Ausgerechnet Barry Kosky hat es kürzlich wieder getan. In einem Interview mit der Berliner Zeitung warnte er, Berlin würde bald zum »neuen Bielefeld« mutieren. Wegen der hohen Mieten laufe die Hauptstadt Gefahr, ein Ort imposanter Bauten zu werden, allerdings einer, dem Kreative den Rücken kehrten, eine Kulturhohlnuss. Bielefeld als Metapher der provinziellen Langeweile ist mittlerweile ein ziemlich abgegriffener Ableger der Bielefeld-Verschwörung. Ein gelangweilter Informatiker setzte sie einst in die Welt, nachdem Großbauarbeiten im Herbst 1993 die Autobahnverbindungen zur Stadt lahm gelegt hatten.

Seitdem hält sich der flache Witz, Bielefeld würde ja eigentlich gar nicht existieren. Blaupause für viele weitere Verschwörungstheorien, die seit Jahrzehnten das Netz fluten und Bielefeld als Prototyp der kulturellen Einöde, als Ort ohne Kontur und großstädtischen Glanz etablierten. Dabei klingt der Vergleich aus Barry Koskys Mund auch noch unfreiwillig selbstironisch: Haben die Bielefelder doch mit Berlin Alexanderplatz zur Spielzeiteröffnung eine musikalische Pionierleistung hingelegt, auf die man in der Hauptstadt neidisch sein müsste. Zum ersten Mal wurde Alfred Döblins expressionistisches Meisterwerk als Oper vertont und vor ausverkauftem Haus zur Uraufführung gebracht.

Mit zweistündiger Verspätung hält mein Zug am Bielefelder Hauptbahnhof. Nur noch 20 Minuten bis zum Beginn des Parsifal, den ich mir in der Rudolf-Oetker-Halle ansehen will. Zum Glück stehen am Bahnhofsvorplatz DB-Räder zum Verleih. Ich trete in die Pedale, strample durch die Altstadt, die sich just an diesem Wochenende in eine Kirmesmeile aus Würstchenbuden, Riesenrad und offenen Bühnen verwandelt hat. Man feiert den Leineweber, einen kleinen, etwas buckligen Mann, dem man überall in der Stadt begegnet und der neben der Sparrenburg als Bielefeld-Wahrzeichen gilt. Steht er doch für den Aufschwung der Textilwirtschaft, die den Bürger:innen Wohlstand brachte, und ist damit auch geheimer Patron des Theaters geworden. Das steht jedoch an diesem Wochenende im Schatten eines 30 Meter hohen Fahrgeschäfts, in dem Besucher:innen direkt vorm Theaterportal den freien Fall proben.

Parsifal im Saal der Rudolf-Oetker-Halle • Foto © Jochen Michael

Die Anhöhe zur Oetkerhalle schaffe ich in der letzten Minute, verschwitzt sinke ich auf meinen Platz in der Parkettmitte, da rauscht bereits das Orchester, gefolgt von GMD Alexander Kalajdzic, auf die Bühne. Gestiftet von der gleichnamigen Pudding-Dynastie und benannt nach deren musikaffinen Sohn Rudolf Oetker gehörte die Halle mit ihrer Akustik einst zu den besten Konzertsälen weltweit. Bis heute zieht sie international renommierte Künstler:innen an. Seit 2018 ist sie Teil des Spielstättenensembles des Theaters  – und bietet in ihrem Großen Saal Platz für 1.500 Zuschauer:innen und eine Bühne, auf der bis zu 400 Musiker:innen unterkommen.

Heute ist über der Oetkerhallen-Bühne ein großes Leinwandtriptychon aufgezogen: Clownfische und Medusen ziehen ihre Bahnen durch blaugrünschillernde Wellen – um von der Schönheit göttlicher Schöpfung Zeugnis abzulegen. »Genesis« ist das Ganze auch folgerichtig übertitelt. Kurz darauf versinkt ein goldener Gral in den Fluten, der sich nach wenigen Sekunden in ein Fabergé-Ei verwandelt und die verführerischen Blumenmädchen Klingsors treiben als unglücklich ertrunkene Ophelien im Wasser.

