Eigentlich ziemlich traurig: Da schreibt ein legendärer Intendant in seinen sehr aktuell bei von Bockel erschienenen Memoiren, seine Intendanz-Zeit am Konzerthaus Berlin werde komplett verdrängt und – ganz offensichtlich von der (noch) aktuellen Intendanz – absichtlich totgeschwiegen: »Niemals habe ich daran gedacht, irgendwelche Erinnerungen an das eigene Leben aufzuschreiben. […] ein Motiv kam hinzu, nachdem ich immer deutlicher feststellen musste, dass in den Verlautbarungen des Konzerthauses nichts unversucht blieb, die 18 Jahre der künstlerischen und administrativen Arbeit der Musiker und Mitarbeiter unter meiner Leitung gleichsam ungeschehen und vergessen zu machen.« 

In seiner Zeit der Intendanz machte Frank Schneider das Konzerthaus zu einem Ort der Spannung, der Provokation, der Moderne, der Neuen Musik, der Innovation. Das Konzerthaus Berlin (die einstige »Philharmonie des Ostens«) unterschied sich programmatisch maximal von der fußläufig erreichbaren Philharmonie, 2006 holte Schneider Lothar Zagrosek als Chefdirigent des Konzerthausorchesters von Stuttgart nach Berlin. Zagrosek präsentierte mit dem Orchester bald Ur- und Erstaufführungen, darunter wahre Wiederentdeckungsschätze, die sonst nirgendwo erklangen. Heute werden weder hier (Konzerthaus) noch dort (Philharmonie) aufregende Programme angeboten. Die zahlreichen Kammeropern im Werner-Otto-Saal des Konzerthauses, eine damals für die Freie Szene wichtige und international hochgelobte Experimentier- und Wiederentdeckungsstätte (in der Sängerinnen wie Anna Prohaska und Gloria Rehm ihre ersten größeren Auftritte hatten): inzwischen längst wegrationalisiert.

Ich treffe Frank Schneider am südöstlichen Ende Berlins, in Grünau. Nicht nur sein Buch, in dem Schneider teils intimste Einblicke in die »Szene«, in seine Seele und sein Privatleben gewährt, ist dabei Anlass des Treffens, sondern auch sein vergangener 80. Geburtstag am 13. Oktober.

VAN:  Haben Sie Ihren 80. Geburtstag wild gefeiert?

Frank Schneider: Nee. Also ein ganz kleines bisschen. Meine Söhne haben’s vergessen. Damit beginnt das! [lacht] Da mussten ihre beiden Frauen sie dran erinnern. Einen Tag später haben sie dann doch mal angerufen. Wir hatten zwei Freundinnen da. Mit denen sind wir dann abends lustig essen gegangen. Zum Chinesen. Das war eigentlich alles. Aber ich habe jede Menge Telefonate geführt. Und E-Mails bekommen. Das war auch ganz befriedigend, was für Leute sich daran erinnert haben, dass man 80 wird.

Gab es unter den Gratulantinnen und Gratulanten auch welche, die sich lange nicht gemeldet hatten?

Ja! Zum Beispiel ein bekannter Oboist aus früheren Zeiten. In meinem Buch steht ja aber auch nun drin, wann ich Geburtstag habe … [lacht]

Auf Ihrer Wikipedia-Seite steht nur ›geboren 1942 in Großerkmannsdorf, Landkreis Dresden‹.

Was? Das ist ja ein Mangel … Zum 70. Geburtstag habe ich übrigens noch ein offizielles Schreiben von der Kulturverwaltung bekommen. Aber jetzt nicht mehr. Eine Zeit lang wurde ich auch noch zu den sogenannten Hoffesten des Regierenden Bürgermeisters eingeladen. Das ist immer im Sommer. Ist auch weg. Irgendwann räumen die dann auf.

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Man liest über Sie, Sie hätten ab 1961 – also ab dem 19. Lebensjahr – zunächst Dirigieren in Dresden studiert. Aber Dirigent sind Sie nicht geworden, wegen eines Augenleidens. Heute kann man auch mit Seheinschränkung Dirigent werden. Aber das war damals noch nicht die Zeit. War das hart für Sie? 

