Kunstwerke sind meist schlauer als ihre Schöpfer. In der Regel verraten sie mehr über verdeckte Verbindungen, Beziehungen, Einflüsse als die Äußerungen oder Einlassungen ihrer Autoren vermuten lassen. Eine Erfahrung, die in Zeiten epidemischer Polarisierungen nicht oft genug betont werden kann. Zum Auftakt eines neuen Ring-Zyklus hat die Oper Dortmund Ende Mai diesen Befund am Beispiel der deutsch-französischen Musikverhältnisse zwischen Second Empire und Erstem Weltkrieg durchgespielt – mit Wagners Walküre, Guirauds / Saint-Saëns’ Frédégonde, Spontinis Fernand Cortez und einem hochkarätig besetzten Symposium – ein mustergültiger, weit über das historische Thema ausgreifender Versuch, die Kurzschlüsse nationalistischer Kulturnarrative zu beschreiben.

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Eine Binse, eigentlich: Das Eigene konstituiert sich vor allem im Spiegel des Anderen. Kontur gewinnt es erst durch Beziehungen, Referenzen, Kontexte. Spräche es nur aus sich, bliebe es unsichtbar. Das gilt nicht zuletzt für die allseits beförderte Sehnsucht nach stabiler sozialer, kultureller, historischer Identität. Ein weitläufig vermintes Diskurs-Terrain, auf dem längst überwunden geglaubte, ideologisch interessierte Simplifizierungen und Polarisierungen beunruhigende Urständ feiern. Das imperial-nationalistische Narrativ, mit dem Wladimir Putin und sein Machtapparat, von weiten Teilen der russischen Gesellschaft gedeckt, den Überfall auf die Ukraine rechtfertigen, markiert derzeit, zumindest in Europa, den brutalsten Auswuchs einer Mentalität, die sich des Eigenen durch die Bekämpfung des Anderen zu vergewissern sucht, bis hin zu dessen Vernichtung.

Chauvinistische Erzählungen, die das Fremde, Unvertraute als Bedrohung, als korrumpierende Abweichung werten und unschädlich zu machen trachten, sind kein neues Phänomen. Die Geschichte birgt zahllose Beispiele für die fatalen Folgen identitärer Gleichschaltung. Bis heute steckt uns, zumal in Deutschland, die in zwei Weltkriegen explodierte Destruktivkraft jener Reinheitsfantasien in den Knochen, die um Blut und Boden kreisen. Die Bemühungen um ein in Vielfalt vereintes Europa nach 1945 und 1989 zielen – ungeachtet aller Probleme, Staus, Defizite und Rückschläge – nach wie vor darauf, das gefährliche Gift exzessiver Nationalismen im Gefüge einer supranationalen, pluralistisch-demokratisch verfassten Föderation zu neutralisieren.

Vielfalt in selbstbestimmter Freiheit, Entwicklung des Eigenen im Austausch mit Anderen – das ist undenkbar ohne die Dynamik eines multilateral ausgerichteten Dialogs zwischen den Kulturen. Auch wenn dieser Dialog politisch, institutionell erst seit den 1970er-Jahren durch die Europäische Union gefördert wird und bis zur apokalyptisch versehrten Mitte des 20. Jahrhunderts in der Regel lautstark durch Vaterlandsrhetorik jedweder Provenienz übertönt war, stößt man nicht selten, selbst in Zeiten schärfster Abgrenzung, auf verborgene, mitunter verdrängte Verbindungen. Auch im Untergrund der durch nationale Schulen überformten Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts findet sich bei näherer Betrachtung eine erstaunliche Gleichzeitigkeit von Nähe und Ferne, von innerer Verwandtschaft und ausgestellter Gegnerschaft.

Vor diesem Hintergrund kann man die Initiative der Oper Dortmund und ihres Intendanten Heribert Germeshausen, die vier Premieren eines neuen Ring-Zyklus mit Vorträgen, Podien und Diskussionen zu flankieren, die Tetralogie und ihren streitbaren Schöpfer gleichsam in einen europäischen Zusammenhang zu stellen, nur als brandaktuelle Großtat bezeichnen. »Wahn der Eroberung« – unter diesem Motto stemmte das Haus Ende Mai einen dreitägigen »Wagner-Kosmos«, der neben einer dank Altmeister Peter Konwitschny virtuos zwischen Mythos, Magie und heiterer Melancholie changierenden Walküre, dem ersten Wurf des Dortmunder Rings, Opernraritäten von Gaspare Spontini (Fernand Cortez) und Ernest Guiraud (Frédégonde) bot. Da öffnete sich, am Beispiel deutsch-französischer Verwicklungen vom Klassizismus bis zum Fin de Siècle, ein komplex strukturiertes Panorama, das die Forschung zwar seit geraumer Zeit entfaltet, außerhalb akademischer Zirkel aber kaum bekannt ist.

