Klassische Musik kann einen treffen wie der Schlag auf den Kopf in Mark Twains Roman Ein Yankee am Hofe des König Artus: Man findet sich plötzlich in einer anderen Zeit wieder. Denn: So oder zumindest so ähnlich – HIPster sei Dank – hat die Musik ja schon vor Jahrhunderten geklungen! Sagen wir, im Jahr 1828 bei einer Schubertiade in einem Wiener Salon der Familie von Schober. Die Aura reist konserviert in der Zeitkapsel zu uns, wir reisen mit ihr zurück. Und manchmal bleiben wir in einer Zeitschleife stecken, an einen Ort, an dem wir jetzt gerade lieber wären.
Als Zeitreisender fühlt sich der Pianist Sir András Schiff im Wien der Habsburger so sehr zu Hause, dass ihm die Gegenwart oft zuwider scheint. Er stänkert gegen die ›klangliche Monokultur‹ von Steinway-Flügeln oder den ›Euro-Trash‹ des Regietheaters, die Sprachen zeitgenössischer Musik sind ihm weitgehend fremd geblieben. Mit der Interpretation seines Kernrepertoires – Bach, die Wiener Klassiker, Schubert, Brahms – ist es ihm so ernst, dass er jugendliche Arroganz als persönliche Beleidigung auffasst. Als ihm vor zwei Jahren ein junger russischer Pianist bei einem Meisterkurs beim Verbier Festival ein schlunzig vorbereitetes Bach-Präludium mit viel Pedal vorsetzt, nimmt Schiff ihn eine halbe Stunde lang auseinander: ›You have no idea what you’re doing.‹
Gleichzeitig könnte man Schiff in seiner aus der Zeit gefallenen Widerborstigkeit extrem modern nennen: Die künstlerische Horizonterweiterung war ihm stets wichtiger als pianistische Fachidiotie, an die Trennbarkeit von Politik und Kunst hat er nie geglaubt, ebensowenig wie an Star-Kult und akrobatische Virtuosität. Seine Recitals moderiert er oft selbst, die Programme stellt er spontan zusammen, je nach Lust, Laune und den örtlichen Gegebenheiten. Er hat sich früh mit der Klang- und Artenvielfalt historischer Tasteninstrumente beschäftigt – sein jüngstes Bach-Album hat er auf dem Clavichord eingespielt.
Ich treffe Schiff am Morgen nach einem Kammermusikkonzert bei den Salzburger Festspielen in der Lounge seines Hotels. Die Bar hat noch geschlossen, ein Elektriker repariert die Musikanlage und dreht ab und zu französischen Chanson auf. Schiff spricht ein geschliffenes Deutsch mit melodiösem ungarischen Akzent. Ich merke, wie sehr Schiffs Auftreten seinem Spiel ähnelt: Er spricht leise, fein und auf eine so vornehme Weise gründlich, dass man zum Hinhören gezwungen ist. Dazwischen entfahren ihm fortwährend Sätze voller trockenem Humor und beißender Schärfe.
VAN: Sie sind bekannt für Ihre Ablehnung von Musikwettbewerben. 1974 haben Sie mit 20 am Tschaikowski-Wettbewerb in Moskau teilgenommen. Wie kam es dazu?
András Schiff: Ich war damals schon alles andere als ein Wettbewerbsmensch, ich bin auch heute noch vehement dagegen. Man muss Alternativen suchen. Aber als ich jung war, gab es im kommunistischen Ungarn keine Alternativen. Ich wurde vom Kultusministerium angerufen und die Referentin sagte: ›Genosse Schiff, Sie fahren nach Moskau.‹ Da gab es kein Entkommen. Zu sagen: ›Ich möchte nicht, das Repertoire liegt mir nicht besonders‹, war keine Option.
Sie haben unter anderem Werke von Liszt, Rachmaninow und Tschaikowsky gespielt, Repertoire, um das Sie im weiteren Verlauf Ihrer Karriere meist einen großen Bogen gemacht haben.
Ja, das Programm von einem Tschaikowski-Wettbewerb ist eben sehr anders. Ich musste einfach hingehen und das Beste draus machen.