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Mit seinen kaleidoskopartig pulsierenden Bildsequenzen knetet der Videokünstler Vincent Stefan am Assoziationsstrom des Publikums. Aber möchte man Gurnemanz’ Worten »zu Raum wird hier die Zeit« Glauben schenken, begreift man auch Bild- und Musik-Motive als Boten, deren Message sich kontinuierlich verändert, die Vergangenes in die Gegenwart tragen und mit künftigen Erwartungen spielen. So blitzen im Bild des kostbaren Eis heidnisches Brauchtum, pompöse Machtdemonstration und die künstlerisch verarbeitete Esoterik Joseph Beuys‘ zeitgleich auf, die blutige Archaik wird später auch noch einem vereisten Schwan erklärt… Musikalisch sind die Motive eindeutiger gezeichnet, die Bielefelder musizieren detailverliebt, jedoch ohne ihren langen Atem einzubüßen und die großen Bögen zu verlieren. Wie blitzsauber die Holzbläser das Glaubensmotiv intonieren oder die Streicher im dritten Akt Parsifals Rückkehr ins Gralsgebiet über sieben Takte mit einem cis begleiten, in einem Piano, das immer feiner wird und zwischen Fahlheit und Unhörbarkeit changiert, bis der Ton schließlich erstirbt, das lässt aufhorchen. Begreift man doch in diesem Moment intuitiv, dass Parsifal bereit ist, sich um des Friedens Willen zu opfern.

Für den nächsten Vormittag bin ich mit Operndirektorin Nadja Loschky und GMD Alexander Kalajdzic zum Gespräch im Foyer des Stadttheaters verabredet, davor darf ich noch bei einer Probe zusehen. Schon von weitem fallen mir die Zinnen über dem Bühnenhaus auf, die an eine mittelalterliche Befestigungsanlage erinnern und dem Theater etwas Wehrhaftes verleihen. Architekt des Bielefelder Theaters war Bernhard Sehring, der auch das Theater des Westens in Berlin entwarf und Theaterhäuser in Cottbus, Düsseldorf und Gera konstruierte – prächtige, lichtdurchflutete Kunsttempel. Viele von ihnen wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört, vom Bielefelder Ursprungsbau blieb die schöne Jugendstilfront mit den Musen, die heute fast unter einer blau-gelben ukrainischen Fahne verschwindet.

Das Bielefelder Stadttheater • Foto © Sarah Jonek

Als »italienischen Fassbinder« stellt mir Nadja Loschky Leoncavallos Oper Zazà vor. In zwei Wochen ist die Premiere, endlich könne man auf der großen Bühne probieren. Leoncavallos Musik sei vielschichtiger, unkonventioneller als die vieler Zeitgenossen, »echter Verismo eben«, sagt Loschky, und das Libretto nicht so eine üble »Kitschsoße« wie bei seinem Landsmann Puccini. Im Unterschied zu Puccini beschreibe Leoncavallo Beziehungen viel unverblümter und zugeich lebensnaher. Die Sängerin und Tänzerin Zazà steht zwischen Cascart, ihrem ehemaligen Liebhaber, der ihr weiterhin Bühnenpartner und väterlicher Freund bleibt, und dem Sänger Milio, der aus einer höheren gesellschaftlichen Schicht kommt. Aus einer Sommerwette, einer Amour fou-Beziehung, baue Leoncavallo eine tiefe Liebesgeschichte, die jedoch zerbreche und in Ratlosigkeit, in großer Leere ende, »aber eben nicht mit einer toten Frau, um die die Ex-Liebhaber herum stehen, um nochmals ein hohes C zu schmettern«.

Nadja Loschky hat in Berlin Opernregie studiert und noch während ihres Studiums Hans Neuenfels assistiert. Sie inszenierte in Heidelberg, Kassel, Zürich und an der Komischen Oper Berlin. Seit 2019 ist sie Operndirektorin in Bielefeld. Ab der Spielzeit 2023/2024 wird sie gemeinsam mit Michael Heicks das Haus leiten, um in der Saison 2025/2026 die Intendanz komplett zu übernehmen.

Zazà • Foto © Bettina Stöß

Auf der Bühne markieren ein paar weiße Planken und zwei Türen die Welt Zazàs und Cascarts. Loschky arbeitet an einer zentralen Arie, in welcher Cascarts Wut, unfreiwillig Zeuge von Zazàs Selbstverleugnung zu werden, über den Schmerz seiner unerwiderten Liebe siegt. »Ihr Neuer kommt aus einer Welt, zu der du nicht mal die Türklinke herunterdrücken kannst«, stachelt Loschky den Cascart-Darsteller an. Sie wirbelt zwischen den Türen und einem Korb mit Baguette und Wein, erklärt, wie wichtig Timing und Farben hier seien, streut dabei lässig eine Prise Commedia dell’arte in die verzweifelte Liebesarie. Loschky feilt detailliert an Brüchen und Stimmungswechseln, Temperaturen und Farben. Mit psychologischen Vergleichen oder auch rein technisch, mit genauen Bewegungsanweisungen, sobald sie merkt, dass der Sänger sich verhakt hat. Eine gute Arbeitsatmosphäre sei ihr extrem wichtig. Gerade auch, wenn es so ans Eingemachte gehe, brauche man zwischendurch Auflockerung, sonst hyperventiliere man bei diesen hochgeschraubten Arien doch permanent, erklärt sie später. Klar gebe es Proben, die einfach nicht laufen. Aber grundsätzlich habe sie hier ein Ensemble, mit dem sie sehr gut inhaltlich arbeiten könne, sie müsse niemandem Schrittfolgen vorschreiben und auch keinen Schauspielgrundlagen-Unterricht erteilen.