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Gewiss, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren die Beziehungen zwischen Frankreich und den deutschen Ländern alles andere als entspannt. Besonders die militärische Konfrontation 1870/71, die westlich des Rheins das Ende des Second Empire besiegelte und auf der östlichen Seite die Gründung eines neuen Kaiserreichs ermöglichte, heizte über Jahrzehnte die Rede von einer »Erbfeindschaft« zwischen Deutschen und Franzosen an – ein epidemisch verbreitetes Virus, das die öffentlichen Debatten in allen Bereichen infizierte. Auch unter Komponisten grassierte damals der Ruf nach nationaler Identität. Während Héctor Berlioz, César Franck, Claude Debussy, Camille Saint-Saëns und andere die Besinnung auf eine Ars Gallica forderten, um den Einfluss Wagners und seiner Bewunderer einzudämmen, ließ dieser keine Gelegenheit aus, auf die Überlegenheit deutscher Tonkunst zu pochen. Dabei sprechen die Werke, hüben wie drüben, oft eine andere Sprache. Sogar manche Einlassung und künstlerische Haltung liegt quer zur opportunen Logik demonstrativer Abschottung.

Die unter anderem durch das antisemitisch vereiterte Pamphlet «Das Judenthum in der Musik» (1850/69) überlieferten Tiraden Richard Wagners gegen den Förderer Giacomo Meyerbeer etwa verdecken die immense Bedeutung der Grand Opéra für das eigene musikdramatische Denken und kompositorische Handeln – von den zum Gigantischen neigenden Dimensionen bis zur multimedialen Anlage der Stücke. Die Idee des Gesamtkunstwerks, sagt der Kölner Musikwissenschaftler Arnold Jacobshagen, ist untrennbar mit Wagners Begegnungen und Erfahrungen in Paris verknüpft, der »Hauptstadt des 19. Jahrhunderts« (Walter Benjamin).

Umgekehrt griffen viele französische Künstler begeistert die Leitmotivtechnik oder das Konzept der »unendlichen Melodie« auf, sie hallen sogar in Texten der damaligen literarischen Avantgarde, bei Paul Verlaine etwa, Stephane Mallarmé oder Marcel Proust nach. Nicht einmal der nach 1871 für Frankreich nachgerade demütigende Aufstieg der vereinten deutschen Länder zu einer europäischen Großmacht sollte den von Charles Baudelaire 1864 angestoßenen Wagnérisme hemmen. Es waren konkrete Hörerlebnisse, die traumschwebend rauschhafte, in Schichten des Unbewussten vordringende Qualität des Lohengrin-Vorspiels, Eindrücke aus den Pariser Tannhäuser-Aufführungen, was Baudelaires Eloge auf Wagner auslöste. Und er hatte dabei mitnichten eine Leitfigur teutonischer Klangästhetik im Sinn, betont der amerikanische Publizist Alex Ross (The Rest is Noise, Die Welt nach Wagner), sondern einen von den Impulsen und Energieströmen seiner Zeit durchdrungenen kosmopolitischen Freigeist.

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Die Konzerte im Théâtre Italien, in denen 1860 Ausschnitte aus Wagners Opern, bis hin zum (damals im Entstehen begriffenen) Tristan, vorgestellt wurden, stießen auf lebhaftes Interesse. Unter den Zuhörern: Berlioz, Meyerbeer, Daniel Auber, Charles Gounod, Fromental Halévy, Ambroise Thomas, Ernest Reyer. Zur ersten Saison der Bayreuther Festspiele 1876 reisten Saint-Saëns und Charles Widor, Vincent d’Indy, Augusta Holmès und ein gewisser Ernest Guiraud an, allem Tschingderassabum um das junge deutsche Reich zum Trotz; die Premiere des Parsifal 1882 lockte unter anderem Ernest Chausson und Léo Delibes, Gabriel Fauré und André Messager, die eine herrlich satirische Quadrille für Klavier vierhändig über Themen aus dem Ring schrieben: Souvenirs de Bayreuth. Sogar ein Anti-Wagnerianer wie Claude Debussy, der als »musicien français« zeichnete und dem »alten Giftmischer« in Children’s Corner (1908) oder En blanc et noir (1915) mit parodistischem Biss die Leviten liest, ließ sich 1888 und 1889 auf dem Grünen Hügel blicken – ein Fall inniger Hassliebe, die viel mit jener »Abgründigkeit« und »modulatorischen Bodenlosigkeit« zu tun hat, die den Musiksprachen beider Neuerer, auf sehr verschiedene Weise, eignet. Was die an der Zürcher Universität lehrende Historikerin Inga Mai Groote in Dortmund nur exemplarisch anreißen kann, hat Volker Hagedorn in einem gerade erschienenen Buch über die Brüche und Umbrüche im Musikleben zwischen 1900 und 1918 zu einem die Ambivalenzen dieser einzigartig kreativen, schließlich in eine Katastrophe schlitternden Jahre so sensibel wie souverän auslotenden Tableau ausgearbeitet (Flammen – Eine europäische Musikerzählung, Rowohlt Verlag 2022).