Sie haben öfter darüber gesprochen, dass Sie in Ihrer Jugend das Gefühl hatten, bestimmten Werken noch nicht gerecht werden zu können. Gibt es für Studierende eine ›richtige‹ Reihenfolge, Repertoire zu lernen?
Ich finde, man sollte warten. Ich werde jetzt mit 70 zum ersten Mal die Kunst der Fuge spielen, nachdem ich mein ganzes Leben lang wirklich fast alles von Bach gespielt habe, jeden Takt. Heutzutage gibt es Kinder, die schon die späten Beethoven-Sonate spielen oder die Goldberg-Variationen. Es gibt Vierzehnjährige, die nicht einmal eine zweistimmige Invention gespielt haben, aber die Kunst der Fuge in einer Woche lernen … Das kann man nicht ernst nehmen. Wir gehen auch nicht hin, wenn ein achtjähriges Kind eine philosophische Vorlesung hält oder ein Vierzehnjähriger den König Lear spielt. Aber in der Musik wird das alles irgendwie toleriert.
Wenn Sie über Beethoven oder Bach sprechen, benutzen Sie oft die Metapher des ›Gipfels‹. Wo hört Demut vor diesen ›Gipfeln‹ auf und fängt Erstarrung an?
Ich finde, Demut schadet nicht. Es gibt einen breiten Korridor zwischen Demut und Arroganz. Sehr breit. Es gibt verschiedene Beethoven-Sonaten, die ein junger Mensch wunderbar spielen kann. Ein junger Mensch kann die Töne von Opus 111 spielen, aber es fehlt die Erfahrung, mich als Zuhörer interessiert einfach nicht, was er darüber zu erzählen hat. Man kann in der Jugend anfangen, diese Werke zu lernen, aber man muss sie nicht sofort auf CD aufnehmen, wie das manche tun.
Sind ›richtig‹ und ›falsch‹ Bewertungskategorien, die Sie an Interpretationen anlegen?
Oh ja. Es gibt objektive Kriterien, an die ich sehr fest glaube. Der Komponist ist wichtiger als der Interpret, und ein Werk hat seine Gesetze, daran glaube ich. Die Form, die Struktur, die harmonische Welt, die Dynamik, das Rhythmische. Diese Gesetze bilden den Rahmen, den der Komponist geschaffen hat und den ich als Interpret zum Klingen bringen muss. Diese Rahmen sind manchmal sehr flexibel. Bach ist zum Beispiel sehr großzügig, er gibt kein Tempo an, er gibt keine Dynamik an, es gibt in den Noten sehr wenige Instruktionen. Wir Interpreten müssen das ergänzen. Je näher wir der Gegenwart kommen, desto weniger frei sind wir.
Mögen Sie das besonders an Bach, die Freiheit?
Ja, absolut. Die Großzügigkeit, die Spiritualität und die Freiheit. Sie können eine Bach-Fuge in ich weiß nicht wie vielen Tempi und Charakteren spielen und es wird, wenn es gut gemacht ist, überzeugend sein. Das können sie schon bei einem Mozart-Stück wirklich nicht machen.
Ihr Kernrepertoire wird seit 200, 300 Jahren auf verschiedene Weisen interpretiert. Glauben Sie, dass die Interpretationsgeschichte mittlerweile eher kreisförmig verläuft und immer wieder alles von vorne beginnt, oder kann es noch wirklich Neues geben?
Ich glaube fest daran, dass es eine Evolution gibt. Ein wirklich großartiges Werk ist niemals ausgeschöpft. Allerdings brauchen wir auch großartige neue Kompositionen. Wenn ich mich allerdings frage, welche musikalischen Meisterwerke seit dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind, die sich bewiesen haben und im Repertoire bleiben, dann wird das eine ziemlich kurze Liste, fürchte ich.
Glauben Sie wirklich, dass das an der Qualität der Werke liegt?
In der Literatur ist es ja ganz anders. Man könnte eine sehr lange Liste fantastischer Romane der letzten 80 Jahre aufzählen. Die Sache ist die, dass in der Literatur die Sprache dieselbe geblieben ist, während die Musiksprache sich seit dem Zwölftonsystem radikal geändert hat.
