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Dieses Mal waren es die Blumen, die Daniel Barenboim wütend machten, im Juli 2018, nach einem Gastspiel der Staatskapelle Berlin in Buenos Aires. Bis dahin war es Tradition, dass ihm ein Mitglied seines Orchesters während der letzten Verbeugungen einen Blumenstrauß überreicht. »Das sollte eigentlich eine herzliche Geste sein und unsere Verbundenheit ausdrücken«, erzählt ein Mitarbeiter. Aber Barenboim wollte den Blumenstrauß nicht. Er stieß die junge Geigerin vor den Augen des Publikums zur Seite. Sie ging wieder von der Bühne, noch immer mit den Blumen in der Hand, und brach in Tränen aus. Bald darauf gab das Orchester die Tradition auf.

In Musikerkreisen sind Barenboims Launen legendär. Er hat Wutanfälle bekommen, weil ein Bratscher die Augen verdrehte, weil ein Sänger sich zum falschen Zeitpunkt verbeugte, weil ein von ihm bevorzugter Stimmführer im Urlaub war. Er hat einen Musiker angeschnauzt, der sich wegen eines Trauerfalls in der Familie nicht so gut konzentrieren konnte wie sonst. Er hat einen Arzt beleidigt, der einen Musiker wegen einer Magen-Darm-Grippe für zu krank befand, um aufzutreten. Zwei Mitarbeiter berichten, dass Barenboim sie wütend gepackt und geschüttelt habe.

Daniel Barenboim ist Pianist und Dirigent, aber auch Diplomat, Unternehmer, Botschafter des Friedens und der Menschenrechte. Er ist ehemaliges Wunderkind, entdeckt vom legendären Wilhelm Furtwängler, Ensemblegründer, Karrieremacher, Musikdirektor in Paris, Chicago und an der Mailänder Scala. Er hat bis heute als Dirigent und Pianist mehr als 500 Platten aufgenommen. Er wurde mit dem Großen Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband der Bundesrepublik Deutschland, dem Ernst von Siemens Musikpreis, den Insignien eines Kommandeurs der französischen Ehrenlegion und dem Praemium Imperiale des japanischen Kaiserhauses ausgezeichnet. Er hat ein Plattenlabel gegründet und erreicht sein Publikum über einen YouTube-Kanal, eine Fernsehsendung und mehrere Bücher. In Berlin, wo er Generalmusikdirektor der Staatsoper und auf Lebenszeit Chefdirigent der Staatskapelle ist, hat er den Bau eines Musikkindergartens sowie der Barenboim-Said Akademie mitsamt dem von Frank Gehry entworfenen Pierre-Boulez-Saal initiiert. Mit seinem 1999 gegründeten West-Eastern Divan Orchestra spielte er vor dem Papst, der UN und in Ramallah. Daniel Barenboim ist eine überlebensgroße Erscheinung. Seine Biographie in den Programmheften der Berliner Staatsoper füllt vier ganze Seiten. Das Orchester selbst kommt mit zweien aus, die meisten Solisten mit einer.

Barenboims Leben und Leistungen nötigen Respekt ab und flößen Ehrfurcht ein. Sie haben ihn aber auch in eine Sphäre katapultiert, in der ihm kaum jemand auf Augenhöhe entgegentritt, in der es kein Korrektiv mehr gibt. An der Berliner Staatsoper ist Barenboim heute unersetzlich. »Er ist praktisch unantastbar, weil niemand auf ihn verzichten will«, sagt ein früherer Mitarbeiter. Es ist eine Position absoluter Macht, weil niemand da ist, der ihren Missbrauch sanktionieren würde: »Ich habe noch nie jemanden getroffen, der ohne Grund innerhalb von Millisekunden so wütend werden kann«, erzählt ein ehemaliger Angestellter der Daniel-Barenboim-Stiftung gegenüber VAN. »Er hat die Grenze mir gegenüber hunderte Male überschritten, mich unter der Gürtellinie persönlich beleidigt.« Auf Anfrage teilt Matthias Schulz, der Intendant der Staatsoper, VAN gegenüber mit: »Problematisches Verhalten durch Daniel Barenboim, der Höchstleistungen erbringt, ist uns zu keinem Zeitpunkt bekannt geworden.« In mehr als einem Dutzend Interviews mit aktuellen und ehemaligen Mitarbeitern von Barenboim entsteht hingegen das Bild einer Führungskraft, die inspirierend und großzügig, aber auch autoritär, launisch und beängstigend sein kann. Die Gespräche legen auch den Blick frei auf die Defekte eines Systems, das auf Gewaltenteilung und Kontrollmechanismen bereitwillig verzichtet.