Zum Gesamtbild gehören freilich auch unfassbare Irrungen, die der Kriegstaumel im August 1914 hervortrieb. Da schreibt Arnold Schönberg, einen Monat nachdem ein Regionalkonflikt auf dem Balkan zu einem Flächenbrand geworden ist, der am Ende 17 Millionen Tote forderte, an Alma Mahler: »Ich konnte nie etwas anfangen mit aller ausländischen Musik. Mir kam sie immer schal, leer, widerlich, süßlich, verlogen und ungekonnt vor. Ohne Ausnahme. Jetzt weiß ich, wer die Franzosen, Engländer, Russen, Belgier, Amerikaner, und Serben sind: Montenegriner! Das sagte mir die Musik längst. … Diese Musik war längst eine Kriegserklärung, ein Überfall auf Deutschland (…) Aber jetzt kommt die Abrechnung! Jetzt werfen wir diese mediokren Kitschisten wieder in die Sklaverei, und sie sollen den deutschen Geist verehren und den deutschen Gott anbeten lernen.« Gut zwei Monate später ätzt Schönbergs Schüler Alban Berg gegenüber seiner Frau Helene: »Nimm dem Debussy u. Ravells Scriabins u. wie sie heißen die gewisse verschwommene Harmonik weg: was bleibt? bei Debussy vielleicht 2,3 Motive von vier fünf Tönen.« [sic! zitiert nach Hagedorn]

Den Gegenpol zu derlei Abstürzen verkörpert ein über alle Spannungen hinweg europäisch orientierter Geist wie Saint-Saëns, der das große Schlachten um drei Jahre überlebte. Ein schier unbegrenzt neugieriger und aufnahmefähiger Kopf, der zwar energisch die Musik seines Landes förderte und um 700 eigene Werke bereicherte, sich aber ebenso mit kaustischem Humor über Scheuklappen jeder Form amüsieren konnte. Der berühmte Carnaval des animaux (1886), den der skrupulöse Komponist am liebsten in der Schublade hätte verschwinden lassen, offenbart das besonders schön: In dieser »zoologischen Fantasie« für zwei Klaviere und Kammerensemble ist niemand vor ihm sicher, nicht einmal er selber – von Berlioz bis Offenbach, von Rossini bis zum Etüden-Meister Czerny und dem selbstverfassten Danse macabre stammen die Stil-Blüten, die hier aufs Korn genommen werden.

Mit seinen elf Opern, von denen nur das 1877 von Liszt in Weimar uraufgeführte Bibeldrama Samson et Dalila Eingang ins Repertoire fand – inzwischen liegen vier weitere Stücke als Buch-CD-Editionen der Stiftung Palazzetto Bru Zane vor – setzt Saint-Saëns auf die Kunst einer brillant ausgefeilten clarté, die der Droge des Wagnérisme ebenso misstraut wie dem oftmals ins Sentimentale spielenden Gefühlsfarbenfieber, das seinerzeit an der Seine umging. Als der befreundete Komponist Ernest Guiraud, Urheber der Rezitative in Carmen und Les Contes d’Hoffmann, 1892 über der Arbeit an einem wagneraffinen Drame lyrique über die Machtkämpfe der Merowinger starb, zögerte Saint-Saëns keinen Moment, die Musik für zwei der fünf geplanten (schließlich auf drei reduzierten) Akte im Sinne Guirauds selbst zu entwerfen (die Instrumentierung der übrigen Aufzüge steuerte Paul Dukas bei). Frédégonde ist ein kühnes Amalgam aus Historie und Sage, das Motive der französischen Nationalgeschichte berührt und in der Konfliktkonstellation gewisse Ähnlichkeiten mit Lohengrin aufweist – für den Leipziger Musikwissenschaftler Günther Heeg ein Musterbeispiel für jenes »Theater der Wiederholung«, das er in der Grand Opéra am Werk sieht. 