Aber war die Musiksprache nicht an einem Endpunkt angelangt, an dem diese Änderung notwendig schien?
Das war wirklich notwendig und ich bewundere das sehr, aber als Schönberg gesagt hat, dass in ein paar Jahrzehnten der Schustergeselle seine Zwölfton-Reihen auf der Straße pfeifen würde, da hat er sich enorm geirrt. Wer pfeift seine Reihen? Irgendwie ist die Sprache verloren gegangen, oder es ist eine neue Sprache gekommen, die die Leute nicht sprechen. Dazu gehöre auch ich, ich bin noch in der Tonalität aufgewachsen, in der Tonalität hat man eine Orientierung. In der Sonatenform kommt man von der Tonika auf die Dominante, dann kommt eine Durchführung, da kommt die Reprise, ›aha, wir sind wieder Zuhause‹. Wo ist in der Zwölftonmusik das Zuhause?
In der Bildenden Kunst gab es dieses ›Zuhause‹ ja auch irgendwann nicht mehr. Trotzdem ist sie im Vergleich zu zeitgenössischer Musik sehr populär.
Da haben Sie Recht. Ich habe darüber sehr viel nachgedacht. Warum strömen die Leute in eine zeitgenössische Kunstausstellung oder die Art Basel, aber bei zeitgenössischer Musik nimmt das Publikum oft so eine automatische Abwehrhaltung ein? Das liegt, denke ich, auch daran, dass es in der Bildenden Kunst eine kommerzielle Seite gibt, das Geld spielt eine große Rolle, die Leute kaufen moderne Kunst als Investment. Die Ablehnung neuer Musik finde ich auch sehr unfair, man muss ihr mindestens eine Chance geben, eigentlich mehrere Chancen, denn wenn man ein Musikstück nur einmal hört, fährt es vorbei wie ein Schnellzug.
Geben Sie ihr diese Chance?
Ich habe schon Stücke von Heinz Holliger, Jörg Widmann, Elliott Carter oder György Kurtág gespielt. Letzterer war zehn Jahre lang mein Lehrer, seine Sprache ist mir sehr bekannt und ich halte ihn für den vielleicht größten lebenden Komponisten. Aber ich habe manchmal ein schlechtes Gewissen, dass es nicht reicht. Ich möchte mehr neue Musik spielen, aber es gibt tatsächlich wenig, die ich wirklich schätze, die mich anspricht. Ich kann nicht etwas nur aus Pflichtgefühl spielen. Und außerdem muss ich mein Hauptrepertoire pflegen. Niemand kann ja alles machen, wir sind begrenzt.
Es gibt Kollegen von Ihnen, die fast alles spielen.
Ich finde nicht, dass das geht. Man muss selbstkritischer sein. Ich weiß ganz genau, was mir liegt. Liszt und Rachmaninow liegen mir überhaupt nicht, ich schätze das auch nicht, obwohl es fantastische Klavierkomponisten sind. Aber es gibt genug Leute, die das gut können und auch lieben. Warum müssen jetzt alle Mozart spielen, und wie viele Leute spielen gut Mozart? Einfach aus Pflicht, weil man gefragt wird, aber ahnungslos? Oder auch Beethoven, Bach …
Sie hadern oft mit der ›verarmten‹ Gegenwart, zum Beispiel damit, dass es Künstlerpersönlichkeiten wie Ihren Lehrer George Malcolm heutzutage nicht mehr gebe, alles zu schnelllebig und unterhaltungsfixiert geworden sei. Sind Sie eigentlich ein Kulturpessimist?
