Am 30. Oktober entscheiden die brasilianischen Wählerinnen und Wähler in einer Stichwahl, ob der rechtspopulistische Präsident Jair Bolsonaro im Amt bleibt oder ob sein Herausforderer, Luiz Inácio Lula da Silva von der linken Arbeiterpartei, zum zweiten Mal nach 2003 Präsident wird. Lula liegt laut der jüngsten Umfrage mit 49 Prozent der Wählerstimmen vier Prozentpunkte vor Bolsonaro. Trotzdem treibt insbesondere viele Künstler:innen wie den in Rio de Janeiro wohnenden Sänger und Songwriter Edu Krieger die Angst vor einem knappen Wahlausgang um und der Möglichkeit, dass Bolsonaro weitere vier Jahre im Amt bleibt.

Weltweites Aufsehen erregte Krieger 2014, als er einen einsamen Protest in Form des Liedes Desculpe, Neymar schuf, einer mit Gesang und Gitarre aufgenommenen, serenadenhaften Samba, in der er die Austragung der Weltmeisterschaft in Brasilien und die berüchtigten ›Fifa-Standards‹ kritisierte. Der Song wurde auf mehreren YouTube-Kanälen nachgespielt und zu einer Art Anti-Cup-Hymne. Seine Parodien, in denen er seit 2018 die Politik Bolsonaros und dessen Regierung seziert, gehen in den Sozialen Netzwerken regelmäßig viral und erreichen eine große Öffentlichkeit. Mit seiner Frau, der Sängerin und Kulturproduzentin Natalia Voss, die die Videos filmt und schneidet, lässt Edu keinen der zahlreichen Ausrutscher und Skandale Bolsonaros aus. Normalerweise verwendet er für seine Parodien Lieder brasilianischer Komponisten, kürzlich jedoch auch Yesterday von den Beatles, als ironischen Kommentar auf die Reise Bolsonaros zur Beerdigung von Queen Elizabeth nach London.

VAN: In den letzten vier Jahren wurden unter der Regierung Bolsonaro das Kultur- und das Bildungsministerium aufgelöst. Bücher wurden zensiert, Universitätsprofessoren mussten das Land verlassen. Wurdest du wegen deiner Parodien bedroht?  

Edu Krieger: Ich habe mehrere Drohbotschaften verschiedener Art erhalten, einige verschleiert, andere explizit. Je nach Schwere der Bedrohung drucke ich sie aus und stelle sie ins Netz, auch wenn ich sie später wieder entferne, aber ich zeige, wer gedroht hat, und das schüchtert diese Leute ein. Manchmal haben sie sich sogar bei mir gemeldet, um sich zu erklären oder zu entschuldigen. Deshalb halte ich es immer für wichtig, aufzudecken, wer eine Bedrohung darstellt.  

Wie hast du als Musiker die Kulturpolitik der Regierung Bolsonaro erlebt? 

Ich arbeite für eine private Rundfunkanstalt, weshalb ich bei der Ausübung meines Berufs nicht direkt von der Kulturpolitik dieser Regierung abhängig bin. Offensichtlich gab es große Rückschritte, dies betrifft ganz allgemein die schrumpfenden Mittel für den Kultursektor und insbesondere die Benachteiligung regierungskritischer Künstlerinnen und Künstler bei öffentlichen Ausschreibungen und die Bevorzugung von Bolsonaristas. Die Abschaffung des Kultusministeriums war an sich schon ein großer Rückschlag. Und die Leute, die im stattdessen eingerichteten Kultursekretariat die Verantwortung getragen haben, waren immer sehr schlecht vorbereitet und haben sich mehr für die Demontage als für die Förderung der Kultur eingesetzt, was alle Kulturschaffenden stark beeinträchtigt hat.

Parodie als Widerstand, unter Verwendung von Liedern brasilianischer Künstlerinnen und Künstler – wie wurde das von deinen Kolleginnen und Kollegen aufgenommen?

Ich versuche, darauf zu achten, für meine Parodien nur Lieder von Künstlerinnen und Künstlern zu verwenden, die politisch mit den von mir vertretenen Anliegen übereinstimmen. Das stößt bei ihnen immer auf große Resonanz, sie teilen, leiten die Videos weiter … Ich verwende Lieder von Künstlerinnen und Künstlern, die politisch von mir abweichen, nur dann, wenn sie im Mittelpunkt des aktuellen Themas stehen. Ich habe zum Beispiel schon eine Parodie auf ein Lied von Gusttavo Lima gemacht, weil diesem aus öffentlichen Haushalten überteuerte Honorare für seine Shows bezahlt wurden. [Lima unterstützt Bolsonaro öffentlich und ist vor drei Tagen mit ihm bei einer digitalen Wahlkampfveranstaltung aufgetreten.] 

Du veröffentlichst oft mehrere Parodien pro Woche. Wie gehst du bei der Entwicklung vor und wie läuft die Zusammenarbeit mit Natalia? 

Der kreative Prozess ist immer flüssiger geworden. Ich habe in den letzten Jahren eine gewisse Übung im Parodieren bekommen. Im Grunde besteht die Arbeit darin, die Nachrichten im Auge zu behalten. Sobald ein relevantes Thema von nationalem Interesse auftaucht, das in den sozialen Netzwerken diskutiert wird, krame ich in meinem Gedächtnis nach einem Lied, das als Grundlage für die Parodie dienen könnte.

Und Natalia ist immer mein erstes Publikum. Sie ist diejenige, die zuerst zuhört, Änderungen vorschlägt oder Dinge, die ich noch einbeziehen sollte. Ihr Blick ist bei dieser Arbeit sehr wichtig.

Wie bist auf die Idee zu den Parodien gekommen?

Die Idee entstand, als ich 2016 eingeladen wurde, für TV Globo als Drehbuchautor für die Comedy- und Unterhaltungsprogramme des Senders zu arbeiten und dort auch musikalische Formate zu entwickeln. Die Parodie war ein sehr präsentes Element. Am Ende war ich von dieser Sprache verzaubert, übte und entwickelte mich immer mehr.

Gesetzt den Fall, Lula gewinnt am Sonntag die Stichwahl und wird erneut Präsident. Wie wird sich der Kulturbereich deiner Meinung nach ab dem ersten Januar entwickeln?

Ein Sieg Lulas wäre insofern von großer Bedeutung, als dass er einen wichtigen Wandel in der politischen Ausrichtung des Landes signalisieren würde. Aber nicht nur im kulturellen, sondern in allen Bereichen wird es für ihn beim Regieren viele Hindernisse geben,  denn wir haben einen sehr reaktionären Kongress gewählt, der sicherlich versuchen wird, Lulas Ziele als Präsident zu blockieren. Ich rechne mit einer zwar weniger düsteren, aber immer noch sehr schwierigen Zukunft für den Aufbau einer zufriedenstellenden Kulturpolitik für Brasilien. ¶

… ist Journalistin und Schriftstellerin aus Rio de Janeiro. Zurzeit arbeitet sie als Redakteurin bei der Deutschen Welle und promoviert im Fachbereich InterAmerikanische Studien an der Universität Bielefeld.