Als Daniel Barenboim 1992 auf Initiative des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker nach Berlin kam, waren die Narben der Teilung omnipräsent, in der Morphologie der Stadt, im öffentlichen Haushalt, im Kulturleben. Berlin bot mit seinen Brachflächen, verlassenen Industriegebäuden und billigen Mieten ein riesengroßes, anarchisches Experimentierfeld für die Subkultur. Aber wenn sich die bürgerliche Kulturelite der Stadt mit anderen Hauptstädten, mit London, Paris oder New York verglich, dann fehlten das Kosmopolitische, die Leuchttürme, die Grandezza. Man empfand sich als provinziell. Es gab zwar drei Opernhäuser, aber keines von Weltruf. Die Lindenoper, das zu DDR-Zeiten runtergewirtschaftete Opernhaus Ost-Berlins, sollte daher zu einer »repräsentativen Hofoper« aufgebaut werden, so das Fazit eines Gutachtens unter Federführung des Theaterkritikers und Intendanten Ivan Nagel. Daniel Barenboim war kurz zuvor an der neuen Pariser Bastille-Oper gekündigt worden, bevor er überhaupt seine erste Vorstellung dirigiert hatte. Er sollte als Chefdirigent und künstlerischer Leiter die 250 Jahre alte Staatsoper Unter den Linden zu internationaler Größe zu führen.

»Er öffnet alle Türen, du kannst das Orchester überallhin verkaufen, solange er vorne steht«.

Die Bereitschaft war groß, ihm dafür trotz prekärer Haushaltslage weit entgegenzukommen. Als er in der Spielzeit 1992/93 die musikalische Leitung der Staatsoper übernahm, sicherte sich Barenboim eine Gehaltserhöhung von 300 Prozent gegenüber seinem Vorgänger, Beratungshonorare, Geld für die Einstellung neuer Musiker. Mit einem Gehalt von fast 1 Millionen DM für eine jährliche Anwesenheitspflicht von 4 Monaten wurde er zu einem von Berlins bestverdienendem Angestellten. In einem Brief vom September 1991 versprach der damalige Berliner Kultursenator Ulrich Roloff-Momin bei den Vorverhandlungen, Barenboim vor jeder »unlauteren Kritik« im Zusammenhang mit seiner ersten Spielzeit an der Staatsoper zu schützen.

Was den Klangkörper betrifft, hat Barenboim in den letzten 26 Jahren geliefert, was von ihm erwartet wurde. Unter seiner Leitung hat sich die Staatskapelle zu einem der renommiertesten Opern- und besten Konzertorchester der Welt entwickelt. Besonders nachdem sein Traum, Nachfolger Claudio Abbados bei den Berliner Philharmonikern zu werden, im Juni 1999 geplatzt war (er unterlag in der Stichwahl Simon Rattle), konzentrierte er seine Ambitionen auf die Staatskapelle und trieb deren internationalen Ruf als Konzertorchester voran, mit Residenzen in der Carnegie Hall, der Pariser Philharmonie oder der Tokioter Suntory Hall, auf Tourneen nach China oder Australien, durch Gesamtaufnahmen der Symphonien Beethovens, Schumanns oder Bruckners. »Das Haus und das Orchester verdanken ihm so unendlich viel. Er öffnet alle Türen, du kannst das Orchester überallhin verkaufen, solange er vorne steht«, erzählt eine ehemalige Mitarbeiterin der Direktion. »Das Wissen darum, was ohne ihn wäre, verbietet eigentlich jeglichen Gedanken daran, dass sich mal etwas ändern oder bewegen könnte.«

Auch in repräsentativer Hinsicht hat Barenboim die Rolle ausgefüllt, die für ihn vorgesehen war. Er ist zu jenem Kulturleuchtturm Berlins geworden, den man sich herbeigesehnt hatte. »Er ist der einzige Weltstar, den Berlin hat«, soll der ehemalige Bürgermeister Klaus Wowereit schon in den Nullerjahren gesagt haben.