Ich wollte Dirigent werden. Insofern war das der größte Bruch in meinem Leben. Das Ganze wurde ja witzigerweise erst im vierten Studienjahr manifest. Vorher war Chordirigieren, Arbeit an zwei Flügeln – mit dem alten Dirigierlehrer Ernst Hintze – angesagt. Aber diesen einen, plötzlichen Tag werde ich nie vergessen. Als wir das erste Mal vor das Hochschulorchester gelassen wurden. Ich weiß nicht, es war wohl eine Schubert-Symphonie … Ich bemerkte, dass ich die hinteren Bläser nicht mehr sehe. Ich habe einen Nystagmus, das ist ein Pupillenwackeln, der bei einem Fehler bei der Geburt entstanden ist. Das ist mit Brillen nur bedingt korrigierbar. Bis dahin hatte ich die Brille eigentlich immer nur getragen, damit man nicht so gut sieht, dass meine Augen wackeln. Aber ich habe mit Brille auch nur die halbe Sehkraft. Und außerdem konnte ich die Noten jetzt nicht mehr lesen. Da bin ich zu meinem Augenarzt gegangen, habe ihm das erzählt – und er sagte: ›Da brechen Sie Ihr Dirigierstudium besser mal ab.‹ Es gibt Beispiele … Arturo Toscanini war am Ende auch fast blind. Aber wenn Sie nicht in der Lage sind, einen kranken Chefdirigenten am Abend spontan zu ersetzen, wozu Sie schnell die Partitur einstudieren müssen, dann machen Sie nur sehr bedingt Karriere. Und ich wollte nun auch nicht als fünfter Korrepetitor ›irgendwo‹ landen.

Wie ging es dann weiter?

In der DDR gab es ja wenig Bücher. Aber es gab [deutet auf eine Ecke seiner Bücherregale, die das halbe Haus ausfüllen] – da stehen sie noch – diese dicken Mozart-Bände von Hermann Abert. Die habe ich gekauft, weil mich Mozart interessierte. Ich habe damals auch ein wenig selbst komponiert. Naja, im klassischen Stil. Was man eben als klavierspielender Student so draufhatte. Habe es dann aber sein lassen. Die Mozart-Bände habe ich aber verschlungen. Heute ist Mozart für mich musikgeschichtlich gesehen das größte Rätsel. Beethoven ist durchschaubar … Mozart musste, um das Pensum zu schaffen, täglich acht Partiturseiten komponieren! Das ist ungeheuerlich. Ich kam dann durch eine Freundin an die Humboldt-Universität zu dem Musikwissenschaftler Georg Knepler, um bei ihm zu studieren …

Wie kam es dann zum Interesse für Neue Musik?

Durch die Bekanntschaft mit dem Komponisten Friedrich Goldmann. In der Klavier- und Dirigierausbildung machte man ja damals nur Klassik und Romantik. Obwohl mein ›Ur-Erlebnis›‹ als Kind – zusammen mit der sehr kulturbewussten Bürgermeisterin meines Heimatdorfes – eine Aufführung von Paul Dessaus Oper Die Verurteilung des Lukullus an den Landesbühnen Sachsen, in Radebeul war. Das Stück hatte man an der Staatsoper Berlin abgesetzt, weil es der SED ein Dorn im Auge war. Was in Berlin nicht ging, ging teilweise aber in den Provinzen!

Das ist ja auch ein tolles Einstiegsstück in die Neue Musik!

Genau. Na, jedenfalls versickerte das Interesse für Neue Musik bei mir dann erstmal … Und dann kam dieses feucht-fröhliche Studentenleben in Berlin. Mit vielen Kneipenbesuchen und Besäufnissen. Goldmann – er hat mich übrigens zum Zigarettendrehen und Rauchen überredet – und ich haben natürlich immer miteinander diskutiert. Über die Fragen heutigen Komponierens. Da habe ich Blut geleckt. Ich habe dann wirklich gedacht, dass man von den modernen Komponisten – von den lebenden! – mal gewisse Wahrheiten erfährt. Da wird ja so viel Geschwätz drum’ gemacht. 

