Von jungen Musiker:innen, die als Solist:in oder im Orchester arbeiten wollen, wird gemeinhin erwartet, dass sie sich früh für diesen Weg entscheiden und das Vorhaben dann konsequent in die Tat umsetzen. Für Zweifel, Hadern oder alternative Wege gibt es wenig Raum, Krisen und Depressionen werden verschwiegen. Auch Bariton Christian Wagner fand Hilfe im Umgang mit seiner starken Auftrittsangst erst außerhalb der Klassikbubble. Ein Gesprächsprotokoll.

Christian Wagner • Foto © Hannah Kreutzer

Ich komme aus der Nähe von Mainz, bin in einem Lehrer- und Musikerhaushalt aufgewachsen. In Frankfurt und Mainz habe ich dann die Aufnahmeprüfung gemacht für Cello und Schulmusik. Ich hatte richtig schlimme Auftrittsangst, meine Hände haben so gezittert, dass es fast nicht ging. In Frankfurt wurde mir geraten: »Ersparen Sie doch bitte uns und vor allem sich selbst ein Studium.« Das war natürlich sehr hilfreich. In Mainz bin ich trotz zittriger Hände genommen worden, mit der Note 4.0, aber nur, weil mein zukünftiger Professor mich im Übezimmer gehört hatte und den anderen sagen konnte: »Der kann was.« Ich habe dann Schulmusik studiert, mit Cello Hauptfach und Germanistik dazu. Während des Unterrichts im Chordirigieren hat mich der Domkapellmeister zur Seite genommen und gesagt: »Was du da wedelst versteht kein Mensch, aber du singst das immer so schön vor, mit Ausdruck, und zeigst genau was du willst, hast du nicht mal überlegt, Gesang zu studieren?« Das war für mich der Ausweg aus den technischen Schwierigkeiten beim Cello, außerdem habe ich schon immer gerne gesungen. Ich durfte in Mainz die Aufnahmeprüfung machen, obwohl das Semester schon begonnen hatte, und wurde als lyrischer Bariton in der Gesangsabteilung gleich eingesetzt für kleine Projekte, für Mini-Soli, Rollen an kleinen Theatern, Engagements in der Kirchenmusik, auch überregional.

Aber meine Auftrittsangst fiel auch auf der Bühne nie ab. Sie war stattdessen meistens so schlimm, dass ich mich am Konzerttag immer dafür verflucht habe, das Engagement angenommen zu haben. Ich hatte bis zum letzten Ton massives Herzklopfen, teilweise auch Zittern, Übelkeit, Schmerzen, die ganze Bandbreite psychosomatischer Symptome. Ich habe immer auf jede kleinste Geste und Mimik im Publikum geachtet: Mögen die mich jetzt, gucken die konzentriert oder ablehnend? Es war jedes Mal furchtbar, auch bei kleinen Auftritten. Ich war immer erst froh, wenn ich die Bühne verlassen hatte. Wegen meiner Angst war ich auch wenig in der Lage, bei Agenturen und Wettbewerben vorzusingen.

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Ich kann dir gar nicht sagen, warum ich nicht aufgehört habe. Das Musikmachen war mir wahnsinnig wichtig, darum wollte ich mir beweisen, dass ich es schaffe. Vielleicht war das auch ein gewisser Masochismus. Ich habe nie viel soziales Umfeld gehabt. Es wäre ein riesiger Verlust gewesen, dieses »Martyrium« aufzugeben, wahrscheinlich wäre mir mein Leben unbedeutend vorgekommen. Ich hatte das Gefühl: Wenn ich das jetzt wegen der Angst aufgebe, kann ich alles lassen.