An der Staatsoper ist Barenboims Meinung mittlerweile die einzige, die zählt. »Wenn jemand sich mit ihm anlegen würde, wäre er weg«, sagt ein ehemaliger Mitarbeiter des Managementteams. »Selbst ein Jürgen Flimm [von 2010 bis 2018 Intendant der Staatsoper] hat, weil er schlau ist, von vornherein gemerkt, dass er gegen ihn nicht ankommt. Erstmal sagt Barenboim, was er will. Und dann guckt man, was noch übrig bleibt an Entscheidungsmöglichkeiten hinsichtlich Programmgestaltung oder Besetzung.« »Die Macht eines Jürgen Flimm endete da, wo Barenboim irgendwas wollte«, so die frühere Mitarbeiterin der Direktion. »Nichts an der Staatsoper kann von Barenboim getrennt werden. Einen Weg gibt es nur, so lange Daniel Barenboim das lässt und will.« Ein Mitarbeiter erinnert sich, wie er öfter werktags bis 22 Uhr im Büro wartete und hoffte, für ein paar Minuten mit Barenboim zu sprechen, um mit ihm eine kleine Entscheidung zu klären.

»Erstmal sagt Barenboim, was er will. Und dann guckt man, was noch übrig bleibt.«

Barenboim entstammt einer Zeit, in der autoritäres Verhalten, Sprunghaftigkeit und Unberechenbarkeit quasi zum Anforderungsprofil eines Maestros gehörten. Die anfangs durchaus produktive Machtfülle, die ihm an der Staatsoper die Gestaltung des Neuanfangs erlaubte, hat sich über die Jahre zu einem System ausgeformt, in dem sich Rollendynamik, Persönlichkeits- und Abhängigkeitsstrukturen auf ungute Art und Weise gegenseitig verstärken. »Ich nenne es immer eine Atmosphäre der Angst«, meint ein aktueller Staatsopern-Mitarbeiter. Wie bei Patriarchen üblich bleibt Barenboim dabei in den Köpfen gegenwärtig, egal ob er physisch anwesend oder abwesend ist. »Man spürt immer sofort, wenn er im Haus ist, weil alle auf einmal angespannt sind«, erzählt eine Akademistin. Wenn er nicht da sei, lasse es das Orchester lockerer angehen, »als ob es zum Ausgleich durchatmen und mal entspannen müsse.« Mehrere voneinander unabhängige Quellen berichten, dass Barenboim nach Konzerten erwarte, dass die Mitarbeiter in sein Dirigentenzimmer kommen und die Aufführung loben. Wer das nicht tut, riskiere, in Ungnade zu fallen.

In mindestens einem Fall fand ein Treffen zwischen Staatsopern-Intendant Matthias Schulz, Barenboim und einem Mitarbeiter statt, in dem eine körperliche Aggression Barenboims thematisiert werden sollte. Schulz habe es abgelehnt, konkrete Maßnahmen zu ergreifen, sagt der Mitarbeiter. Die Personalabteilung der Staatsoper arbeitet ausgelagert im Gebäude der Stiftung Oper, unter deren Dach die drei öffentlichen Opernhäuser Berlins zusammengefasst sind. »Es gibt irgendwo am Wriezener Bahnhof eine Personalstelle, die siehst du nie, die schicken dir nur deine Lohnbescheide«, so ein ehemaliger Staatsopern-Angestellter. »Es ist niemand da, der sich wirklich Gedanken darüber macht, was Menschen in diesen Strukturen brauchen, wie du sie anders mitnehmen und wertschätzen könntest«.

Der Journalist Michael Shelden berichtet in seinem Barenboim-Porträt für die britische Zeitung The Telegraph von einer Begegnung mit dem Dirigenten im Jahr 2004. Shelden sprach Barenboim dabei auf eine Äußerung seiner Frau, der an Multiple-Sklerose erkrankten Cellistin Jacqueline du Pré, an: »Sie schaute aus ihrem Londoner Fenster und sagte: ›Schau Dir all die Menschen an, die gesund und munter umherlaufen, obwohl sie nichts zu geben haben. Und ich, die ich so viel zu geben haben – warum kann ich es nicht?‹ [Barenboim] nickte. ›Das ist die große Tragödie.‹« Einigen Menschen, die in administrativer Funktion mit Barenboim arbeiten, kommt die Idee, dass das Leben eines talentierten Menschen mehr wert ist, vertraut vor. »Ich bin keine Profimusikerin, ich spiele nicht in seinem Orchester, und allein das ist schon ein Grund, warum er denkt, ich bin ein Mensch zweiter Klasse«, sagte eine derzeitige Mitarbeiterin. »Er gibt mir das Gefühl, ich sei dumm. Musiker, die er schätzt, behandelt er ganz anders.«