Ich war dann ab 1975 Dramaturg an der Komischen Oper Berlin und habe da versucht, die Psyche von Komponisten zu entschlüsseln. Eben die von Mozart zum Beispiel. ›Was hat der gedacht?‹ Der damalige Chef der Komischen Oper – Walter Felsenstein – war ein Meister darin, diese Fragen zu stellen. Und ich habe das immer nicht geglaubt. Ich sage: Der Mozart musste so intensiv schreiben – diese Opern alleine! Der hatte doch keine Zeit, sich Gedanken zu machen! Um die psychischen Konstellationen der Figuren und so weiter … Vielleicht doch! Keiner weiß das. Deswegen ist die Musikwissenschaft auch für mich nicht unbedingt eine Wissenschaft. Für mich ist das die Methode, über Musik zu reden, über die man viel weiß – um die Zusammenhänge plausibel darstellen zu können. Die Philologie ausgenommen … Nun, meine Enttäuschung setzte dann ein, weil ich merkte, dass die lebenden Komponisten eigentlich ungern überhaupt über Musik sprachen.

Sie meinen: über ihre eigenen Werke?

Richtig. Friedrich Goldmann zum Beispiel hat mir nichts über seine Musik erzählt. Nur gelegentlich, wenn er irgendetwas in der Partitur korrigierte. Das verblieb aber eigentlich immer im rein technischen Bereich.

Das ist ja auch ein sehr fragiler Bereich. Ein Künstler schafft aktuell etwas: Das will er schützen. Das trägt er mit sich herum. Häufig droht im Grunde alles zu scheitern … Vor allem, wenn der Prozess der Arbeit noch nicht fertig ist. Das hat mit Ängsten zu tun …

Aber es gibt noch etwas anderes! Es gibt die Angst bei Komponisten, festgelegt zu werden. Ein Musikwissenschaftler, der nur das Material des Wortes hat, legte in gewisser Weise ja eine Interpretation fest. Wenn er es überhaupt so weit bringt. Es gibt ja viele, die das ablehnen. Aber, wenn man sich mal bemüht, einen geistigen Bereich anhand von Musik zu konstruieren, tendieren Sie ja zu einer »Vereindeutigung« dessen, was Sie für den »Gehalt der Musik« halten. Da habe ich bei allen Komponisten Vorbehalte gespürt. Die wollten nicht, dass man eindeutige Aussagen über deren Musik trifft. Die fanden, dass das einengt, dass der Spielraum des subjektiven Umgangs mit der Tonkunst dadurch geschmälert würde. Und außerdem war da noch das politische Moment in der DDR manifest, dass die Komponisten glaubten, wenn man die Musik jeweils politisch interpretiert, dass es ihnen schaden könnte. Letztlich war deswegen mein Interesse, mich mit lebenden Komponisten zu beschäftigen, nicht zu meinem Vorteil.

Frank Schneider über den Musikgeschmack der Massen

Sie haben dann drei Jahre beim DDR-Komponistenverband gearbeitet. Wie stand es denn aus Ihrer Sicht um das ›utopische Komponieren‹ in der DDR, um ›Politik in der Musik‹?

Es gab diese Versammlungen des Komponistenverbands. Da kamen sie auch alle an. Witzigerweise lebten irgendwann alle in Berlin. Auch die vielen aus Sachsen Stammenden. Der Rundfunk war halt in Berlin angesiedelt. In Berlin wurden die Dinge gerichtet. Die ganze Sache verebbte aber irgendwie ins Nichts. Der damalige Quasi-Cheftheoretiker und Bewahrer des – ja nicht ganz falschen – Sozialistischen Realismus war Heinz Alfred Brockhaus; und der hörte Ende der 1970er Jahre auf. Da war gewissermaßen die ästhetische Wiedervereinigung zwischen DDR und BRD schon abgeschlossen; lange vor der politischen Wiedervereinigung. Die Aufträge kamen an; die Komponistengruppen konnten zu den Festivals reisen. Die Neue Musik der 1980er Jahre in der DDR ist selbst dann für professionelle Ohren kaum unterscheidbar von der im Westen.

Wie stand es denn um Schostakowitsch? 

