauenforschung. Der tonangebende, dem neuen Schwerpunkt wohlgesonnene Kollege unterstützte den Antrag. Er wurde bewilligt, denn ›Frauenfragen‹ waren nun auch hochschulpolitisch gewollt.
Wiederum war es eine der universitären Neugründungen der Bundesrepublik, nämlich die Reformuniversität Oldenburg, sowie eine engagierte Kollegin, die mir nun die Chance zur Habilitation boten. Denn dort galt inzwischen das, womit Jahre zuvor der DFG-Vertreter sein »niemals« begründet hatte, als besondere Zusatz-Qualifikation: die musikbezogene Auseinandersetzung mit Geschlechterfragen sowie außeruniversitäre und auch internationale Erfahrungen in der Vermittlung von wissenschaftlich Erarbeitetem im Rundfunk, in Filmen, in Konzerten und so weiter. Das Habilitationsverfahren war noch nicht abgeschlossen, als eine von der nordrhein-westfälischen Landesregierung eingerichtete Netzwerkprofessur mit der etwas seltsamen Denomination »Komposition von Frauen« ausgeschrieben wurde. Es waren männliche Kollegen, die mich auf die Ausschreibung in der ZEIT aufmerksam machten: »Das ist doch was für Sie!« Nun war ich es, die einschlägig qualifiziert war. Allerdings dauerte es, bis es so weit war, dass ich meine erste Professur antreten konnte: Ein männlicher Kollege hatte auf Gleichstellung geklagt. Vergeblich, zum gewünschten Schwerpunktbereich hatte er zwar nichts publiziert, gleichwohl fühlte er sich diskriminiert.
Meine erste Stelle. Ich war von ›Draußen‹ gekommen, gehörte folglich nicht dazu. Die Kollegen beäugten mich kritisch. Komposition von Frauen – Geschlechterforschung? – ein Sonderbereich, ergo nicht ›eigentliche‹ Musikwissenschaft. Niemand diskutierte mit mir über Fachfragen, vielmehr unterschwellig, gleichsam anonym wirkte die Hierarchie innerhalb des Kollegiums: Wer die allgemeine Musikgeschichtsvorlesung hielt, definierte, was als musikgeschichtlich relevant gelten konnte und was nicht. Auch die den Vorlesungszyklus abschließenden Zwischenprüfungen wurden ausschließlich von dem entsprechenden Kollegen und seinem Assistenten abgenommen. Erst nachdem ich die Hochschule gewechselt hatte und am neuen Arbeitsort, wo der dort die Definitionsmacht für sich beanspruchende Kollege aus Altersgründen abtreten musste, konnte ich eine gängige Darstellungsmodelle hinterfragende, bewusst ›nichteinheitliche‹ Musikgeschichtsvorlesung entwerfen.9 Das, was ich nun erzählte, stand zu großen Teilen nicht in einschlägigen Nachschlagewerken. Zuhören, fragen, diskutieren wurde unerlässlich. Die Studierenden reagierten mit größtem Interesse. Denn das Ziel, Interpretationsgeschichte, Repertoiregeschichte sowie die Geschichte des musikbezogenen kulturellen Handelns spezifisch von Frauen miteinzubeziehen, veränderte den Blick aller Beteiligten auf das, was als geschichtsfähig galt. Diesen Blickwechsel galt es über eine Vorlesung hinaus fruchtbar zu machen. Schon zuvor war die Idee entstanden, eine Forschungsplattform zum Thema Musik und Gender im Internet zu entwickeln, und zwar in einer Zeit, in der das Internet durchaus noch nicht omnipräsent war.
Lexika, Enzyklopädien, Handbücher, Musikgeschichtsdarstellungen strukturieren und lenken Wissen. Herausgeberteams oder einzelne Autoren entscheiden über Auswahl und Darstellungsweisen. Die gemeinsam mit wechselnden Mitarbeiterinnen10 entwickelte und bis heute weitgehend mit privaten Stiftungsgeldern finanzierte Forschungsplattform Musik und Gender im Internet (MUGI)11 wurde hingegen als offener Wissensraum konzipiert. Am Anfang der Konzipierung standen zwei Erkenntnisse: Die Ergebnisse von Forschung gehen verloren, wenn sie nur in Hochschulprojekte und einmalige Aufführungen münden, und Vernetzung tut Not. Alle Studierenden, alle Wissenschaftlerinnen (zunächst waren es ausschließlich Frauen), die sich mit musikbezogener Frauen- und Geschlechterforschung befassten, arbeiteten in ihrem jeweiligen institutionellen Kontext beziehungsweise außerhalb jedes institutionellen Kontextes als Einzelkämpferinnen. Durch das Konzept von MUGI als umfassend multimedialer Forschungsplattform sollte die Grundlage für eine Vernetzung inner- und außer- universitärer Forschung gelegt werden.12

Ein Akzent lag im Gegensatz zu herkömmlichen Lexika auf dem Markieren von Forschungslücken. Zunächst wurde das vielfältige Wirken von Frauen im Bereich der europäischen Kunstmusik ins Blickfeld gerückt. Inzwischen sind auch Artikel über männliche Musiker und zwar speziell unter Gendergesichtspunkten aufgenommen worden. Allerdings war und ist es nach wie vor nicht leicht, Autoren für diese Schwerpunktsetzung zu gewinnen. Das gilt erst recht für Artikel über Menschen, die sich nicht einem binären System zuordnen lassen wollen oder das Geschlecht gewechselt haben.
