Im Jahr 1575 wurde Rudolf II. zum König von Böhmen und zum römisch-deutschen König gewählt. Portugiesische Siedler:innen gründeten die Stadt Luanda: die heute fast sieben Millionen Einwohner:innen zählende Hauptstadt von Angola. Und in Italien erschien Torquato Tassos legendäres Epos La Gerusalemme liberata (Das befreite Jerusalem), das die Story um die sarazenische Zauberin Armida enthält und später sehr häufig vertont wurde, so (in Teilen) von Claudio Monteverdi, Jean-Baptiste Lully, Antonio Vivaldi, Georg Friedrich Händel, Christoph Willibald Gluck und Joseph Haydn – bis hin zu Gioachino Rossini, Johannes Brahms und Antonín Dvořák. Tasso schrieb 1575 also ein Stück große Literatur, das Anlass war für eine ganze Armada von Armidas.

Genau in diesem Jahr (mutmaßlich Ende September 1575) wurde Vittoria Raffaella Aleotti geboren. Die Taufe fand am 22. September des Jahres im nordostitalienischen Ferrara statt. Im elterlichen Hause – Vater Giovanni Battista Aleotti (1546–1636) war Architekt und Ingenieur – wurde viel musiziert. Laut Karola Weil entdeckte man das Talent Vittoria Raffaella Aleottis im Alter von vier oder fünf Jahren: Sie hörte ihrer älteren Schwester beim Cembalospiel zu – und verlangte daraufhin, ebenfalls das Spiel an diesem Instrument zu erlernen.

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Ausgebildet wurde Aleotti vom zweiten Hofcembalisten am musikgeschichtlich höchst bedeutenden Hof der Este in Ferrara in der Emilia-Romagna: Alessandro Milleville (1521–1589). Möglicherweise war er es, der den Eltern Aleottis empfahl, die Verantwortung für die musikalische Ausbildung ihrer Tochter den Menschen im Kloster San Vito von Ferrara zu übergeben. Offenbar aus freien Stücken entschied sich Aleotti schließlich mit 14 Jahren, im Kloster zu bleiben. 1591 – Aleotti war 16 Jahre alt – erschien eine Notensammlung von fünf Madrigalen aus der Feder der Künstlerin. Ein höchst ungewöhnlicher Umstand. Autorin Karola Weil schreibt über die weiteren musikalischen Unternehmungen Aleottis: »Zwei Jahre später, 1593, erschien die aus 21 Madrigalen bestehende Sammlung Ghirlanda de madrigali a quatro voci – unter dem Namen Vittoria Aleotti. Ihr Vater widmete die Sammlung dem Marchese Ippolito Bentivoglio, seinem Förderer und Auftraggeber als Architekt und Ingenieur. In dessen Haus hatte Aleotti den Conte del Zaffo aus Venedig kennengelernt. Dieser, so schreibt Aleotti, habe die Madrigale so schön gefunden, dass er sie veröffentlichen wollte und Vittoria um ein Vorwort gebeten. Aber Vittoria habe sich nicht mehr um ›diese weltlichen Dinge‹ kümmern wollen und ihn, den Vater, um ein Vorwort gebeten.« Weitere Werksammlungen Aleottis erschienen in den Folgejahren im Druck.

Im Kloster San Vito fand Aleotti hervorragende Bedingungen vor. Hier herrschte ein äußerst hohes Niveau in Sachen Orgelspiel, Gesang und sogar Orchesterarbeit. Einige Quellen belegen die große Kompetenz der Nonnen dieses Klosters, mehrere Male wird sogar explizit Aleotti hervorgehoben und besonders gelobt. 

Wie lange Vittoria Raffaella Aleotti genau lebte, ist nicht bekannt. Vermutlich starb sie – »hoch betagt«, wie es heißt – nach dem Jahr 1646.

Vittoria Raffaella Aleotti (1575 – nach 1646)
Per voi, lasso, conviene (1593)

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Aus der besagten – 1593 erschienenen – Madrigal-Sammlung Ghirlanda de madrigali a quattro voci – entstammt auch das vierstimmige Madrigal Per voi, lasso, conviene (Textdichter:in: nicht bekannt). Der Text macht einen erstaunlich weltlichen Eindruck, bedenkt man die klösterliche Herkunft der Vertonerin: »Für dich ist es wert, dass ich lebe und atme. Die deinigen Schmerzen sind auch meine, so auch die Tränen und die Seufzer.« Wobei der Text selbstverständlich auch als geistliche Herzensergießung zu den Füßen des am Kreuze blutenden Jesus Christus bildlich deutbar ist – insbesondere angesichts der ja immer auch gleichsam virtuellen »amourösen« Hingebung einer Nonne an den fleischgewordenen Sohn Gottes.

In dem äußerst attraktiven Mix von Prima und Seconda Pratica hören wir zunächst einen akkordischen, homophonen Beginn. Die Nachdrücklichkeit, die weltabgebende Dringlichkeit des Textinhalts wird Klang, wird drängende Harmonik. Anschließend splitten die Stimmen sich – nach Art der Prima Pratica – auf: imitatorisch, aber stets mit der Anmutung eines freien »Kanons«, in dem sich die Stimmen ganz eigen und individuell weiterentwickeln. Eine ganz typische Komposition ihrer Zeit, aber meister:innenhaft gearbeitet für eine Komponistin so jungen Alters! ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.