»Er gibt mir das Gefühl, ich sei dumm. Musiker, die er schätzt, behandelt er ganz anders.«

Falls Barenboim eine Managementphilosophie hat, scheint sie zu sein: je größer der Druck, desto besser die Ergebnisse. Seine Besessenheit, jedes Detail eines Konzerts zu kontrollieren, ist berühmt berüchtigt. »Du kannst alles perfekt machen, und es wird für ihn nicht perfekt genug sein«, sagt ein ehemaliger Mitarbeiter. Ein Orchestermanager machte früher absichtlich Fehler in der Sitzordnung, so dass Barenboim sich an etwas abarbeiten konnte, was leicht zu beheben war. Vor einem Konzert des West-Eastern Divan Orchestra in Spanien schaute das versammelte Orchester zu, wie Barenboim die Bühnentechniker bei 36 Grad anwies, eine große Orchester-Aufstellung innerhalb von zwei Minuten zu einer Kammermusik-Sitzordnung umzubauen. Er ließ den Wechsel mehrmals »proben«, während er auf einem Stuhl saß und die Zeit stoppte. Seine Mitarbeiter machten »jeden Wunsch möglich, egal wie absurd er ist«, sagt einer, der aktuell für Barenboim arbeitet. Ein ehemaliger Mitarbeiter fügt hinzu: »Ich kann nur gut arbeiten, wenn man mir grundsätzliches Vertrauen entgegenbringt, und das tut er nicht, das tut er glaube ich bei niemanden.«

In Proben mit Musikern kann Daniel Barenboim außergewöhnlich geduldig und ruhig sein, an ein unbekanntes Stück extrem langsam herangehen, um Musikern die Möglichkeit zu geben, die Noten zu lernen. Er kann auch elektrisieren: Über eine Probe von Tschaikowskys Vierter Symphonie erzählt ein Musiker: »Es war unmöglich, sich nicht voll reinzuknien. Er war sorgfältiger und hatte mehr Energie als die meisten 40-jährigen Dirigenten.« »Ich habe als junge Musikerin bei ihm eine Wagner-Oper sofort verstanden«, erzählt eine Akademistin. »Bei ihm entsteht das ganz natürlich, als ob es gar kein riesiges Werk wäre.«

Aber auch in der musikalischen Arbeit kann Barenboim unberechenbar und autokratisch agieren. Neue Mitglieder der Staatskapelle lässt er ihre Stimme bei der ersten Probe mindestens einmal alleine spielen. »Es gibt Musiker, die er nicht ausstehen kann, und sie spielen dann nicht mehr unter ihm«, erzählt ein Mitarbeiter. »Wenn man nicht auf seine gute Seite kommt, ist die Chance vertan«, meint eine Akademistin. »Das Erste, was mir die Mentorin meiner Stimmgruppe riet, war, ihn auf jeden Fall die ganze Zeit anzuschauen.« Eine ihrer Kommilitoninnen versäumte es, diesen ungeschriebenen Gesetzen bei einer Probe Folge zu leisten. »Er ist ausgerastet und rief, ›sie darf nicht mehr spielen, wenn ich dirigiere.‹«

Andere versuchen, Konzerte mit Barenboim zu meiden und ihre Dienste auf Projekte mit Gastdirigenten zu legen. Im West-Eastern Divan-Orchestra hat er auf einzelnen Künstlern so lange herumgehackt, bis diese in Konzerten weinend von der Bühne gingen. Vor einem Konzert des Divan-Orchesters blaffte er einen nervösen Holzbläser, der vor einem schwierigen Solo stand, an: »Hey! Du wirst es vermasseln!« Zwei Quellen bezeichnen das Anschreien vor dem Konzert unabhängig voneinander als »Ritual«. Einer meint: »Es hilft ihm offensichtlich.« Der andere fügt hinzu: »Er überträgt seine Wut immer auf andere Menschen. Es ist schrecklich. Er hat sich nie unter Kontrolle.«