Saal des Stadttheaters • Foto © Christian R. Schulz

Aus der vierten Reihe im Parkett sehen die rotsamtenen Stuhlreihen im Rang wie übereinander geklebt aus. Ein kunstvolles Wespennest. »Wir haben den steilsten Rang Deutschlands«, flüstert mir Pressereferentin Nadine Brockmann ins Ohr, ein MDR-Team habe das mal ermittelt. Solange bis Nadja Loschky und Alexander Kalajdzic gesprächsbereit seien, wolle sie mich schon mal durchs Haus führen. 2004 wurde das Theater komplett entkernt und generalsaniert, erklärt sie. »Wir standen kurz davor, den Spielbetrieb einstellen zu müssen, so baufällig war damals alles.« Foyerbereich und Kantine wurden dabei neu gestaltet, bekamen »ein freundlicheres Gesicht«, und es entstand die Brücke, die das alte Stadttheater mit dem Dürkopp-Gebäude verbindet, einem ehemaligen Fabrikkomplex, in dem von 1867 bis 1967 Fahrräder und Nähmaschinen gefertigt wurden. Ermöglicht wurde die Sanierung zu einem Großteil durch die großzügigen Spenden der Bielefelder. Ein echtes, großes Bekenntnis zum Theater.

Wir stehen inzwischen im lichtdurchfluteten Malsaal. Zwei Mitarbeiter verteilen dunkle Spachtelmasse vermischt mit Stroh auf rostbraunen Spanholzreliefs. Kulissenteile für Zazà. Die struppigen Platten sollen auf der Bühne die ausgedörrte Graslandschaft vor dem Artistenzelt darstellen, wirkten noch nicht wüst genug und erhalten deshalb einen Nachschlag.

Zazà • Foto © Bettina Stöß

Ein langer Gang, flankiert von Scheinwerfern und Kulissenteilen, mündet in einen winzigen vollgestopften Lagerraum. Unter der Bühne gibt es noch eine Montagehalle, worin der Rest der aktuellen Stücke untergebracht sei, erklärt Brockmann, und das wars. »Deshalb müssen wir genau planen, sprich, wir können keine dreißig Wiederaufnahmen stemmen oder 60 Stücke parallel laufen lassen. Das würde allein schon wegen der Lagerkapazität nicht funktionieren.«

»jungplusX« steht auf einer Tür, die wir passieren. »Unserer Vermittlungsabteilung steht hier für ihre Projekte eine eigene Probebühne zur Verfügung«, erklärt Nadine Brockmann. Hier probiere zum Beispiel der traditionsreiche Jugendclub, den es seit über dreißig Jahren am Haus gebe und in dem Bielefelder Jugendliche mit Theaterpädagog:innen Stücke erarbeiten. Jugendliche, die eigene Inszenierungsideen umsetzen wollten, könnten sich in den sogenannten »Selbstauslöser«-Projekten verwirklichen. »Sie müssen ihre Idee in einem Motivationsschreiben vorstellen«, so Brockmann. »Wenn wir die für umsetzbar halten, bekommen sie Räume und Material zur Verfügung gestellt, und wenn sie wollen, Beratung, müssen sich aber um alles Weitere selbst kümmern.«

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Inzwischen warten Nadja Loschky und Alexander Kalajdzic im Foyer. Nadja Loschky ist Familienfreundlichkeit wichtig, nicht nur als Programmschwerpunkt für ihre Zuschauer. Sie selbst hat zwei kleine Kinder und sich deshalb die gestrige Parsifal-Vorstellung »geschenkt«, erklärt sie, als wir im Foyer in große, schwarze  Ledersessel sinken.

Als künstlerische Leiterin des Musiktheaters und künftige Intendantin will Loschky ein möglichst vielfältiges Programm zeigen. Überhaupt erkennt sie in der Bandbreite des Spielplans die Aufgabe des Stadttheaters: dem Publikum neben dem bekannten Repertoire aus Klassik und Romantik auch Alte-Musik-Raritäten, Ausgrabungen, verfemte und oder vergessene Werke nahezubringen, natürlich auch zeitgenössisches Musiktheater.

