Anne Elizabeth Boyd kam am 10. April 1946 in Sydney zur Welt. Ihr Vater James starb, als Anne Boyd gerade drei Jahre alt war. Von ihrer Mutter Annie Freda Deason Boyd (geborene Osborn) wurde sie zu Verwandten aufs Land geschickt, ins nordwestaustralische Longreach (Queensland), auf eine Schaffarm. Die Ländlichkeit, die Einsamkeit der Gegend inspirierte offenbar bereits die achtjährige Anne Boyd zu frühen Klangexperimenten mit Blockflöte und Stimme. Ab ihrem elften Lebensjahr lebte Boyd wieder bei ihrer Mutter in Canberra.

Nach dem Abschluss der High School studierte Boyd Komposition an der Universität von Sydney. Ihr Hauptfachlehrer war der tasmanische Komponist Peter Sculthorpe (1929–2014), der – zeitweilig als Betreiber eines Sportfachgeschäftes in Tasmanien – unter anderem interessante, technoähnliche Musik à la Bartók komponierte. Über ihren Lehrer Sculthorpe sagte Anne Boyd in einem Interview einmal: »Ich will offen sein, Peter war […] alles für mich – Vater, Lehrer, ein Freund fürs Leben und ein Mentor, den ich sehr respektierte. Wir hätten beinahe geheiratet; verlobt hatten wir uns im Frühjahr 1973, aber unsere gegensätzlichen künstlerischen Naturen verhinderten, dass wir einen gemeinsamen Weg gingen und zogen uns in jeweils unterschiedliche Richtungen. Diese Zeit damals war verwirrend und herzzerbrechend – für beide Seiten.«

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Dank eines Commonwealth-Stipendiums konnte Anne Boyd ihre Studien in England an der Universität von York fortsetzen. Hier wurde sie vor allem durch den englischen Komponisten, Musikwissenschaftler und Egon-Wellesz-Schüler Wilfrid Mellers (1914–2008) sowie durch den US-amerikanischen Komponisten Bernard Rands (* 1934) – wie Peter Sculthorpe ein Protagonist aus dem Umfeld von John Cage – geprägt. Ihr Studium in York beendete Boyd 1977 als Doktorin (PhD) im Fach Komposition.

Nach ihrer Zeit in England zog es Anne Boyd 1977 zurück nach Australien. Dabei hatte Boyd sich in England als Komponistin besonders respektiert gefühlt: »Ich war nie eine Feministin. Wenn meine männlichen Kompositionskollegen einen Karriereerfolg erzielten, dann ging ich immer davon aus, dass dann eben ihre Musik besser sein müsse! Ich musste also härter arbeiten. Und genau das habe ich gemacht.«

1981 wurde Anne Boyd zur Mitgründerin des Musikbereichs an der Universität von Hongkong (damals noch unter der Flagge des Commonwealth). 1990 kehrte die gefragte Komponistin ein weiteres Mal in ihr Heimatland zurück. Schließlich erhielt sie an der Universität von Sydney eine Musik-Professur – als erste Frau überhaupt. An der Universität sah Boyd sich jedoch mit großen Konflikten um die wirtschaftlichen Strukturen des Department of Music konfrontiert. Der mit Preisen ausgezeichnete Dokumentarfilm Facing the Music aus dem Jahr 2001 widmete sich diesen Problemen Boyds und ihrer Kolleg:innen – ein ungewöhnlicher, mutiger Schritt an die Öffentlichkeit im Kampf um die institutionelle Ermöglichung musikalischer Wissensvermittlung, der schlussendlich jedoch erfolglos blieb. 2004 wurde das musikwissenschaftliche Institut der Universität Sydney mit dem des dortigen Konservatoriums fusioniert.

Anne Boyd lebt bis heute in Sydney.

Anne Boyd (* 1946)
As I Crossed a Bridge of Dreams für gemischten Chor (1975)

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Auch aufgrund ihrer prägenden Kindheitserfahrungen im ländlichen Raum Australiens interessiert sich Anne Boyd kompositorisch für die Musik der Aborigines und Maori, aber insbesondere auch von Indigenen aus dem »nahen« asiatischen Raum. Damit spinnen sie und andere in Australien – wie Jack Body (1944–2015) und Julian Yu (*1957) – eine allgemeine Exotismus-Faszination Europas fort.

Boyds Chorwerk As I Crossed a Bridge of Dreams aus dem Jahr 1975 ist die Liebe zu vier- oder fünftönigen Skalen und Tonvorräten ausdrücklich nicht im Sinne einer musiktheoretisch-trockenen Hörübung abzulauschen. Aus dem »Nichts« streuen sich erst einzelne Töne ein, die sehr bald von einem irisierenden Cluster umgeben werden. Einzelne Stimmen bleiben – in Korrespondenz mit anderen – wiederum übrig. Ganz langsame Farbwechsel geleiten von Choral-Erahnungen zu weiteren zwielichtigen Chor-Flächen.

Nach etwa zweieinhalb Minuten öffnet sich der Klang. Die Aufgabe stimmlicher Dichte hat einen großen Effekt, der durch baldige Glissandi noch verstärkt wird: Im Grunde ist das »typische« atmosphärische Chorflächen-Musik des 20. Jahrhunderts, wie man sie von Ligetis Lux Aeterna (1966) kennt, doch hier bei Boyd mit ganz eigenen Zutaten und voller Trance. ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.