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Diese Frédégonde also ging im Rahmen des Dortmunder Wagner-Kosmos nun ein letztes Mal in der unter Corona-Bedingungen entstandenen, bemerkenswert stimmigen Stummfilm-Bühnen-Version der Regisseurin Marie-Eve Signeyrole über Screen, Chor-Parkett und die hinten für die unter Generalmusikdirektor Gabriel Feltz und den Kapellmeistern Monotori Kobayashi sowie Christoph JK Müller blendend musizierenden Dortmunder Philharmoniker reservierte Bühne.

Unter solchen geistblitzend inspirierenden Bedingungen wurde, weit über den programmatischen Anlass – die neue Ring-Befragung – hinaus nicht zuletzt deutlich, was unserer heute so häufig und so schnell ins Atemlose, Aktionistische, ins Verbohrte und Verstockte gleitenden Gesprächskultur fehlt: Vertrauen in das humanisierende Potenzial eines kommunikativen Handelns (Jürgen Habermas), das auf gleichberechtigter, vernunft- und regelbasierter Verständigung beruht, das kritisch wägenden Ausgleich anstrebt, auf keine Macht baut außer die per definitionem provisorische Macht des besseren Arguments.

Indes: Um das Gewicht einer Haltung, die das ständige Überprüfen des Eigenen im Dialog mit dem Anderen als conditio sine qua non für das (Über-)Leben der menschlichen Gattung begreift, scheint es schlecht zu stehen. Die Allgegenwart zerstörerischer Energien hat Thomas Assheuer kürzlich in einem in der Zeit erschienenen Essay über den Hang zur Hybris im technischen Zeitalter zusammengefasst. So konnte die nach dem Ende des Kalten Krieges verbreitete »Erzählung von einer Welt friedfertiger Demokratien« weder das Massaker von Srebrenica noch den Völkermord in Ruanda verhindern; auf die islamistischen Terroranschläge vom 9. September 2001 reagierten die Vereinigten Staaten, »Wiege der modernen Demokratie«, mit einem völkerrechtswidrigen Einmarsch in den Irak; in China wird unter Präsident Xi Jinping die digitale Überwachung der Bevölkerung perfektioniert, die uigurische Minderheit brutal unterdrückt, ohne dass westliche Firmen, selbst Kulturinstitutionen, ihre Präsenz im Land bislang spürbar eingeschränkt hätten; in den USA kam mit Donald Trump per Wahl ein Mann ins Weiße Haus, der aus seiner Verachtung für Grundwerte der liberalen Demokratie und pluralistischer Gesellschaften kein Hehl macht – und mit Unterstützung libertärer Hightech-Milliardäre wie Peter Thiel oder Elon Musk durchaus Chancen auf eine zweite Amtszeit hat.

»Wahn der Eroberung« – das ist kein Gespenst der Vergangenheit, leider. Putins totalitär-expansive Obsession, der grausame Feldzug gegen die Ukraine im Namen einer allrussischen Erlösungsmission liefert nur das jüngste Beispiel der tödlichen Bedrohung, die von chauvinistischen Heilslehren, der Unterwerfung von allen und jedem unter einen ideologisch vernagelten Missionsterror ausgeht. In seinem bereits 1920, kurz nach der Oktoberrevolution, abgeschlossenen Roman Wir hat der russische Schriftsteller Jewgeni Samjatin die Dystopie einer jede individuelle Besonderheit auslöschenden Diktatur beklemmend beschrieben, die stalinistische Zukunft der Sowjetunion vorausgesehen. Die Komponistin Sarah Nemtsov arbeitet derzeit an einem Musiktheater über den dunklen Stoff. Im März 2024 soll das Werk an der Oper Dortmund uraufgeführt werden, zwei Monate später neben Agnes Holmès’ Vierakter La Montagne noire (1895), einer echten Ausgrabung, und der Rheingold-Premiere im Zentrum einer weiteren Ausgabe der Wagner-Kosmen stehen. Das Thema: Ideologie. ¶

schreibt seit den frühen 1990ern über Musik und anverwandte Themen. Als Schüler schlug er sich mit Latein und Altgriechisch herum, sonntags saß er auf der Orgelbank. Seine arg limitierten Tastenkünste mutet er heute nur noch sich selber zu. Drei Jahre lebte er in den USA, zwei Jahre in England. An der Freien Universität Berlin und State University of New York at Buffalo studierte er Germanistik, Anglistik, Amerikanistik und Philosophie. Von 1993 bis 2004 war er der für Musik, Medien und Kunst...