Ich selbst hatte keinen persönlichen Kontakt zu ihm. Meine Frau, die damals Chefsekretärin des Komponistenverbandes war, hat ihn bei einem Besuch in Berlin kennengelernt. Ich selbst war bei der Aufführung seiner Oper Die Nase gerade nicht in der Hauptstadt! Aber Kurt Sanderling, der ja auch einen ganz engen Kontakt zu Schostakowitsch pflegte, erzählte mir mal was … Er hatte die 15. Symphonie von Schostakowitsch mit dem Berliner Sinfonieorchester auf Platte aufgenommen. Und der besagte Herr Brockhaus, der als der Schostakowitsch-Kenner par excellence galt, sollte den Text zu dieser Platte schreiben. Es sollte dann eine zweite Auflage hergestellt werden, aber Sanderling versuchte alles, diesen Text für die Neuauflage zu verhindern. ›Das ist alles Unsinn, was Brockhaus über Schostakowitsch schreibt!‹ Da ist dann Hansjürgen Schaefer – der damalige Chefredakteur der Zeitschrift Musik und Gesellschaft – auf mich zugekommen, ob nicht ich den Text schreiben wolle. Also bin ich zu Kurt Sanderling gegangen und wollte von ihm wissen, was er denn über Schostakowitschs Fünfzehnte denken würde. Und in diesem Gespräch – das mehrere Stunden dauerte – hat er mir eigentlich alles erzählt, was er erlebt hat; wie Schostakowitsch ihn gerettet hat. 1948 sollte aus Leningrad eine bestimmte Anzahl von Juden ›entfernt‹ werden. Schostakowitsch setzte sich für Sanderling ein, so dass er von dieser Liste gestrichen wurde. Sanderling hatte aber ein schlechtes Gewissen, weil er daran dachte, wer denn statt seiner neu auf die Liste gesetzt worden war … Das sind Dinge, die er tief mit sich ausmachte. Auf meine Frage, ob er das denn nicht einmal aufschreiben möchte, sagte er nur, nein, das wolle er nicht. Immerhin habe ihm ja die Sowjetunion damals das Leben gerettet, als diese ihn als Juden – auf der Flucht vor den Nazis – aufgenommen hatte.

2006 haben Sie es geschafft, Lothar Zagrosek von der Staatsoper Stuttgart nach Berlin zu bringen. Im Gespräch mit den Musikerinnen und Musikern des Konzerthausorchesters meinten Einzelne, Zagrosek habe als Dirigent keine ›Eins‹. Wie sehen Sie das?

Zagrosek habe ich aus programmatischen Gründen geholt! Er ist ein toller dirigentischer Arrangeur für komplizierte Partituren. Was nicht ging, war die Traditionslinie. Mit Beethoven und Co. konnte er nicht so viel anfangen.

Hätten das nicht andere machen können?

Für das Orchester war doch der Anteil der Neuen Musik, den ich durchzusetzen versuchte, ein Verbrechen! Die hatten ja teilweise noch in der DDR studiert. Man konnte ihnen das kaum vorwerfen. Sie liebten halt ihre Klassik! Auch auf chauvinistische Weise. Wenn mal ein Dvořák angesetzt war, hieß es: ›Wieso Dvořák? Wir haben doch Brahms!‹ Die deutsche Musik! So sind deutsche Orchester. Und damit sind sie auch angetreten. Man muss ja als Intendant bei jedem Konzert hinten an der Treppe am Dirigentenausgang warten – und gratulieren. Mir ist dann am Ende nur immer wieder der blöde Satz eingefallen: ›Ich gratuliere! Sie waren heute wieder auf Ihrem üblichen Niveau!‹ Die meisten haben das gar nicht gemerkt … Sie können halt direkt nach einem Konzert keine Kritik übermitteln.

Ich habe nie verstanden, warum sich der 2014 verstorbene Chef der Donaueschinger Musiktage – Armin Köhler – in Donaueschingen nie für DDR-Komponisten eingesetzt hat; im Gegenteil. Dabei war er selbst Sachse – und hatte als Posaunist in Leipzig im Orchester gespielt. Wissen Sie, warum?

Er hat es vielleicht nicht durchsetzen können. Es gibt ja auch diese vielen Gremien … Ich meine, einem anderen Kollegen hat er mal gesagt, dass er da Schwierigkeiten gehabt habe. Für viele war diese Kunst halt scheiße, weil für sie der Sozialismus scheiße war. Die Delegitimierung der DDR als Ganzes … Nach der Wende wurden dann die ganzen Komponisten aus den Verlagen gestrichen, beim Peters-Verlag zum Beispiel. Die mussten sich dann in kleinen Verlagen verdingen. Ich weiß noch, wie mir mal 50 Partituren von DDR-Komponisten geschenkt wurden. Die wollten das loswerden!

1975 sind Sie als Dramaturg an die Komische Oper gekommen. Zuvor hatten Sie über DDR-Streichquartettwerke promoviert, also über ›absolute Musik‹. Hatten Sie überhaupt Bock auf Oper?