Der kulturwissenschaftliche Blickwechsel von den Werken zum Handeln und zu Orten des musikbezogenen Handelns wurde vor allen vom 2006 gegründeten, ebenfalls von der Mariann Steegmann Foundation finanzierten Forschungszentrum Musik und Gender (FMG) an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover unter der Leitung von Susanne Rode-Breymann in zahlreichen Veröffentlichungen entwickelt.13 Es wurde eine Fachgruppe innerhalb der Musikwissenschaft14 mit einem eigenen, wiederum aus privaten Stiftungsgeldern finanzierten Jahrbuch15 gebildet. So entstand ein kontinuierlicher Diskussionszusammenhang, auch über Fachgrenzen hinweg. (Der Aspekt Interdisziplinarität ist in diesem Zusammenhang sehr wichtig, müsste jedoch gesondert behandelt werden.) Allerdings sah die eine oder andere Kollegin ihre Berufungsfähigkeit durch die Zuordnung zur Genderforschung gefährdet, andere wehrten sich gegen die Etikettierung ihrer Arbeit als ›Frauen‹- später ›Geschlechterforschung‹.
Inzwischen haben sich die Diskussionen gewandelt. Die musikbezogene Genderforschung ist vom Rand zwar nicht gerade in die Fachmitte gerückt, aber sie gehört zum Spektrum16 der bekanntlich nicht unumstrittenen fortschreitenden Facherweiterung. Der Vergleich mit der desgleichen neu hinzugekommenen Interpretationsforschung, der meine wissenschaftliche Arbeit ebenfalls wesentlich zuzurechnen ist, zeigt jedoch die Unterschiede. Heute muss die Interpretationsforschung anders als die Frauen- und Geschlechterforschung nicht zuletzt dank der mit öffentlichen Geldern finanzierten Veröffentlichungen des Staatlichen Instituts für Musikforschung – Preußischer Kulturbesitz nicht länger um wissenschaftliche Anerkennung kämpfen.17 Allerdings bleibt die Diskussion um die Definition des Fachkerns weiter virulent, steht doch im Zuge des Umbaus der Studiengänge auf Abschlüsse wie Bachelor und Master immer weniger Zeit für Lehrveranstaltungen zur Verfügung.
›Draußen‹ – ›Drinnen‹: Nicht zufällig kamen in der Bundesrepublik Deutschland die wesentlichen Impulse für die Entwicklung einer genderreflektierten Musikgeschichtsschreibung nicht von den Universitäten und Hochschulen, sondern von ›Draußen‹, und sie kamen von Frauen. Beides trug dazu bei, dass sie von der traditionellen Musikwissenschaft kaum beachtet wurden. Bei allen Überlegungen über den fachwissenschaftlichen Stellenwert der Frauen- und Geschlechterforschung, die sich derweil in der Auseinandersetzung mit kulturwissenschaftlich orientierten intersektionellen Ansätzen in Richtung Diversitäts-Forschung erweitert hat, scheint die Relevanzfrage der Stolperstein zu sein – Relevanz als quasi objektives Kriterium, das mitunter auch dazu dient, alte Sichtweisen fortzuschreiben und die Entwicklung neuer Fragestellungen möglichst schon im Keim zu ersticken, indem allein schon der Zugang zur Grundlage aller historischen Erkenntnis und musikalischen Praxis, nämlich zu den musikalischen und schriftlichen Quellen, beispielsweise durch institutionelle Nichtförderung erschwert wird.
Erinnert sei nur an die desolate Lage bei Werkausgaben und sogar Briefausgaben von Musikerinnen18. Während etwa zu Felix Mendelssohn Bartholdy inzwischen eine historisch-kritische Werkausgabe und eine durch den Verzicht auf den Abdruck der Gegenbriefe zwar defizitäre19, jedoch wissenschaftlich zuverlässige Briefedition vorliegt, sind wir bezogen auf seine Schwester Fanny Hensel immer noch auf dem Stand der 70er- und 80er-Jahre des letzten Jahrhunderts, und das trotz hervorragender Einzelstudien,20 die allerdings innerhalb des Fachs über die Frauen- und Geschlechterforschung hinaus ihr wissenschaftliches Potenzial kaum entfalten konnten.