Ich bin kein Pessimist, aber ich habe eine gewisse Nostalgie für eine bestimmte Zeit. Mir geht es ein bisschen wie dem Ich-Erzähler in Die Welt von Gestern. Ich habe die Zeit ja nicht erlebt, aber meine Eltern und Großeltern. Auch wenn ich Joseph Roth lese, Radetzkymarsch, das kann ich nachfühlen, es gibt eine Art indirekte Nostalgie bei mir. Es gab viele Probleme in der k.u.k.-Monarchie, aber trotzdem, diese gemischten, wunderbaren Kulturen, aus Bosnien, aus Kroatien, aus Ungarn, aus Böhmen, diese Vielfalt, konzentriert in Wien …
Sie wollen, solange Viktor Orbán an der Macht ist, nicht mehr in Ungarn auftreten. Als Jörg Haiders FPÖ in Österreich an der Regierung beteiligt war, sind Sie eine Weile nicht in Österreich aufgetreten. Mit Ihrem Freund Ádám Fischer habe ich vor kurzem darüber gesprochen, ob man in China auftreten sollte. Würden Sie in Thüringen auftreten, wenn die AfD dort nächstes Jahr die Landtagswahl gewönne?
Gute Frage, richtige Frage. Wenn man ganz konsequent ist, bleiben sehr wenige Orte, an denen man auftreten kann. Zu meiner amerikanischen Agentur meinte ich damals: ›Wenn Donald Trump wiedergewählt wird, komme ich nicht mehr in die USA.‹ Das ist Gottseidank nicht so gekommen, aber vielleicht jetzt. Ich kann solche Dinge nicht akzeptieren, einen Donald Trump, das geht zu weit. Aber wir sind ganz kleine Pünktchen. Was wir tun und lassen, hat keine Auswirkungen, sondern ist eher für das eigene Gewissen. Aber das eigene Gewissen ist sehr wichtig.
Würden Sie derzeit in Russland auftreten?
Ich war früher sehr viel in Russland, wenn man mich fragte: ›Wo spielen Sie am liebsten?‹, habe ich immer automatisch gesagt: ›In Russland.‹ Ich habe dort ein Publikum erlebt wie nirgendwo sonst auf dieser Welt. Und gleichzeitig ist es für mich ganz eindeutig, dass man heute nicht nach Russland fahren darf. Ich bin ganz baff, dass manche das nicht so empfinden. Stellen Sie sich vor, 1938 oder 1940 hätte man gesagt, und das haben viele gesagt: ›Dieser Hitler gefällt mir nicht, aber ich trete trotzdem in Nazi-Deutschland auf, weil ich Beethoven, Schiller und Goethe liebe.‹ Und gleichfalls kann ich nicht sagen: ›Ich habe so tolle Freunde in Russland, ich liebe Tolstoi und Puschkin und Tschaikowski und ich fahre dort jetzt hin.‹ Das ist eine Anerkennung des Status Quo. Einmal wird dieser Krieg ein Ende haben, dann fragt man: ›Warum sind Sie in dieser Zeit nach Russland gefahren?‹, und dann sagt man: ›Oh, das haben wir nicht so gemeint.‹ Das haben wir alles erlebt nach dem Zweiten Weltkrieg.
Wären Sie nach dem Krieg mit Furtwängler aufgetreten, wie es Yehudi Menuhin gemacht hat?
Mit Furtwängler schon, absolut, aber nicht mit Karajan, den habe ich gehasst. Vielleicht war er ein großer Dirigent, aber seine Musik hat mich nie berührt. Noch schlimmer war Böhm. Der war ein ganz schlimmer Nazi. Man hat aus dem Fall Furtwängler eine große Sache gemacht, aber Böhm hat überhaupt keine Probleme bekommen. Er hat sofort nach dem Krieg wieder dirigiert, das ist mir ein Rätsel, das soll mir mal jemand erklären.
Seit einigen Jahren dirigieren Sie auch mehr und mehr vom Klavier aus. Was ist Ihr Verständnis von sich selbst als ›Dirigent‹, haben Sie da ein Rollenmodell?
Ich halte mich nie für einen Dirigenten. Ich dirigiere, weil es mich sehr interessiert, es faszinieren mich diese Werke und ich lerne wahnsinnig viel davon. Ich finde, das Dirigieren hat meinen musikalischen Horizont erweitert, das Klavierspiel hat davon profitiert.