Parsifal – Frank Dolphin Wong (vorne), Alexander Kaimbacher (Mitte); Herren des Bielefelder Opernchors und Extrachors • Foto © Sarah Jonek

Warum muss dann unbedingt Wagner auf den Spielplan? GMD Alexander Kalajdzic ist überzeugt, dass die Bielefelder Philharmoniker diese Aufgabe schlichtweg »sehr gut bewältigen und außerdem daran wachsen«. Man müsse Stücke finden, mit denen sich das Orchester bewähren und zugleich am eigenen Klang feilen könne. »Und dann steht uns ein Raum wie die Oetkerhalle zur Verfügung – die wollen wir ja auch bespielen!« Zwar habe man für den Parsifal einige Hauptpartien mit Gästen besetzt, »wir bekennen uns aber generell klar und unbedingt zu unserem festen Ensemble, das derzeit aus 15 Sänger:innen besteht und das wir auch nicht verkleinern wollen«, so Loschky.

Berlin Alexanderplatz • Foto © Bettina Stöß

In Berlin Alexanderplatz, mit dem die aktuelle Spielzeit eröffnet wurde, habe man komplett mit hauseigenen Künstlern gearbeitet. Es war ein Wunschprojekt des noch amtierenden Intendanten Michael Heicks, der auch die Rechte ergatterte, Döblins expressionistischen Roman hier erstmals als Oper auf die Bühne zu bringen. Mit der Komposition wurden Vivan und Ketan Bhatti beauftragt, zwei Bielefelder Brüder, die zwar international gefragt sind, aber noch nie eine Oper geschrieben hatten. »Ein Wagnis, das wunderbar aufgegangen ist«, sagt Kalajdzic. »Wir waren skeptisch, ob eine Uraufführung zum Beginn der Saison ziehen würde, aber die Vorstellungen waren alle ausverkauft«, schwärmt Loschky. Überhaupt seien die Bielefelder ein aufgeschlossenes Publikum, was Experimentierfreudigkeit anbelange. Alexander Kalajdzic erinnert sich aber auch, dass der Zuspruch Zeit gebraucht habe: Man müsse hier erstmal ankommen, das Bielefelder Publikum kennenlernen, bevor es auch bei Abenteuern mitginge, sagt er.

Kalajdzic hat in Zagreb und Wien Klavier, Viola und Dirigieren studiert, war Kapellmeister in München, Weimar und Mannheim und ist seit 2010 GMD am Theater Bielefeld. Die Bielefelder Philharmoniker seien der größte und wichtigste Klangkörper der Region. Daher sieht er die Hauptaufgabe seines Orchesters in der großen Stil-Palette: »Wir musizieren hier die Madrigale von Monteverdi, aber bringen unserem Publikum auch Xenakis und Beat Furrer nahe. Natürlich sind wir nicht das Ensemble Modern oder die Akademie für Alte Musik Berlin, aber Theater ist eben auch ein Bildungsort, und das nehmen wir ernst. Unserem Publikum möchten wir zwischen beliebten und geliebten Repertoire-Stücken möglichst viel Unbekanntes bieten.« Auf Die Frau aus dem Eis (Anthropocene) wurde Nadja Loschky aufmerksam, weil der klimakritische Stoff so opernuntypisch sei, daher aber auch besonders reizvoll. Schließlich gehe es darum, gesellschaftsrelevante Themen fürs Musiktheater zu erschließen. Damit werbe man auch um ein jüngeres Publikum im Musiktheater.

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Im Übrigen sei Bielefeld das einzige Theater in Deutschland, das über ein spartenübergreifendes Nachwuchs-Studio verfüge. Jeweils eine Person aus dem Bereich Gesang, Schauspiel und Tanz erhalte hier Weiterbildungsstipendien, lerne gemeinsam und würde für die unterschiedlichsten Produktionen in den verschiedenen Genres eingesetzt. Nadja Loschky träumt davon, dass man irgendwann nicht mehr über Sparten spricht, sondern nur noch über den gemeinsamen gelungenen Theaterabend.