Nee! [lacht] Ich kann mit Opern eigentlich wenig anfangen … Doch! Ich kann damit etwas anfangen, wenn man die fundamentale Naivität der Gattung mit in Rechnung stellt. All die Anstrengungen des Regietheaters finde ich überwiegend blödsinnig …

Im Sprechtheater lassen sich halt viel schneller die aktuellen Themen unserer Zeit verhandeln. Ein neues Sprechtheaterstück schreibt sich in einigen Stunden. Eine neue Oper braucht Monate oder Jahre bis zur Uraufführung. Und stelle ich mir vor, dass Opern nur noch mit historischen Masken und Gewändern aufgeführt werden, wird mir ganz anders. Da kann ich mir dann auch gleich Leni-Riefenstahl-Filme reinziehen …

Ja, klar! Da ist eine tiefe Aporie in der Gattung! Irgendwie geht das nicht. Im Zuge meiner Streichquartett-Dissertation kam jedenfalls nach Abschluss des Ganzen die Partei auf mich zu. Während man wusste, dass viele ehemalige Nazis sich im Westen in Verwaltung und Politik nach dem Krieg einnisten konnten, fiel das in der DDR erst einmal hinten runter; bis man entdeckte, dass es an vielen Stellen ebenfalls einstige Nazis gab, die auf wichtigen Stellen saßen.

Im Zuge dessen versuchte man dann, vor allem Jüngere in die Arme der SED zu treiben. So kam also der Parteisekretär auf mich zu und sagte: ›Hat doch keinen Sinn. Du kannst nur mit uns die Dinge verändern! Willst du der ewige Assistent bleiben?‹ Meine Frau sagte: ›Wenn du in die Partei eintrittst: Scheidung!‹ Dann bin ich zu meinem ehemaligen Lehrer Georg Knepler gegangen und habe ihn um Rat gefragt. Er wohnte nicht so weit von hier entfernt. Wir sind abends ins Restaurant gegangen und ich habe ihn gefragt, was ich machen soll – und er hat nicht drauf geantwortet! Die Nacht kam herein. Ich sagte: ›Herr Professor, Sie sind mir eigentlich eine Antwort schuldig geblieben! Was soll ich machen?‹ In seinem Wienerisch sagte er dann zu mir: ›Ja, so jemand wie Sie gehört natürlich eigentlich zu uns. Aber ich rate es Ihnen nicht!‹ Das war für mich die Befreiung. Ich bin am nächsten Tag zum Parteibüro, habe das Anmeldeformular zurückgegeben und gesagt, ich könne einfach nicht, ich sei noch nicht reif dafür. Damit war klar, dass ich an der Humboldt-Universität als Musikwissenschaftler keine Perspektive haben würde. Also bin ich einfach mal die Straße rüber gegangen … Ich kannte von früher noch eine Kollegin, die damals Regieassistentin an der Komischen Oper war. Ich ging also in die erste Etage. Unter den Linden. Die Komische Oper hieß damals ›der vierte deutsche Staat‹, weil es dort Verhältnisse gab, die sonst nirgendwo herrschten. Ich fragte also im Sekretariat: ›Gibt es die Möglichkeit, einmal den Herrn Felsenstein zu sprechen?‹ Fünf Minuten später saß ich vor ihm. Wir haben ein langes Gespräch geführt. Und es war menschlich unglaublich. Er sagte: ›Wissen Sie, die DDR kann mir ja nichts! Wir haben 800 Mitarbeiter, davon sind 37 Genossen. Und die sind in der Technik – und tragen das Parteiabzeichen unter dem Revers.‹ Ich sagte dann: ›Ich versteh’ aber nichts von Theater.‹ Felsenstein antwortete: ›Dafür bin ich ja da! Machen Sie mal die Neue Musik!‹ Ich habe dann die Orchesterprogramme mit Neuer Musik befüllt. Was haben wir nicht alles uraufgeführt! Das war schon befriedigend! Und zur Oper bin ich dann doch mal gekommen, obwohl ich erst einmal nur Orchester gemacht habe. Ich wollte aber auch eigentlich immer noch weiter musikwissenschaftliche Sachen schreiben. Ab 1980 war ich dann Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Ästhetik und Kunstwissenschaften an der Akademie der Wissenschaften der DDR – und eben von 1992 bis 2009 Konzerthaus-Intendant. Und das Schreiben lässt mich nicht los. Bis heute nicht. Haben Sie eigentlich schon mein neues Buch? ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.