Meine Engagements führten dazu, dass ich 2011 als junger Sänger in der Royal Festival Hall in London Beethoven singen sollte mit dem Orchestra of the Age of Enlightenment unter Gianandrea Noseda. Das hat mich unglaublich unter Druck gesetzt, weil ich keinen Abschluss hatte, weil es so ein großer, prominenter Auftritt war. Außerdem hatte ich mich bei einem Auftritt als Chorsolist in Koblenz total verschrieen in Schostakowitschs Die Nase, meine Kopfstimme war quasi weg. Ich hatte damals einen Frankfurter Agenten, der mittlerweile nicht mehr lebt. Einen Monat vor dem Auftritt in London habe ich ihm gesagt, dass ich das nicht schaffe, dass ich Angst habe, technische Probleme, und deshalb absagen muss – einen Monat vorher, eigentlich das normalste der Welt, er hat auch sofort Ersatz gefunden. Trotzdem wollte er mich verklagen. Meine Professorin und verschiedene andere Leute haben versucht, ihn umzustimmen. Er blieb dabei, obwohl wir gar keinen Vertrag hatten. Ich habe mich ziemlich runtermachen lassen, die Klage dann aber durch eine Zahlung von 500 Euro und unter Vermittlung meiner Lehrerin Claudia Eder abwenden können.

Edvard Munch, Die Stimme, Public domain, via Wikimedia Commons

Trotzdem wirkte es auf mich so, als wäre mein Ruf ruiniert und meine Karriere vorbei. Ich konnte das nicht überblicken damals und wusste nicht, dass anderen Menschen auch sowas passiert mit Agenturen oder Veranstaltern. Ich war in einer Kleinstadt aufgewachsen und immer relativ zurückgezogen. Jetzt hatte ich das Gefühl, die große Welt stürzt auf mich ein, London, Agentur in Frankfurt, das war ein extremer Vertrauensverlust in alles, in meine eigenen Fähigkeiten, ins Business. Ich habe eine richtig schwere lebensbedrohende Depression bekommen und ging in eine Klinik. Mein Studium habe ich nach sechs Semestern und trotz einer Vordiplomprüfung in Gesang mit 1.0 abgebrochen, wollte nie wieder singen. 

Mit meinem ehemaligen Partner bin ich 2012 nach Berlin gezogen, habe in Potsdam Französisch und Englisch auf Lehramt studiert. 2015 habe ich während eines Auslandssemesters in Paris wieder angefangen zu singen, im dortigen Unichor. Der Dirigent Fabrice Parmentier meinte: »Moment mal, du mischst dich gut, aber ich habe mal zwischendrin gelauscht, du hast eine super Stimme, kann es sein, dass du Gesang studiert hast?« Fabrice hat mich als Sänger gerettet. Ich habe 2015 in einer großen Pariser Kirche Faurés Requiem gesungen, nach drei Jahren Pause, und ab da ging es wieder los. Zurück in Berlin habe ich dann mein Lehramsstudium aufgegeben und mir langsam eine kleine Konzerttätigkeit aufgebaut. Parallel hatte ich noch viele Nebenjobs, im Callcenter einer Krankenkasse zum Beispiel, hab mich so durchgeschlagen. Irgendwann kamen mehr Aufträge, aber immer ohne Agentur, und schließlich konnte ich davon leben. Seitdem bin ich als Sänger solistisch tätig, hauptsächlich im Bereich Kirchenmusik und Lied, arbeite zum Beispiel viel mit La Petite Bande und Sigiswald Kuijken, werde für Einspielungen engagiert, mache gerade Aufnahmen mit den Pianist:innen Schaghajegh Nosrati, Eric Schneider und Jonathan Ware, singe aber auch in kleinen Ensembles und Kammerchören wie dem Vocalconsort Berlin. Ich liebe das und finde es ganz furchtbar, wenn einem an Hochschulen immer beigebracht wird: »Nein, du bist viel zu gut für Chor, mach das auf keinen Fall, du musst erst gar nicht Chorsingen lernen.« Viele schreiben nicht in ihre Lebensläufe oder versuchen zu vertuschen, dass sie auch in Chören singen. Im Sommer 2018 habe ich mich dann getraut, mich mehr zu präsentieren, beim ARD-Musikwettbewerb und dem Helmut-Deutsch-Liedwettbewerb zu singen, und mich nicht mehr nur auf’s Hörensagen zu verlassen, was Aufträge angeht. 