Gleichzeitig wurde es jedoch möglich, ein von der DFG gefördertes Forschungsprojekt zu Pauline Viardot-Garcia durchzuführen, und damit zu einer Musikerin, deren Bedeutung aus heutiger Sicht vor allem im gesungenen und komponierten Transfer zwischen verschiedenen nationalen und sozialen Musikkulturen gelegen hat.21 Ein verlässliches, fortschreibbares Werkverzeichnis konnte zwar in diesem Rahmen von Christin Heitmann erarbeitet werden,22 jedoch fehlen nach wie vor gesicherte Notentexte als Basis vor allem auch für die musikalische Praxis.
Die grundlegende Diskussionsfrage bleibt: Soll auch die Geschichte von Musik als sozialem Handeln relevant werden, von Musik als ein an die Zeit gebundenes Beziehungsereignis mit vielen Beteiligten, als vielgestaltigem Phänomen menschlichen Daseins? Dieser inzwischen auch von ›Drinnen‹ getragene Perspektivenwechsel hat ein ganzes Netzwerk von Menschen sichtbar gemacht, deren Arbeit miteingeflossen ist in das, was wir im Rückblick und im Sinne einer Heroengeschichte eine ›historische Tat‹ nennen. Neben die bekannten Personen sind so Menschen ›ohne Namen‹ getreten und neben das Komponieren als eine zentrale Form des musikbezogenen Handelns auch Tätigkeiten wie Aufführen, Sammeln, Fördern, Aufträge geben, Räume zur Verfügung stellen, Vermitteln, Zuhören und vieles mehr. Das revolutionär erscheinende, weil öffentlich wirksam gewordene Arbeitsresultat eines (zumeist männlichen) Einzelnen bekommt so einen sozialen Kontext, eine Geschichte, wird zum Teil eines vielstimmigen Dialogs. Und es zeigt sich immer wieder, wie stark unser Verständnis von Geschichte und Geschichtsfähigkeit reduziert ist auf eine Konstruktion auf der Basis von oft sehr lückenhaftem Wissen. Forschungslücken haben zwar auch etwas mit der Quellenlage zu tun, lassen sich aber nicht allein darauf zurückführen. Vielmehr gilt: Wo keine Fragen gestellt werden, da entsteht auch keine Forschung. Der politische Kampf um Gleichstellung und die Anerkennung von Diversity in allen Bereichen ist bis heute nicht abgeschlossen und macht aus der Frage, in wessen Händen die kulturelle Definitionsmacht liegt, auch aus Forschungsvorhaben gesellschaftspolitische Aufgaben. Es zeigt sich immer wieder: Wer in Hochschulen und Universitäten zur Community dazugehört, also ›drinnen‹ ist in den akademisch- wissenschaftlichen Ausbildungs-, Forschungs- und Förderungsinstitutionen, und wer ›draußen‹ bleibt, ist nicht nur von individuellen Leistungen abhängig, sondern auch von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. ¶
Dieser Text erschien zuerst in der Zeitschrift Die Tonkunst im Themenheft Frau und Musikwissenschaft.
- Eva Rieger: Frau, Musik und Männerherrschaft. Zum Ausschluss der Frau aus der deutschen Musikpädagogik, Musikwissenschaft und Musikausübung, Berlin 1981, Kassel 21988. ↩︎
- Beatrix Borchard: Robert Schumann und Clara Wieck. Bedingungen künstlerischer Arbeit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (= Ergebnisse der Frauenforschung 4), Weinheim-Basel 1984, Kassel 21992. ↩︎
- Christian Kaden: Art. Musiksoziologie, in: MGG 2, Bd. 6., Kassel 1997, Sp. 1618–1670. ↩︎
- Vgl. u. a. Marion Gerards, Martin Loeser und Katrin Losleben (Hgg.): Musik und Männlichkeiten in Deutschland seit 1950. Interdisziplinäre Perspektiven, München 2013. ↩︎
- Vgl. u. a. Melanie Unseld und Christine Fornoff-Petrowski (Hgg.): Paare in Kunst und Wissenschaft (= Musik – Kultur – Gender), Köln 2021. ↩︎
- Vgl. dazu Beatrix Borchard: Mit Schere und Klebstoff, 2. überarbeitete Fassung, in: Clara Schumann – Ihr Leben, hg. von ders., Hildesheim 32015, S. 413–430. ↩︎
- Vgl. Beatrix Borchard: Stimme und Geige: Amalie und Joseph Joachim. Biographie und Interpretationsgeschichte (= Wiener Veröffentlichungen zur Musikgeschichte 5), Wien 22007. ↩︎
