Der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus (1928–1989) wurde in seinem umfangreichen Oeuvre nicht müde zu betonen, dass der Begriff des »Genies« erst durch den franko-flämischen Renaissance-Komponisten Josquin Desprez (ca. 1450/1455–1521) in die (Musik-)Geschichtsbücher eindrang. Das wiederum bedeutet nicht, dass alle Genies nach Josquin auch flächendeckend als solche erkannt/benannt wurden. Eine komponierende Frau aus Italien, die (meist als Mädchen oder junge Frau schon) in ein Kloster eintreten musste, war auf eine merkwürdige Weise vom (undenkbaren) Status einer potentiell überhaupt frei schöpferischen Frau (noch undenkbarer: eines weiblichen Genies) »entkoppelt«, weil als Nonne gleichsam ohnehin »kontrollierbar«. Nonnen konnte man in den vergangenen Jahrhunderten eine gewisse kreative Freiheit hinter Klostermauern zugestehen, waren Ordensfrauen doch durch Bedeckung, Gelübde und Tradition per se von sinnlich-schöpferischen Weiblichkeitskonnotationen ausgenommen. Für erotische Sujets bot sich diesen Künstlerinnen nur eine Muse an: Jesus Christus, dessen (auch körperliche) Anziehung sie in Kunstwerken zum Ausdruck brachten. »Wenn ein Mann, dann ER!«

Im Zeichen des Betrachtens der Biographien einiger komponierender Nonnen, wie auch angesichts von Alba Trissina, spiegelt sich das Verdrängen weiblicher Kreativität schon in der marginalen Überlieferung jedweder Fakten wider (obwohl in Klöstern tendenziell besser Buch geführt wurde als anderswo). Von Trissina weiß man wenig mehr, als dass sie um 1590 geboren wurde und irgendwann nach 1638 starb.

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Trissina verbrachte ihr Leben als Karmeliterin im Kloster Santa Maria in Aracoeli in Vicenza (zwischen Verona und Venedig gelegen). Hier war sie von 1636 bis 1638 Äbtissin. Und hier hatte sie bei dem komponierenden Priester Leone Leoni (ca. 1560–1627) Kompositionsunterricht erhalten. Leoni gab eine Reihe von Motetten-Sammlungen im Druck heraus. Vier dieser geistlichen Motetten stammen von Alba Trissina. Es sind die einzigen Kompositionen Trissinas, die sich erhalten haben. Leoni verehrte die schöpferische Nonne offenbar, denn seine titelseitige Widmung auf dem entsprechenden Druckerzeugnis lautet übersetzt: »In diese Sacri fiori sind die Rosen eingeflochten, die den Gnaden Ihrer edlen Kompositionen lieb sind. Es war daher ganz angemessen, dass ich Ihnen diese ›geistlichen Blumengestecke‹ widmete, weil Sie diese mit Ihrer melodiösen Stimme, Ihren lieblichen Tönen und mit Ihrem anmutigen Gesang und Spiel himmlische Harmonie atmen ließen.«


Alba Trissina (ca. 1590)
Anima mea liquefacta est (1622)

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Die vierte Motette der aus dem vierten Buch von Leonis stammenden Sammlung (Sacri fiori: motetti per cantar nel organo a 2-4 voci) heißt Anima mea liquefacta est. Die Vertonung eines Textabschnitts aus dem biblischen Hohelied: »Aber als ich meinem Freund aufgetan hatte, war er weg und fortgegangen. Meine Seele war außer sich, dass er sich abgewandt hatte. Ich suchte ihn, aber ich fand ihn nicht; ich rief, aber er antwortete mir nicht. Es fanden mich die Wächter, die in der Stadt umhergehen; die schlugen mich wund. Die Wächter auf der Mauer nahmen mir meinen Schleier. Ich beschwöre euch, ihr Töchter Jerusalems, wenn ihr meinen Freund findet, was sollt ihr ihm sagen? Dass ich krank bin vor Liebe.«

Die Musik Trissinas erweist sich als äußerst sinnlich (vom Text ganz zu schweigen). Die ersten gehauchten Worte erklingen sogleich wie ein Echo in einer anderen Stimme. Individuelle Vereinzelung in den Stimmen: anfänglich. Dann ertönen alle Stimmen gleichzeitig. Schön wird somit eine »Zusammenfassung« des bisher »Gesagten« anfassbar. Immer wieder biegen einzelne Stimmen sentimental ab, betonen die alles andere als erfreulichen Umstände des textlich Geschilderten. Das sind wirklich erstaunliche Blumen, die Alba Trissina uns da geflochten hat! ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.