1891 ergab ein Zensus: 1.685.614 Waliserinnen und Waliser (54,4 Prozent) sprechen auch tatsächlich Walisisch. Im selben Jahr kam es in der walisischen Hauptstadt Cardiff zur Erstausgabe des Magazins »Cymru« des Historikers und Autors Owen Morgan Edwards (1858–1920). Und am 1. Oktober 1891 erblickte im südöstlich gelegenen Städtchen Treforest Morfydd Owen das Licht der Welt. Ihre Werke sind hierzulande kaum präsent. Abermals ist es die in Leipzig lebende Pianistin Kyra Steckeweh, die Owens Werke in diverse Klavierabende (teilweise mit Lesung) einbaut.

Morfydd Owens Eltern beschäftigten sich hauptberuflich mit Vorhängen – allerdings nur als Verkäuferinnen und Verkäufer von solchen aus Stoff für den Heimgebrauch; nicht im theatralen Sinne. Beide Elternteile waren aber begeisterte Hobby-Musizierende und steckten Tochter Morfydd mit dieser Begeisterung an. Schon als Teenager trat Morfydd Owen als Klaviersolistin mit Griegs Klavierkonzert auf. Im Gegensatz zu vielen anderen Musikerinnen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts geschah die Hinwendung zur Komposition nicht aufgrund von gesundheitlichen Problemen oder familiärem Einfluss. Owen legte bereits mit 16 Jahren ihre erste Komposition vor. Ganz bewusst, nicht als »Ausweg«. Sie studierte Komposition am University College in Cardiff. Einem Wechsel an die Royal Academy of Music in London widersetzten sich ihre Eltern erst. Bis 1916 konnte Owen aber schließlich dennoch hier studieren: die Fächer Komposition, Klavier und Gesang. Ihr Kompositionsprofessor war Frederick Corder (1852–1932), bei dem auch Eric Coates (1886–1957) Studien betrieben hatte.

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In London verbrachte Owen viel Zeit in der Presbyterianischen Community, in der man viele Waliserinnen und Waliser antraf. Ihr Geld verdiente sie unter anderem mit der Sammlung und dem Arrangement von walisischen Volksliedern. Doch bewegte sich die Musikerin immer wieder aus den »walisischen Zirkeln« Londons heraus und pflegte Kontakt mit den großen Schriftstellern D. H. Lawrence (1885–1930) und Ezra Pound (1885–1972). Owens Gesangsstimme entwickelte sich derweil prächtig und so sang sie ihre eigens arrangierten Volkslieder immer wieder höchstpersönlich im Konzert.

1916 lernte Morfydd Owen den bekannten Psychoanalytiker und Freud-Biographen Ernest Jones (1879–1958) kennen. Beide heirateten im Februar 1917: ein Schock für den Kreis um Owen – insbesondere für ihre Eltern, galt Jones doch als bekennender Atheist. Bei einem Urlaub im Süden Wales im Sommer 1918 bekam Morfydd Owen eine akute Blinddarmentzündung. Eine Not-Operation konnte nicht verhindern, dass sie am 7. September 1918 im Alter von nur 26 Jahren starb.


Morfydd Owen (1891–1918)
Four Welsh Impressions für Klavier (1914)

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In der kurzen Lebensspanne Morfydd Owens entstand eine doch recht erstaunlich hohe Anzahl von Werken, darunter 15 Werke in Orchesterbesetzung, vier Chorwerke, drei Kammermusikstücke, die besagten Volkslied-Arrangements- und Transkriptionen sowie viele weitere Lieder. Nicht ganz zehn Klavier-Solo-Werke sind außerdem überliefert. Die Four Welsh Impressions stammen aus dem geschichtsträchtigen Jahr 1914.

Die erste »Impression« ist dem walisischen – von kleinen, wilden Flüssen und grünen Hügeln umgebenen – Dorf Llanbrynmair gewidmet. Wie in einem kindlichen Debussy-Stück (beispielsweise La fille aux cheveux de lin, aus den Préludes, Band I, 1910–1914) ertönt zunächst ein einstimmiges »Motto«. Ganz einsam und schön. Leicht kreisend, hier triolisch angereichert. Dann kommt es, wie eben beispielsweise bei Debussy, zu dem erhabenen Moment der akkordischen Einbettung. Lange werden nur leitereigene Töne – bald in Form von Akkord-Schwingungen, die den »Eindruck der Flusslandschaft« dezent verstärken – verwendet. Tatsächlich erscheinen die dynamischen Höhepunkte bei Owen wie in so manchem Debussy-Prélude nicht als ein streng mitteleuropäisches »Bedeutungsbeben«, sondern als »Bilder«, die nur stärker in den Kamerazoom genommen werden. Am Ende wird es bei Owen erneut einstimmig; eine Oktave höher. Nach zwei Takten gerät die einsame Schäfermelodie wieder in eine sanft-hymnische Quasi-Choralmehrstimmigkeit hinein. »Volksliedliebe auf dem Klavier« à la Grieg (mit dessen Musik Morfydd Owen schließlich früh in Berührung kam), ein bisschen Debussy – und dazu die naturverbundene Gelassenheit einer walisischen Künstlerin. Ein guter, schöner Mix.

Teil II (Glantaf) ist ähnlich wie das erste Stück strukturiert; doch schmerzvoller, zerknirschter. (Der Gang in die presbyterianische Kapelle?) Nant-y-ffrith bezieht sich vom Titel her auf einen weiter im walisischen Norden gelegenen Fluss und erscheint als das abwechslungsreichste Stück des ganzen Reigens. Plötzliche Ausbrüche, teils harmonisch überraschend leuchtend. In den Außenteilen fallende Linien herab; ein bisschen Kontrapunktik, leicht angeschrägte Akkorde im Diatonischen.

Die Überschrift des vierten und abschließenden Teils der Four Welsh Impressions Beti Bwt – spricht man »Beti Boat« aus. Dahinter steckt ein walisisches – natürlich vor den Zeiten der Erfindung der Waschmaschine entstandenes – Volkslied, das Missgeschicke von Wäscherinnen schildert. Lustig bröckeln Tonketten im Staccato von unten nach oben. Ein kleines Ritardando bringt Spannung vor dem Quasi-Walzer – in Erinnerung an Chopin. Ganz besonders schön auch der Mittelteil, in dem Owen mit der typischen Klavierkompositionstechnik des rhythmischen »Hinterherschiebens« spielt und aus dieser ikonischen Technik heraus warme, hymnische, ins Innere dringende Töne entwickelt. ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.