Ein Mitarbeiter bezeichnete Barenboims Position an der Staatsoper VAN gegenüber als »die Sonne, um die alles kreist«. Diese Metapher scheint auch auf Barenboims Sonderstellung in der Berliner Kulturpolitik zuzutreffen. Seit seinem Amtsantritt 1992 ist kaum ein Jahr vergangen, in dem er angesichts angedrohter Haushaltskürzungen, Sparmaßnahmen, Fusionen oder vertagter Entscheidungen über Budgeterhöhungen nicht mit Weggang drohte. Am Ende hat er sich fast immer durchgesetzt. So wie 2001, als er bei den Verhandlungen um eine Vertragsverlängerung auf 10 Millionen Mark zusätzlich für Künstlerengagements und die Erhöhung der Orchestergehälter bestand. Die Stadt war im Rahmen eines Sparhaushalts zunächst nicht bereit, die Summe zu zahlen. Es kam zum Showdown, Barenboim kündigte seinen Weggang an – und bekam am Ende doch das, was er wollte. »Wir konnten sehr wenig rausholen für die Stadt«, sagt ein ehemaliger Abgeordneter der Grünen, der in die Verhandlungen eingeweiht war. Am Ende sprang außerdem der Bund ein und versprach dauerhaft jene 3,5 Millionen Mark (später 1,8 Millionen Euro) für die Staatskapelle zu zahlen, von denen Barenboim seinen Verbleib als Generalmusikdirektor abhängig gemacht hatte. Ein Novum in der Finanzierung deutscher Tariforchester. Mit dieser »Kanzlerzulage« war gleichzeitig die vom Berliner Kultursenator Christoph Stölzl favorisierte und von Barenboim abgelehnte Fusion zweier Opernhäuser in Berlin vom Tisch, weil das Geld vom Bund direkt an den Verbleib Barenboims in Berlin gekoppelt war. Seit 2018 geht die Sonderzulage für die Staatskapelle im neuen Hauptstadtfinanzierungsvertrag auf. Dort wird sie noch einmal aufgestockt: Von den jährlich insgesamt 10 Millionen Euro, mit der sich der Bund an der Finanzierung der drei Opernhäuser in Berlin beteiligt, gehen allein an die Staatskapelle Berlin 3 Millionen Euro, also noch einmal 1,2 Millionen Euro mehr als 2001 ausgehandelt.

»Seine Persönlichkeit und sein Charisma sind auf politischer Ebene sehr effektiv.«

Die Sonderstellung Barenboims in der Kulturpolitik über politische Lager hinweg verdeutlicht eine Aussage des damaligen Kulturstaatsministers und heutigen Rektors der Barenboim-Said Akademie, Michael Naumann (SPD), in einer Plenardebatte im Bundestag am 16. November 2000, in der es von Seiten der oppositionellen CDU kritische Nachfragen zum Einspringen des Bundes bei der Staatskapelle gab: »In der Staatsoper hörte die Parteivorsitzende der CDU [Angela Merkel] in einem schicken neuen Kostüm – es war froschgrün – Tristan und Isolde. Dort trafen wir uns. Am Montag rief sie mich an und bat mich, unbedingt etwas zu tun, um den möglichen Weggang von Barenboim, um den Niedergang der Staatsoper, um eine neuerliche Debatte über das angebliche Plattmachen ostdeutscher Künstler, Kapellen und Institutionen zu verhindern. […] Ich habe ihr antworten können: Sie rennen bei uns offene Türen ein, beim Bundeskanzler, bei der PDS – horribile dictu –, bei der FDP. und auch bei mir.«

Als einige Jahre später für die überfällige Sanierung der Staatsoper beim Land Berlin das Geld fehlte, organisierte Barenboim 200 Millionen aus dem Bundeshaushalt. »Ohne das persönliche Werben von Herrn Barenboim auf Bundesebene wäre das sicherlich nicht so passiert«, sagte der ehemalige Bürgermeister Klaus Wowereit 2015 im Untersuchungsausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses, der sich mit den explodierenden Kosten der Sanierung befasste.