Dass ich keinen Abschluss habe, danach wird eigentlich nie gefragt. Nur ein fester Vertrag bei öffentlichen Institutionen wie den Rundfunkchören wird mir immer verwehrt bleiben, weil die Tarifverträge des öffentlichen Dienstes leider meistens einen Abschluss voraussetzen.

Edvard Munch, Verweiflung, Public domain, via Wikimedia Commons

In der hochschulinternen Blase hatte ich nicht das Gefühl, über meine Ängste offen reden zu können. Meine Lehrer:innen meinten zu mir, dass man in dem Haifischbecken Gesang wahnsinnig stabil sein muss, um durchzukommen. Eine andere Lehrerin hat mir geraten, auf gar keinen Fall Medikamente zu nehmen, weil das die Stimme kaputt mache, ich müsse es so hinkriegen. Es ist gut, dass es heute an vielen Hochschulen Vertrauenspersonen gibt, das hilft, aber ändert nichts an dem öffentlichen Bild und dem Umgang mit psychischen und physischen Erkrankungen in der Branche. Du giltst schnell als »problematisch«, als Heulsuse. Dazu kommt dieser völlig verrückte Jugendwahn: Ich sehe Sänger:innenkarrieren, die nach fünf Jahren schon wieder vorbei sind. Es wird einem früh suggeriert, dass man es sich nicht leisten kann, Probleme zu haben, einen nicht linearen Lebenslauf, eine Pause zu machen oder später mit Gesang anzufangen. Wie soll man als junger Mensch über seine Problem reden, wenn allein über das Alter schon so viel Druck ausgeübt wird? Man darf vielleicht Asperger haben, aber nur wenn man »High Functioning« ist, wenn am Ende die Erfolgserzählung steht. Man darf ein bisschen was haben, solange man trotzdem seinen vollen Soll erfüllt.

Wenn man sich da keine professionelle Unterstützung außerhalb der Uni sucht, wird es schwierig. Ohne viel therapeutische Hilfe hätte ich es nicht geschafft. Heute ist die Angst weniger, das ist ziemlich gut eigentlich. Ich nehme noch ein Medikament, das die Angst lindert, mit niedriger Dosierung, aber ich hab es teilweise auch weggelassen und gesungen und es hat funktioniert. 2019 habe ich bei einem Klinikaufenthalt, nachdem mein langjähriger Partner mich verlassen hatte, eine Gruppentherapie gemacht. In der Situation – mit zehn anderen Menschen in einem Raum, die man gar nicht kennt und die alles von sich erzählen – habe ich gemerkt, dass ich auch darüber sprechen kann. Da waren Menschen dabei, vom Polizisten bis zum Manager einer Computerfirma, die haben alle offen darüber geredet, auch in ihrem Umfeld. Da habe ich langsam auch damit angefangen. 

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass meine Angst, abgestempelt und für unseriös und unzuverlässig gehalten zu werden, zumindest nicht bei allen gerechtfertigt war. Meine Engagements sind nicht weniger geworden, ich habe von vielen Kolleg:innen Zustimmung erfahren, viele haben mir privat auf Facebook geschrieben und von eigenen Erfahrungen berichtet. Ich habe gemerkt, dass  psychische Erkrankungen wesentlich verbreiteter sind, als wir das in unseren polierten Lebensläufen und in den Sozialen Netzwerken immer darstellen. Dort geben wir uns als Genius, der gleich zu Beginn vom Singen leben und sofort hier und da groß auftreten konnte. Die Nebenerzählungen vermeiden wir. ¶ 

... ist Herausgeber von VAN. Er studierte Development Studies, Ethnologie und Asienwissenschaften in Berlin, Seoul, Edinburgh und an der London School of Economics und arbeitete im Anschluss zehn Jahre als Berater in Projekten der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. 2014 gründete er mit Ingmar Bornholz den VAN Verlag, wo er auch als Geschäftsführer fungiert. hartmut@van-verlag.com

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