Als Komponistin ließ sich vor dem – dafür ganz anders von Unterdrückung weiblicher Kreativität gekennzeichneten – 18. und 19. Jahrhundert nur hinter geschlossenen Klostermauern in Ruhe – und von eingeführten Persönlichkeiten des musikalischen Lebens der jeweiligen Epochen durchaus respektiert – arbeiten. Auch die mit dem bürgerlichen Namen Isabella Calegari am 6. September 1620 im nordwestitalienischen Novara (Region Piemont) Geborene widmete ihr Leben später Gott. Und der Musik.

Leonardas Vater war der Jurist Giannantonio Leonardi (1584–1640), der adlige Wurzeln hatte und entsprechende Anerkennung in der Provinz Novara genoss. Zu der Familie Leonardi gehörten unter anderem zwei Brüder von Isabella, die hohe Posten in der Verwaltung der Kathedrale von Novara innehatten. Isabellas zwei Schwestern wurden – wie sie im Alter von 16 Jahren – Nonnen im Kloster des Collegio di Sant’Orsola: »tri sestri nel monastero« sozusagen.

Der Konvent von Novara war mehr als nur ein Ort des Betens und Arbeitens. Wie das Wort »Collegio« im Namen andeutet, wurde dort eingehend Lehre betrieben – und so genoss Isabella wohl entsprechende Bildungseinheiten. Möglicherweise, so heißt es, erhielt Isabella Kompositionsstunden bei dem »Maestro di cappella« der Kathedrale von Novara, bei Gasparo Casati (ca. 1610–1641), der eindrückliche sakrale Mini-Dramen komponierte.

  • Die Vermutung, dass Isabella von Casati unterrichtet wurde, liegt nahe, da dieser – als Isabella zwanzig Jahre alt war – eine ihrer Kompositionen in einer Sammlung zusammen mit eigenen Werken publizierte. In einem Dokument aus dem Jahre 1658 schließlich wird Isabella als »Lehrerin der Musik« hervorgehoben. Vielleicht haben ihre meisterlichen Kompositionen zu ihrem hervorragenden Ruf im Konvent zu Novara beigetragen, denn Isabella rückte im Verlaufe ihres Lebens, über das ansonsten wenig bekannt ist, bis an die Führungsspitze des Klosters. Ihre musikalischen Inspirationen schöpfte sie dabei wohl nicht nur aus dem klosterimmanenten Studium anderer Musikdrucke, womöglich durfte Isabella Reisen unternehmen und somit andernorts wichtige Stilstudien betreiben.

    Jedenfalls nahm der bedeutende Komponist, Quellensammler und Lehrer Sébastian de Brossard – Ende des 17. Jahrhunderts Kapellmeister am mächtigen Straßburger Münster – ebenfalls Werke aus der Feder Leonardas in seine wertigen Sammlungen auf und gab überdies noch zu Protokoll: »All die illustren und unvergleichlichen Werke von Isabella sind von großer Schönheit und Anmut, und gleichzeitig äußerst gelehrsam, so dass ich es zutiefst bedauere, nicht all ihre Werke zu besitzen.«

    Isabella starb am 25. Februar 1704 in ihrer Heimat- und Geburtsstadt Novara im stolzen Alter von 83 Jahren.

    Isabella Leonarda (1620–1704)Salve Regina op. 11 (1684)

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    Über zweihundert Werke konnte Leonarda zu Lebzeiten veröffentlichen. Ihre Sonaten für eine – durch Basso continuo unterstützte – Solo-Instrumentalstimme beziehungsweise drei Stimmen op. 16 (Bologna 1693) gelten als eine der ersten Instrumentalkompositionsveröffentlichungen einer Frau überhaupt.