- Vgl. Barbara Hahn: Lesenschreiben oder Schreibenlesen. Überlegungen zu Genres auf der Grenze, in: Modern Language Notes 116 (April 2001), Heft 3, S. 564–578. ↩︎
- Vgl. dazu Karin Hausen: Die Nicht-Einheit der Geschichte als historiographische Herausforderung. Zur historischen Relevanz und Anstößigkeit der Geschlechtergeschichte, in: Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte. Herausforderungen und Perspektiven (= Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft 5), hgg. von Hans Medick und Anne-Charlott Trepp, Göttingen 1998, S. 15–55. ↩︎
- Hier sind vor allem Kirsten Reese sowie Sophie Fetthauer zu nennen. ↩︎
- Beatrix Borchard und Nina Noeske (seit 2015) (Hgg.): Musikvermittlung und Genderforschung. Musikerinnen-Lexikon und multimediale Präsentationen, Hochschule für Musik und Theater Hamburg 2003ff. Ursprünglicher Name: Musik und Gender im Internet (MUGI), https://mugi.hfmt-hamburg.de/content/index.xmlrg.de. ↩︎
- Vgl. Beatrix Borchard, Regina Back und Elisabeth Treydte (Hgg.): Musik(vermittlung) und Gender(forschung) im Inter- net. Perspektiven einer anderen Musikgeschichtsschreibung, Hildesheim 2016. ↩︎
- 2001 hatte Freia Hoffmann bereits das ebenfalls privat finanzierte Sophie Drinker Institut in Bremen als freies Forschungsinstitut für musikwissenschaftliche Frauen- und Geschlechterforschung gegründet. ↩︎
- Fachgruppe Frauen- und Genderstudien in der Gesellschaft für Musikforschung. ↩︎
- Jahrbuch Musik und Gender, Bde. 1–6 (2008–2013) hgg. von Susanne Rode-Breymann (Forschungszentrum Musik und Gender an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover) und Rebecca Grotjahn (Fachgruppe Frauen- und Genderstudien in der Gesellschaft für Musik- forschung), ab Bd. 7 hgg. von Susanne Rode-Breymann und Katharina Hottmann im Olms-Verlag Hildesheim. ↩︎
- Das zeigt sich nicht zuletzt darin, dass 2010 unter der Federführung von Rebecca Grotjahn ein Aufsatzband zum Thema Musik und Gender für die Reihe »Kompendien Musik« entstand. Die Reihe wurde im Auftrag der Gesellschaft für Musikforschung von Detlef Altenburg †, Wolfgang Auhagen, Gabriele Buschmeier †, Rebecca Grotjahn und Dörte Schmidt (bis 2018) herausgegeben und erschien in einem für das Fach Musikwissenschaft zentralen Verlag, dem Laaber-Verlag. ↩︎
- Thomas Ertelt und Heinz von Loesch (Hgg.): Geschichte der musikalischen Interpretation im 19. und 20. Jahrhundert, 3 Bde., Kassel 2019–2022. ↩︎
- Als große Ausnahme sei hier die noch laufende Edition der Briefe von und an Robert und Clara Schumann zu nennen: Robert-Schumann-Haus Zwickau und Institut für Musikwissenschaft der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden in Verbindung mit der Robert-Schumann- Forschungsstelle Düsseldorf (Hg.), Thomas Synofzik und Michael Heinemann (Editionsleitung): Schumann-Briefedition, Köln (seit 2008). ↩︎
- Seit Längerem wird an einer digitalen Nachedition der Gegenbriefe an der HU Berlin unter der Leitung von Sebastian Klotz im Rahmen der historisch-kritischen Online- Edition der Korrespondenz Felix Mendelssohn Bartholdys (FMB-C) gearbeitet. ↩︎
- Vgl. z. B. Cornelia Bartsch: Fanny Hensel, geb. Mendelssohn Bartholdy. Musik als Korrespondenz, Diss., Kassel 2007, sowie Annegret Huber: Das Lied ohne Worte als kunstübergreifendes Experiment: Eine komparatistische Studie zur Intermedialität des Instrumentalliedes 1830–1850, Tutzing 2006. ↩︎
- »Orte und Wege europäischer Kulturvermittlung durch Musik: Die Sängerin und Komponistin Pauline Viardot«, vgl. https://www.pauline-viardot.de/projekt.htm. ↩︎
- Christin Heitmann: Pauline Viardot. Systematisch-bibliographisches Werkverzeichnis (VWV), Hochschule für Musik und Theater Hamburg seit 2012, Online-Datenbank www. pauline-viardot.de, letzter Zugriff am 24. Mai 2022. ↩︎