Jessye Norman, Maurice André, Heinz Holliger, Mitsuko Uchida, Quatuor Ébène … Die Liste der illustren Namen, für die eine Auszeichnung beim ARD-Musikwettbewerb seit 1952 ein Karrieresprungbrett bedeutete, ließe sich noch lange fortsetzen. 2022 bewarben sich in den Fächern Flöte, Posaune, Streichquartett und Klavier insgesamt 670 Musiker:innen aus 55 Ländern – so viele wie noch nie zuvor. 

Ausrichter des jährlich in München stattfindenden Wettbewerbs ist der Bayerische Rundfunk, der auch Produktionskosten und Personalabstellung übernimmt. Die weitere Finanzierung wird von allen ARD-Anstalten als sogenannte »Gemeinschaftseinrichtung« gesichert. Bereits 2005 stand der Wettbewerb vor dem Aus. Am Ende wurde der Vorschlag der ARD-Hörfunkkommission angenommen, den Etat um 30 Prozent zu reduzieren und auf 740.000 Euro zu deckeln. Aufgefangen wurde und wird die Kürzung durch Geldgeber wie dem Siemens Arts Program als Hauptsponsor und durch Spenden. 

Anfang 2018 beschlossen die ARD-Intendant:innen, den 2020 auslaufenden Vertrag bis 2024 zu verlängern, »um eine größere Planungssicherheit zu gewährleisten«, wie es damals hieß. Da auch die ausgeschriebenen Fächer mehrere Jahre im Voraus festgelegt wurden, konnten sich Bewerber:innen frühzeitig auf die Ausschreibung vorbereiten. 

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Mit dieser Planungssicherheit ist es nun vorbei: Ob es mit dem Wettbewerb über das Jahr 2024 hinaus weitergeht, ist derzeit vollkommen unklar. Stattdessen gibt es innerhalb der ARD Überlegungen, ihn ganz abzuschaffen. Das bestätigen Quellen in verschiedenen Rundfunkanstalten gegenüber VAN. Sicher sei, dass der Etat des Wettbewerbs abermals gekürzt werde, was intern mit dem allgemeinen Spardruck begründet würde. Offiziell teilt die Künstlerische Leiterin des Wettbewerbs, Meret Forster, auf Anfrage mit, dass die Durchführung des Wettbewerbs 2024 gesichert sei und man »aktuell an der weiteren Fortführung« arbeite. [Ergänzung: Der Pressesprecher des Bayerischen Rundfunks, Markus Huber, teilt nach Redaktionsschluss mit, dass »die Finanzierung des Wettbewerbs im Rahmen der ARD-Gesamtfinanzierung gesehen werden muss.« In diesem derzeit laufenden Prozess könne es weder Festlegungen geben, noch über die aktuelle Beitragsperiode hinaus geplant werden.]

Kaum ein anderer Wettbewerb ist ähnlich breit aufgestellt wie der ARD-Musikwettbewerb: Insgesamt gibt es 21 Fächer, von denen jährlich vier ausgeschrieben werden. Dadurch bekommen auch unbekanntere Solo-Instrumente eine Bühne, für die es zwar kleinere Spezialwettbewerbe gibt, die aber oft nur vom Fachpublikum wahrgenommen werden. Auch Instrumente wie – im aktuellen Jahrgang – Harfe und Kontrabass haben so die Möglichkeit, über die eigene Szene hinaus international bekannt zu werden. »Mir wurde mein Leben lang gesagt, ›Klarinetten-Solisten gibt es nicht, such dir ein anderes Ziel‹«, so die Klarinettistin Sharon Kam, Preisträgerin des Wettbewerbs 1992, gegenüber VAN. »Um solch eine Haltung umzukehren und auch Nischeninstrumenten ein Podium zu geben, dafür ist der ARD-Wettbewerb extrem wichtig. Es gibt ein paar wenige Spezialwettbewerbe für Klarinette, aber kaum Großwettbewerbe wie den ARD-Wettbewerb.«

Bei der unübersichtlichen und stetig wachsenden Anzahl mal mehr, mal weniger seriöser Wettbewerbe, gehört der ARD-Musikwettbewerb zu den wenigen, die nach wie vor eine echte Türöffner-Funktion haben. Die Gründe dafür sind vielfältig: Während die Entscheidungsfindungen der Jurys anderer Wettbewerbe bisweilen mafiöse Züge annehmen, steht die des ARD-Wettbewerbs im Ruf, weniger korrumpierbar zu sein und fachlich gleichermaßen streng wie kompetent zu bewerten. Aufgrund seines Renommees und seiner hohen musikalischen Qualität wird der ARD-Wettbewerb auch international wahrgenommen. »Selbst kleinere Veranstalter in den USA oder Menschen, die mit der Szene gar nicht so vertraut sind, kennen den Wettbewerb. Er ist ein echter Leuchtturm, der auch international schillert und leuchtet«, meint Martin Funda, Primarius des Armida Quartetts, das 2012 den ersten Preis gewann, gegenüber VAN. Zur Strahlkraft tragen auch die verschiedenen Sichtbarkeitskanäle bei, auf denen sich Teilnehmende und Preisträger:innen der Öffentlichkeit – Publikum, Veranstaltern, Agenturen – präsentieren: Die Wettbewerbsrunden können entweder live in München besucht, im Livestream verfolgt oder später on demand abgerufen werden, dazu kommen die drei Preisträgerkonzerte mit dem Münchner Rundfunkorchester, dem Münchener Kammerorchester und dem Symphonieorchester des BR, die auch im Radio ausgestrahlt werden, sowie eine jeweils im Frühjahr stattfindende Kammermusik-Tournee der Preisträger:innen. 