    Ihre Salve-Regina-Komposition op. 11 aus dem Jahr 1684 rückt in der Tat eine einzige Bassstimme in den Vordergrund; diese wird nur vom Basso continuo begleitet. Ein Salve Regina (»Sei gegrüßt, Königin«) – gewissermaßen eine tradierte religiöse, meist der Jungfrau Maria gewidmete Hymne – zu komponieren, gehörte bis in die Zeit populärer Musical-Kompositionen des späten 20. Jahrhunderts zum guten Ton. Gepriesen wird Maria als »Königin«, wobei entsprechende Vertonungen in der Geschichte häufig anlässlich von Trauerfeiern für Geistliche aufgeführt wurden; so kam es auch immer wieder zu Umdichtungen des Textes, bei denen nun Gott beziehungsweise Gottes Sohn anstatt der Mutter Gottes im Mittelpunkt der gesanglichen Huldigung standen.

    Leonardas musikalischer Stil wird als Mischform von prima pratica (Stile antico, »alter Stil«) und seconda pratica (Stile moderno, »moderner Stil«) beschrieben, also als das sozusagen klingende Aufeinandertreffen von alter Renaissance-Polyphonie (bei der die gelehrsame Durchmischung der Stimmen auf Einheitlichkeit und Pracht abzielte) und »neuer« Barock-Dramatik (bei der der häufig solistische Fokus auf den theatralischen Gefühlshaushalt des einzelnen Menschen eingestellt war).

    Der Text des marianischen Antiphons wird verschiedenen Urhebern zugeschrieben: einem Benediktinermönch (Hermann von Reichenau) und mehreren Kreuzzüglern, darunter der berühmteste Zisterziensermönch der Geschichte, Bernhard von Clairvaux (ca. 1090–1153). Gleichermaßen wird in einem Salve Regina der gemeinten Königin (beziehungsweise der König als Gott/Jesus) gehuldigt, wie auch das Elend, der Tod allen Lebens besungen (»Trauernd und weinend seufzen wir in jenem Tal der Tränen.«).

    Aufgrund dieses speziellen textlichen Gefühlsspektrums stehen entsprechende Salve-Regina-Vertonungen häufig im Moll-Ton, so bei dem fast gleichaltrigen Kollegen Leonardas Jean-Baptiste Lully (1632–1687). Eine Generation später legte Alessandro Scarlatti (1660–1725) sogar zwei derartige Kompositionen in Moll vor, eine in c, eine in d.

    So verwundert die c-Moll-Verortung des Salve Regina von Isabella Leonarda nicht. Die ganze Schwere, der Ernst des Augenblicks beschwört die Komponistin schon durch die bassige Besetzung. In trauerunwilligen, sich aber gleichsam mit dem Schicksal abgefundenen Punktierungszögerlichkeiten grüßt Isabella die Königin in Moll. Um die dahinterstehende Dreieinigkeit Gottes musikalisch widerzuspiegeln, wiederholt die Komponistin das zweite »Salve« in direkter Abfolge hin zur dritten Erwähnung. Nachdrückliches Flehen. Auch die endlich vollständig ausgesprochenen, stammelnden Worte »Salve Regina« werden von dem fortsetzenden »Regina Mater« (»Königin Mutter«), von dem das »Regina« – wiederum der Dreiheit Willen – zwei Mal hintereinander erklingt, deutlich, luzide, expressiv abgesetzt. Es ist kein fröhliches Grüßen, sondern eine Rückschau auf den Schmerz Mariens: Die Worte »Regina Mater« erscheinen in Form von gesungenen Abwärtsgesten, denen die Continuo-Stimme in Quasi-Imitation jeweils fast kanonartig folgt. Latent einstimmige seconda pratica grüßt hier noch die ewig imitatorisch durchwirkte prima pratica.

    Dem Wort »misercordiae« (»Barmherzigkeit«) widmet sich Isabella durch eine verschrobene, sprunghafte und doch flehend kriechende Koloratur. Die Barmherzigkeit der Mutter Gottes und Gottes manchmal ausgesprochen unbarmherzige Wege sind eine mysteriöse Angelegenheit. Und hier, bei dem Beginn von Leonardas eindrücklicher Motette, wird das Geheimnis unseres Verhältnisses zu der Gnade beziehungsweise Ungnade von »denen da oben« hochbarocker Ausdruck in Musik. ¶

    ... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.