Einen Teil des durch die Sanierung freiwerdenden Magazingebäudes der Staatsoper verpachtete die Stadt der Barenboim-Said Akademie 2015 im Rahmen eines Erbbaurechtsvertrags für eine symbolische Summe von 1 Euro für eine Dauer von 99 Jahren. Dazu sprang der Bund mit 21,4 Millionen Euro für den Bau der Akademie und des darin befindlichen Pierre-Boulez-Saals ein und deckt jährlich 7 Millionen Euro Betriebskosten. »Er hat sich in die Landespolitik nie groß eingemischt, er versucht auf Bundesebene, wo das Geld ist, das Beste rauszuschlagen, was auch legitim ist. Das machen andere auch, nur bei ihm trägt es Früchte«, sagt eine Berliner Kulturpolitikerin gegenüber VAN. »Seine Persönlichkeit und sein Charisma sind auf politischer Ebene sehr effektiv.« Ein Mitarbeiter des Pierre-Boulez-Saals meint: »Barenboim ist ein besserer Politiker als Musiker.«

In den kulturpolitischen Kreisen Berlins ist Barenboim heute sakrosankt. Gab es anfangs noch kritische Nachfragen, herrscht durch das gesamte politische Spektrum mittlerweile die Haltung der Alternativlosigkeit, obwohl die Staatsoper, anders als beispielsweise die Komische Oper unter Barrie Kosky, kein eigenständiges künstlerisches Profil entwickelt hat. Ein Mitglied des Kulturausschusses bezeichnet Barenboim VAN gegenüber als »Leuchtturm« und »Kulturbotschafter« für die Stadt und fügte hinzu: »Geld, das in die Staatsoper investiert wird, ist gut angelegtes Geld.«

Dass dieser Leuchtturm scheinbar nur um den Preis feudal anmutender Arbeitsverhältnisse zu haben ist, wird auf politischer Seite weitgehend ausgeblendet. Vielleicht ist das »Aushängeschild« Barenboim auch so groß geworden, dass es jeden prüfenden Blick verstellt – oder sich verbittet. Das, was man mitbekommt, wird oft banalisiert. Zwei pensionierte Politiker sagten gegenüber VAN, sie seien sich Barenboims gelegentlich aggressiven Verhaltens bei Proben bewusst, spielten es aber als normalen Teil des künstlerischen Prozesses herunter. Einer fügte hinzu, dass es Aufgabe der künstlerischen Leitung, nicht der Politiker, sei, sich mit Problemen auseinanderzusetzen, die während der Probe oder einer Vorstellung entstünden.

»Wer in der Politik hat ein ernsthaftes Interesse daran, hinter die Kulissen zu gucken und daraus Konsequenzen zu ziehen?«

Dass überkommene Formen des Patriarchats und Geniekults in der Kulturszene die Zeitenwenden überdauert haben, wurde unlängst in der Theaterszene diskutiert, als 60 Mitarbeiter des Wiener Burgtheaters dem ehemaligen Direktor Matthias Hartmann »eine Atmosphäre der Angst und Verunsicherung« vorwarfen. Die Kritik am »inszenierenden Intendanten«, der in Personalunion über künstlerische Interpretation und Anstellungsverhältnisse entscheidet, trifft auch auf Barenboim zu. Nominell kann dieser zwar keine Personalentscheidungen treffen, mehrere Quellen teilten VAN jedoch mit, dass ihre Beziehung zu Barenboim der entscheidende Faktor dafür war, ob ihre Verträge verlängert wurden oder nicht. De facto vereint Barenboim heute politische, künstlerische und administrative Macht in einer Hand.

Ein guter Regisseur oder Dirigent muss noch lange kein guter Chef sein. Das, was Mitarbeiter von einem Chef an Führungsqualitäten erwarten, ist meistens sogar gegenläufig zu dem, was eine Künstlerpersönlichkeit ausmacht. Diese wird eher selten mit Attributen wie Verlässlichkeit, Umsichtigkeit, Erwartbarkeit, Regeltreue umschrieben. Da, wo – wie scheinbar im Falle Barenboims – ein Künstler autokratisch in eine Organisation hineinwirkt, wäre es eigentlich an der Politik und den Aufsichtsgremien, einzuschreiten – zum Wohle der Mitarbeitenden, aber letztlich auch, um Barenboim selbst vor den Folgen seines Verhaltens zu schützen. »Aber wer in der Politik hat ein ernsthaftes Interesse daran, hinter die Kulissen zu gucken und daraus Konsequenzen zu ziehen in die eine oder andere Richtung?«, fragt eine ehemalige Mitarbeiterin der Operndirektion.

