Claudia Sessa, wohl um 1570 in Mailand oder Umgebung geboren, ist die letzte musikalische Nonne unserer Serie – nach den großartigen Künstlerinnen Chiara Margarita Cozzolani (1602–1676/78), Isabella Leonarda (1620–1704), Lucrezia Orsina Vizzana (1590–1662), Vittoria Raffaella Aleotti (1575– nach 1646), Caterina Assandra (um 1590– nach 1618), Rosa Giacinta Badalla (1660–1710) und Alba Trissina (ca. 1590).

Der 1665 heiliggesprochene Fürstbischof, Mystiker, Kirchengelehrte und Ordensgründer (der Ordensgemeinschaft der Schwestern von der Heimsuchung Mariens) Franz von Sales (1567–1622) reiste 1612 nach Mailand und war höchst beeindruckt von der musikalischen Qualität in den Kirchen der Stadt. Robert L. Kendrick erwähnt in The Sounds of Milan, 1585–1650, dass eben jener legendäre Franz von Sales das Talent einer Nonne ganz besonders heraushob; eine einzelne Nonne, deren Gesang »alle an geistlicher Inbrunst übertraf«. Kendrick vermutet, dass mit eben jener Ordensfrau niemand Geringeres als Claudia Sessa gemeint sein müsste.

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Sessa kam als Kind einer adeligen Familie zur Welt. Weitere bedeutende Persönlichkeiten erwähnen – so Kendrick – Sessa in Reiseberichten und anderen Zusammenhängen, so auch der niederländische Humanist und Philologe Erycius Puteanus (1574–1646), der Sessas große musikalische Fähigkeiten als allgemeines Zeichen für den Wert der Mailänder Vokalmusik zu dieser Zeit heraushob. Überhaupt sei der Gesang der Frauen des Mailänder Konvents Santa Maria Annunciata »die höchste Form von Musik und Gebet in der Stadt« gewesen. Auch der deutsche Theologe, Komponist, Kölner Universitätsrektor, Dichter und Bibelübersetzer Caspar Ulenberg (1548–1617) würdigte Sessa, ja: »Sessas Ruhm war so groß, dass […] Ulenberg ihren Namen am Rande eines Traktats eigens notierte«. 

Und eben jene Berühmtheit, der musikalische Stolz Mailands um 1600 – also zur Zeit der »Entstehung der Oper« im »unweiten« Florenz – komponierte auch! Doch nur zwei Kompositionen – genauer: Motetten, also wortauslegende Gesangsstücke – der um 1618 verstorbenen Claudia Sessa sind überliefert worden. Diese starke Persönlichkeit konnte es sich sogar leisten, ein exklusives Angebot von Königin Margarete von Spanien (1584–1611) abzulehnen. Sessa wollte, statt am spanischen Königshof zu arbeiten, lieber in ihrem (musikalischen) Kloster in Mailand bleiben, um hier Musik aufzuführen, zu organisieren und zu schreiben.


Claudia Sessa (ca. 1570– ca. 1617/19)
Occhi io vissi di voi (1613)

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Eine der zwei überlieferten (1613 im Druck erschienenen) Motetten ist Occhi io vissi di voi. Auf einem Bass, der sich zunächst auf längsten Notenwerten ausruht, erhebt sich die Gesangsstimme – und vielleicht versetzt man sich zur Hörlektüre am besten gedanklich ins Kirchenschiff des Mailänder Klosters Santa Maria Annunciata zu dieser Zeit, als die berühmte Claudia Sessa erstmals genau diesen Gesang vortrug. Denn relativ sicher wird Sessa auch die Uraufführungsinterpretin ihrer eigenen Musik gewesen sein (wobei man im klösterlichen Umfeld den Begriff der »Uraufführung« natürlich nicht verwendete).

Der Text stammt von einem Angelo Grilli, der sich in seinem Gedicht zunächst den Augen von Jesus widmet. Es ist seine Mutter, die Jungfrau Maria, die hier zu uns spricht (oder nein, anders: uns weinend ansingt): »Deine Augen, Jesus, haben meinen Geist gestärkt. Als du noch als Sterblicher unter uns warst, der du nun von uns gegangen bist. Ich lebe durch deinen Tod: traurige Nahrung, die meine Qualen nährt. Und ich kann mich nicht freuen, kann den Schmerz deines Märtyrertodes nicht ertragen.«

Der Gesang über den langen Bass-Werten fühlt sich erst ganz asketisch an; verharrend auf nur einem einzigen Ton: betend, mitfühlend, Einkehr haltend, jegliche Eitelkeiten oder Selbstgefühle eigentlich von sich weisen wollend. Dann löst sich bald die Gesangsstimme vom Bass – und vollzieht mit diesem eine (göttliche Terz-)Linie nach oben. Im heiligen Verbund (von Mutter und Sohn). Das Individuum der zurückgebliebenen Mutter wird transzendiert, wird qua Partitur emporgehoben zu ihrem verstorbenen Sohn. Mehrmals springt die Gesangsstimme wieder ein paar Stufen hinunter, um jeweils neue aufstrebende Linien (gen Himmel) zu beschreiben, dabei immer virtuoser werdend, ja, sich sogar immensen Koloraturen hingebend. Die längste Koloratur finden wir anlässlich des Wortes »gioire« (»freuen«). Trotz aller Trauer, allem Leid: Am Ende bleibt der Frieden und das Glück – oder, wie es in Friedrich Schillers »Die Jungfrau von Orleans« heißt: »Hinauf – hinauf – Die Erde flieht zurück – / Kurz ist der Schmerz und ewig ist die Freude.« Die Frage ist, ob dieser Trost zu Lebzeiten nur Gläubigen zuteil werden kann – oder ob, durch eben solch wunderschöne Musik wie die von Claudia Sessa, wir per se erhoben werden. Ist die Erinnerung an die Momente, in denen wir glückliche Aufführungen derartiger Werke erlebten, nicht letztlich »bleibender« als jede (bange?) Hoffnung auf eine mögliche (gruselige?) »Ewigkeit«?

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.