Der Gewinn des ARD-Musikwettbewerbs 1988 sei für ihn so etwas wie eine Initialzündung gewesen und habe eine Wende ausgelöst, erzählte der Bariton Thomas Quasthoff 2010 im Zeit-Interview. Der Hornist Přemysl Vojta, der 2010 den ersten Preis gewann, schätzt auf VAN-Nachfrage die Bedeutung ähnlich ein: »Mir persönlich hat der Preis viele Türen aufgeschlossen, direkt in den ersten zwei, drei Jahren nach dem Gewinn bekam ich sehr viele interessante Konzert-Engagements. Das war eine Visitenkarte, die geholfen hat, mich weiterzuentwickeln.«

»Das Preisträgerkonzert wurde damals um 11 Uhr am Sonntag in der ARD ausgestrahlt. Die Veranstalter bestanden darauf, dass ich Copland spiele, obwohl das kaum jemand kannte«, erinnert sich Sharon Kam. »Das Konzert haben dann extrem viele Leute gesehen, Peter Ruzicka und Gerd Albrecht haben mich daraufhin engagiert, von Ruzicka habe ich später in Donaueschingen auch ein Stück uraufgeführt, da haben sich viele Netzwerke geknüpft.« 

Für Hornist Vojta, der neben seiner Solo-Karriere an der Folkwang Universität der Künste in Essen unterrichtet, haben Wettbewerbe wie der der ARD für junge Musiker:innen auch über den Karriereanschub hinaus einen besonderen Wert, nicht nur für die Gewinner:innen. »Wettbewerbe sind eine gute Möglichkeit, um künstlerisch zu reifen. Man muss oft Repertoire vorbereiten, mit dem man im Studium nicht in Berührung gekommen ist. Der Vergleich mit anderen, die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Spielweisen und interpretatorischen Ansichten justiert die eigenen Maßstäbe und schafft neue Motivation.« Der ARD-Wettbewerb sei eine Feuerprobe, meint der Cellist Julian Steckel, der den Wettbewerb im gleichen Jahr wie Vojta gewann, gegenüber VAN: »12 große Repertoirestücke parallel vorzubereiten, über vier Runden parat zu halten und auf den Punkt fit zu sein, ist ein gutes Abbild der späteren Karriere.« 

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Anders als früher ist allerdings auch der ARD-Wettbewerb heute keine Garantie mehr für eine erfolgreiche Solist:innenlaufbahn. In einer Zeit, in der Karrieren immer öfter auf Social Media gemacht werden, stehen die wenigen großen, seriösen Musikwettbewerbe für den orthodoxen Weg und die vielleicht altmodische Vorstellung, dass es am Ende um künstlerische Qualität geht. Dass sich diese immer durchsetzt, war schon seit jeher mehr gern geglaubte Fiktion als Realität. Wer sich aber nicht am Ringen um Aufmerksamkeit in den Sozialen Netzwerken beteiligen möchte, für den biete der ARD-Wettbewerb eine gute Chance, trotzdem sichtbar zu werden, so Cellist Steckel auch mit Blick auf seine eigenen Student:innen an der Hochschule für Musik und Theater München. »Sollen die Leute nur noch über Instagram ihre Karrieren aufbauen können?«

Die aktuelle Diskussion um die Zukunft des ARD-Musikwettbewerbs steht im Zeichen der übergeordneten Debatte um Auftrag und Legitimation des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Senderintern kommen hierbei insbesondere auch Aktivitäten im Bereich der »klassischen Musik« auf den Prüfstand, die in vielen Anstalten einen schweren Stand zu haben scheint. Nachdem Intendant Tom Buhrow bereits die Rundfunkorchester angezählt hat und sich klassische Musik in den Kulturradios seit vielen Jahren auf dem Rückzug befindet, ist die Infragestellung des ARD-Musikwettbewerbs nur das jüngste Beispiel einer längeren Entwicklung. Wenn man sich in den Sendern zum Wettbewerb umhört, vernimmt man dieselben, vertrauten Klagen: dass die Intendant:innen mit Klassik nichts am Hut hätten, dass es schwierig sei, für Institutionen wie den ARD-Musikwettbewerb Fürsprecher:innen zu finden, weil sie lediglich als lästige Zöpfe wahrgenommen würden: zu wenig Sichtbarkeit, zu wenig Reichweite, zu wenige Clicks. 

Kultur zu vermitteln gehöre zum Kernauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, heißt es im ARD-Nachhaltigkeitsbericht 2020. »Das Spektrum reicht von Festivals wie dem ARD-Musikwettbewerb über Konzerte der ARD-Ensembles bis hin zu regionalen Kulturpartnerschaften wie die des NDR mit dem Schleswig-Holstein Musik Festival.« Gut möglich, dass das Papier schon sehr bald schlecht gealtert sein wird. Es wäre jammerschade, wenn ein so renommierter Wettbewerb aufhören würde zu existieren, meint Klarinettistin Kam. »Was man abschafft, schafft man nie wieder neu.« ¶

... ist Herausgeber von VAN. Er studierte Development Studies, Ethnologie und Asienwissenschaften in Berlin, Seoul, Edinburgh und an der London School of Economics und arbeitete im Anschluss zehn Jahre als Berater in Projekten der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. 2014 gründete er mit Ingmar Bornholz den VAN Verlag, wo er auch als Geschäftsführer fungiert. hartmut@van-verlag.com

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