Zur Machtfülle Barenboims gehört ein System, dass sie ihm zugesteht. Die Strukturen an der Staatsoper scheinen die Pathologien dieser Konstellation weiter zu verstärken. »Es gibt überhaupt keine Struktur, aus der hervorgeht, wer eigentlich was darf«, erzählt ein ehemaliger Mitarbeiter. »Daran ist nicht Barenboim schuld, auch wenn es ihm an vielen Stellen entgegenkommt.«

Barenboim ist ein Musiker im Archetyp des 20. Jahrhunderts. Er verfügt über ein beeindruckendes Ohr, und herausragende Instrumentalisten, Sängerinnen und Sänger gehören zu den wenigen Menschen, denen gegenüber er sich zuverlässig respektvoll verhält. Umgekehrt wünschen sich die Solistinnen und Solisten, mit ihm zusammenzuarbeiten. In den ersten Jahren an der Staatsoper akzeptierten sie sogar niedrigere Honorare als an anderen Häusern, um unter seiner Leitung aufzutreten. Aber fast niemand erfüllt die Standards, die er für sie und sich selbst setzt, mit Ausnahme anderer musikalischer Ausnahmeerscheinungen wie Zubin Mehta oder Pierre Boulez. »Boulez war eine ganz wichtige Figur für Barenboim. Er empfand so viel Respekt für ihn und, erstaunlicherweise, fast so etwas wie Liebe«, sagt ein ehemaliger Verwaltungsangestellter gegenüber VAN. Darüber hinaus gebe es allerdings nur wenige Leute, die er respektiere und deren Meinung er schätze.

Barenboim und der verstorbene Boulez verbindet der fast zwanghafte Drang, Musik zu machen, weiterzumachen, auch wenn es auf Kosten der eigenen Gesundheit ist. In seinen letzten Jahren flog Pierre Boulez einmal von Paris nach Mailand für ein Konzert an der Scala. In Eile am Flughafen Charles de Gaulle rutschte er aus und fiel, während er eine Rolltreppe hinauf ging. Ein Arzt wurde gerufen, aber Boulez bestand darauf, seinen Flug anzutreten. Am nächsten Morgen ließ sich Boulez schließlich untersuchen. Es stellte sich heraus, dass er sich einen Rückenwirbel und die Schulter gebrochen hatte. Barenboim stand beim Schlussapplaus schon mehrfach kurz vorm Kollaps, dirigierte mit einem Arzt vor Ort und einem Mitarbeiter im Rücken, auf dessen Handy bereits die Nummer für einen Krankenwagen eingegeben war. »Er quält sich richtig«, sagte ein ehemaliger Mitarbeiter. Am 27. Januar 2019 dirigierte Barenboim Richard Strauss’ Elektra, obwohl bereits eine Augenoperation angesetzt war und er die Partitur kaum sehen konnte. Er machte häufig Dirigierfehler, fügte zusätzliche Schläge hinzu oder gab falsche Einsätze. An einem Punkt hörte ein großer Teil des Orchesters einfach auf zu spielen. Aber die Vorstellung, dass er einfach nicht dirigieren würde, war undenkbar. »Ich habe nie erlebt, dass er auf dem Podium lustlos agierte, egal wie krank er war«, sagte ein ehemaliger Mitarbeiter. »Die Konzentration und Energie, die er von anderen erwartet, erwartet er auch von sich selbst.«

»Er war sorgfältiger und hatte mehr Energie als die meisten 40-jährigen Dirigenten.«

Der Vorwurf, sich zu verzetteln, begleitet Barenboim schon Jahrzehnte. Die Menschen um ihn herum bemerken es, wenn seine Arbeit nicht seinen eigenen Ansprüchen genügt. »Ich kann es absolut nicht nachvollziehen, warum er sich immer noch hinsetzt und ein Bartók-Klavierkonzert spielt, warum er kein Empfinden dafür hat, dass er sich damit keinen Gefallen tut«, sagt ein ehemaliger Mitarbeiter. »Kann es sein, dass dieser wirklich beängstigend intelligente Mensch da so einen blinden Fleck hat?«

Warum muss Barenboim so viel und hart arbeiten? Es ist eine Frage, die sich viele der Menschen um ihn herum stellen, während sie dabei zusehen, wie er weit mehr Konzerte übernimmt, als er bewältigen kann. Vielleicht ist es einfach die Macht der Gewohnheit. Oder die Tragödie eines großen Talents, sich ständig etwas beweisen zu müssen. »Vielleicht ist es ein bestimmter Typus von Person?«, fragt sich ein ehemaliger Mitarbeiter. »Man sieht es relativ oft bei Ausnahmekünstlern. Du kannst sie nicht aufhalten. Wie auch immer, es ist verrückt, was er tut. Er muss immer komplett ausgebucht sein.« Ein anderer erinnert sich daran, dass die Mitarbeiter immer besorgt waren, wenn Barenboim doch einmal Urlaub machte. Denn das bedeutete, dass er mit neuen Ideen zurückkommen würde, die sie in die Tat umsetzen mussten. Gelegentlich nimmt er in den Pausen seiner Recitals geschäftliche Telefonate entgegen.