In einem älteren Interview haben Sie einmal gesagt: ›Zuerst die Bachkonzerte, dann die Mozartkonzerte. Jetzt auch schon die Beethovenkonzerte und sogar schon das Schumannkonzert. Aber damit ist die Grenze erreicht, schon ein Brahmskonzert kann ich nicht mehr dirigieren.‹ Jetzt haben Sie gerade beide Brahms-Konzerte aufgenommen und dabei das Orchestra of the Age of Enlightenment dirigiert. Wohin geht Ihre Reise als Dirigent?
Damit ist wirklich die Grenze erreicht. Bartóks 3. Klavierkonzert habe ich einmal mit dem Chamber Orchestra of Europe gemacht, mit einem fantastisch guten Kammerorchester, wie auch das Orchestra of the Age of Enlightenment eines ist, geht das. Aber ich möchte daraus keine Regel machen.
Wie sehr haben Sie als Solist unter Dirigenten gelitten?
Nicht nur, ich habe auch mit großartigen Dirigenten gespielt, aber heute … na ja, es ist keine goldene Zeit. Es gibt auch heute tolle Dirigenten, Ádám Fischer, seinen Bruder Iván, Simon Rattle, aber nicht so viele wie früher. Mich beängstigt die Tendenz, dass wir jetzt fast einen Kindergarten an den Pulten haben, besonders in den USA. Wir sprachen eben von Demut, was ist ein 20-jähriger Dirigent? Vielleicht ist er eine große Begabung, aber Erfahrung?
Und unter Orchestern?
Die Orchester sind verdammt gut heute und haben ein sehr hohes Niveau. Leider stimmt das System nicht. Man kommt zu einem großen Orchester, da sitzen diese Menschen mit einer Langeweile im Gesicht, und ich denke: ›Mein Gott, sie waren auch Studenten in der Musikakademie mit strahlenden Augen, mit brennender Begeisterung, wo ist das hin?‹ ›Ach wissen Sie, wir haben Dienst und schauen auf die Uhr, mein Gott, wann ist diese Probe endlich vorbei?‹ Das geht so nicht weiter.
Wie lässt sich das auflösen?
Am Geld liegt es nicht, viele Orchestermusiker verdienen nicht so schlecht. Die Sache ist: Als sie jung waren, waren sie frei und unabhängig, dann kommt man in so eine Gemeinde, besonders wenn man Streicher ist, und spielt in einer Gruppe, dann muss man einen Teil der Individualität aufopfern für die Mannschaft. Ich habe das nie gemacht, ich versuche es aber nachzufühlen. Wenn ich Orchestermusiker wäre, gäbe es zwei furchtbare Situationen: Entweder ich muss ein Stück spielen, das ich hasse, Carmina Burana, das ist für mich das Nonplusultra von abscheulicher Musik. Trotzdem kann ich als Orchestermusiker nicht sagen: ›Diesen Mist spiele ich nicht.‹ Ich muss. Oder es kommen die Jupiter-Sinfonie und ein Dirigent, der sie kaputtschlägt und trotzdem muss ich irgendwie funktionieren. Nicht einfach.
Bei Recitals geben Sie das Programm mittlerweile oft erst am Abend selbst bekannt. Wieso?
Das ist ähnlich wie bei der Frage nach den Orchestern. Ich möchte, dass es da mehr Flexibilität gibt. Vielleicht gebe ich die Komponisten vorher an, vielleicht nicht einmal die. Das gibt mir eine große Freiheit. Ich habe sehr viele Programme im Kopf und in den Händen, aber ich kann nicht zwei Jahre im Voraus wissen, ob ich an diesem Abend in Wien Lust habe, diese oder jene Mozart-Sonate zu spielen. Ich muss in den Saal kommen, das Instrument ausprobieren und dann zum Beispiel feststellen, dass in diesem Saal die Sturm-Sonate fantastisch klingt, aber die Waldstein-Sonate woanders besser. Ich moderiere dann den Abend und stelle das Programm dem Publikum vor. Nie mit dem erhobenen Zeigefinger, weil da Menschen sitzen, die das besser kennen als ich, und jene, die das zum ersten Mal hören, da muss man die goldene Mitte finden. Ich glaube, diese Art der Spontaneität und Überraschung ist eine Auflockerung dieses ganzen steifen Rituals des Klavierabends. ¶