Seit 2019 gibt es am Bielefelder Theater eine Diversitätsbeauftragte. Damit gehört das Haus zu einem der ersten, das auf so umfassende gesellschaftskritische Themen und Probleme wie Gleichstellung und Rassismus konstruktive Antworten sucht. Man sei dadruch sensibler und genauer geworden bei der Stück- und Themenauswahl und bei Castings, erklärt Loschky. Flache Hierarchie habe sie in Bielefeld immer erlebt, aber der neu eingerichtete Posten habe den klaren, respektvollen Umgang in allen Bereichen nochmals gestärkt. Kalajdzic will das Haus in zwei Jahren verlassen, 15 Jahre hat er dann in Bielefeld verbracht. Man solle gehen, wenn es am schönsten ist, bevor die Abnutzungserscheinungen eintreten, erklärt er lächelnd. Die Atmosphäre am Haus habe er immer als besonders empfunden. Das Bielefelder Special, sagt er zum Abschluss, sei die Neugierde und Leidenschaft, die Künstler wie Musiker hier an den Tag legten.

Ein Stock darüber in Probebühne 1 steht noch das Bühnenbildmodell für Zazà auf einem Tischchen. Ich erkenne den ausgedörrten Grasboden und das Zirkuszelt wieder. Figurinen hängen an der Wand, eine Gruppe von Artist:innen soll in der Inszenierung später Zirkuseinlagen performen, sagt Nadine Brockmann. Die Assistentin des Intendanten will sogar in ein Tanzbär-Kostüm schlüpfen: »Es ist nicht so, dass wir alle auf die Bühne müssen«, erklärt Nadine Brockmann. »Aber wenn man will, gibt es Möglichkeiten!«

Die Frau aus dem Eis • Foto © Sarah Jonek

Auf der Bühne sind inzwischen die Kulissen für Die Frau aus dem Eis (Anthropocene) aufgebaut. Die Kostüme der Sängerinnen und Sänger sind inspiriert von Funktionsanzügen, Futurismus und barockem Pomp und hängen auf Kleiderständern an der Seitenbühne bereit. Von der Bühne aus betrachtet sieht der steile Rang tatsächlich so aus, als müssten die Zuschauer:innen übereinandergestapelt dem Treiben auf der Bühne zusehen. Wenn der Orchestergraben hochgefahren ist, die komplette Bestuhlung genutzt wird, gibt es 725 Plätze. »Aber meistens arbeiten wir mit 639«, erklärt Nadine Brockmann, weil Vorderbühne und Orchestergraben auch bespielt werden.

Als die »Frau aus dem Eis« abends wie Ötzi aus einer Gletscherspalte gezogen wird, denke ich an das vereiste Fabergé-Ei auf dem Parsifal-Bildschirm-Tryptichon. Während »Ice«, umringt von ruhmsüchtigen Forschern, langsam wieder zum Leben erwacht, beginnt die selbstsüchtige Crew mit jedem Atemzug mehr zu erstarren. Die Frau aus dem Eis (Anthropocene) des schottischen Komponisten Stuart MacRae fügt sich seltsam nahtlos an Wagners Bühnenweihspiel Parsifal. So wie Wagner Gurnemanz in seiner letzten Oper wie den Evangelisten einer Bach-Passion auftreten lässt, zitiert auch Welsh tradierte Opernformen: Wenn der Selfie-süchtige King Harry, den Lorin Wey als blondgefärbten Farinelli-Wiedergänger gibt, in einer hysterischen Koloratur-Arie die Unsinkbarkeit seines Schiffes preist. Oder wenn die geheimnisvolle Ice (von Veronika Lee mit glasklar schmelzendem Sopran gesungen) erstmals ihren Namen buchstabiert – in zarten Seufzern, die an ein altes Madrigal erinnern. Beide Werke, Parsifal wie die Frau aus dem Eis, fragen nach dem Sinn des Opfers. Während Parsifal am Ende selbstbestimmt seine Waffen niederlegt, seine frühere Identität opfert, um nun der neue Gralshüter zu sein, wurde Ice in Anthropocene einst als das am meisten geliebte Kind zum Opfer erkoren, um die Katastrophe abzuwenden. Diese lässt sich nun nicht mehr aufhalten, denn Lieblosigkeit und Gier der Menschen haben die Umwelt längst zerstört. Ice entzieht sich als lebendig gewordenes Relikt einer erneuten Opferzuschreibung: »Diese Welt ist schärfer als Eis… ihr seid nicht mein Stamm«, singt sie ätherisch in hohen, lange gehaltenen Tönen, markerschütternd eindringlich, bevor sie ihren Bühnenpartnern und dem Publikum den Rücken zuwendet und im Black verschwindet. Ein Plädoyer dafür, dass man den Katastrophen der Welt nur mit der Kunst begegnen kann, einer unbestechlichen Kunst. In Bielefeld zumindest wagt man eine solch große Aussage beherzt. ¶