Barenboim kann mit seiner Zeit, Energie und Musikalität außerordentlich großzügig sein. Er liebt große Gesten: teure Geschenke, ausgefallene Zigarren, kostenlosen Champagner, Abendessen für das ganze Orchester. Er kann schockierend klug und kultiviert sein. »Er ist bis heute einer der faszinierendsten Menschen, die ich je getroffen habe«, erzählt ein ehemaliger Direktionsmitarbeiter der Staatsoper. »Bei weitem ist er einer der intelligentesten, talentiertesten und musikalischsten Menschen, er ist ziemlich unvergleichlich. Auch in Anbetracht der Fülle seiner Talente. Es gibt fantastische Pianisten und intelligente Dirigenten, aber er ist gut in so vielen verschiedenen Dingen.«

»Die Konzentration und Energie, die er von anderen erwartet, erwartet er auch von sich selbst.«

Für viele der Menschen, die mit ihm arbeiten oder gearbeitet haben, sind seine vielen guten Eigenschaften jedoch wenig tröstlich. »Auf der einen Seite beurteile ich ihn wirklich nach seinem Verhalten«, meint ein Mitarbeiter. »Andererseits kann ich verstehen, warum er so ist. Er tut mir fast leid. Was es nicht in Ordnung bringt.« Einigen erschien es unmöglich, in der Arbeit mit Barenboim den eigenen Werten treu zu bleiben. Ein ehemaliger Mitarbeiter, der schon vor Jahren aufgehört hat, für Barenboim zu arbeiten, erzählt, dass er immer noch an Momente denke, in denen er hätte »Nein« sagen sollen. Manchmal kann er nicht schlafen, fantasiert über zurückgehaltene Erwiderungen, Standpunkte, die er hätte aufrechterhalten sollen. »Es ist ein dunkles Kapitel in meinem Leben.« Er fügt hinzu: »Ich denke, wenn sich 10 oder 20 Personen zusammenschließen würden, könnten sie ihm wirklich eine Botschaft übermitteln: Bestimmte Grenzen müssen respektiert werden. Aber sie haben zu viel Angst.«

Barenboim ist jetzt 76. Der Frage, wer ihn ersetzen könnte, wird bisher weder an der Staatsoper noch in politischen Kreisen viel Beachtung geschenkt. Die Auslastung stimmt, erst Recht nach dem Umzug in das Stammhaus Unter den Linden. Einige Mitarbeiter erzählen von den Chancen, die eine Zukunft ohne Barenboim birgt. Für andere ist solch eine Zukunft unvorstellbar. »Selbst heute noch, egal wie wütend die Leute auf ihn sind oder wie viel Angst sie vor ihm haben, würden die meisten sagen, dass sie hoffen, dass er 120 Jahre alt wird«, sagt eine ehemalige Mitarbeiterin gegenüber VAN. »Er ist in der DNA des Hauses. Er ist die Lösung und das Problem.« ¶

Für diese Geschichte sprach VAN mit über einem Dutzend Personen, die in den letzten zehn Jahren eng mit Daniel Barenboim zusammengearbeitet haben: aktuelle und ehemalige Mitarbeiter, Musiker, Verwaltungsangestellte und Politiker. Die Mehrheit dieser Quellen sprach mit uns unter der Bedingung von Anonymität und begründete dies mit der Angst vor negativen beruflichen Folgen. Wir haben auf ihre Anfrage hin einige Identifizierungsdaten geändert.

... ist Herausgeber von VAN. Er studierte Development Studies, Ethnologie und Asienwissenschaften in Berlin, Seoul, Edinburgh und an der London School of Economics und arbeitete im Anschluss zehn Jahre als Berater in Projekten der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. 2014 gründete er mit Ingmar Bornholz den VAN Verlag, wo er auch als Geschäftsführer fungiert. hartmut@van-verlag.com

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