250 Komponistinnen. Folge 3: Arno Lücker über eine Komponistin des 17. Jahrhunderts.
Die am 27. November 1602 zur Welt gekommene Chiara Margarita Cozzolani war die jüngste Tochter einer reichen Mailänder Kaufmannsfamilie. Chiaras Geburt in Mailand fiel in die Zeit der Herrschaft durch die spanische Habsburger-Dynastie (seit 1556). Es regierte der nicht weiter berühmte Pedro Henriquez de Acevedo. Vermutlich genoss Chiara eine musikalische Ausbildung, jedenfalls könnte sie dereinst früh irgendwie musikalisch positiv auffällig geworden sein. Sehr wahrscheinlich in Kirchenkontexten. Auch ein berühmter Violinist wohnte nebenan – und so ist nicht auszuschließen, dass Cozzolani früh Geigenstunden bekam.
Direkt gegenüber vom Mailänder Dom steht bis heute das im 7. Jahrhundert erbaute Monastero di Santa Radegonda; in dieses Benediktinerinnenkloster trat die 17-jährige Cozzolani 1620 ein und nahm den Ordensnamen Chiara an. Warum man damals ein Kind ins Kloster schickte? Dafür gab es mehrere gewichtige Gründe. Eher selten ging es darum, aus »Spargründen« ein Stück Familie an die Kirche loszuwerden; zumal es den Cozzolanis bisher wirtschaftlich offenbar ganz hervorragend ergangen war. Vielmehr konnte die Abgabe eines Kindes ans Kloster politische, netzwerkerische, imagetechnische Gründe haben. Auch einer reichen Familie stand es gut zu Gesicht, eine Tochter oder einen Sohn hinter sicheren Klerus-Wänden zu wissen. Zudem gehörten zwei Tanten Chiaras bereits dem hiesigen Benediktinerinnenkloster an; und tatsächlich ist überliefert, dass Chiara und Schwester Clara unter Verzicht auf Erbansprüche, worüber sich ihre Brüder freuten, ins Kloster abgeschoben wurden.
Auf der hervorragenden Seite Musik und Gender im Internet (MUGI) wird der weitere, keineswegs erwartbar geradlinige Lebensverlauf der Nonne Cozzolanis beschrieben: So wollte der erzkonservative Erzbischof Litta die Kirchenmusik in seinem Erzbistum künstlerisch kleinhalten. Damit war er nicht allein; wie viele fatale, ängstliche und unmusikalische Kirchenmänner schickte er sich kirchenpolitisch an, »polyphone Auswüchse« zu unterbinden, was schon im Konzil von Trient (1545–1563) zu dem größten musikgeschichtlichen Schaden aller Zeiten geführt hatte. (Kurz gesagt: Man verbot und verbrannte Melodien. Oder Melodieauswüchse. Tausende!) Auf wohl spektakuläre Weise legte sich Erzbischof Litta mit den äußerst musikalischen Nonnen von Santa Radegonda an. Wo bitte bleibt die entsprechende Verfilmung? Ein Spiel um Macht, um die Macht der Musik – und dazu Machtspielchen um die Chor-Herrschaft Mailands! »Games Of Choirs. Die Chor-Mafia der Lombardei«. Doch hören wir in die Musik Cozzolanis hinein.
Chiara Margarita Cozzolani (1602–1676/78)O quam suavis est Domine spiritus tuus (aus: Concerti sacri)
Gleich mehrere ihrer Werkzyklen wurden zu Cozzolanis Lebzeiten prominent im Druck publiziert. Darunter ihre Geistlichen Konzerte (Concerti sacri, 1642). In dem Geistlichen Konzert – einer kürzeren, aufregenden Vorform der Kantate – mit dem Titel »O quam suavis est Domine spiritus tuus« entfaltet Cozzolani ihr ganzes Können in Sachen Ausdrucksreichtum, kraft der Gestaltung von Momenten höchst erquicklicher Abwechslung. Nur selten – witzigerweise am Ende des Melismas beim Worte »demonstrares« – demonstriert die Lombardin Cozzolani ihre Herkunft mittels des berühmten »lombardischen Rhythmus«, bei dem sozusagen eine normale (mitunter »französische«: lang – kurz) Punktierungssituation zweier Nachbartöne expressiv umgekehrt wird (kurz – lang). Noch Antonio Vivaldi und Carl Philipp Emanuel Bach waren ganz vernarrt in den frappierenden Lombardei-Rhythmus.
Rhythmen changieren, Rhythmusmodelle wechseln, Emotionen werden musikalisch schillernd dargebracht. Die Liebe zu Gott: fast erotisch aufgeladen – wozu auch die erforderliche Tones-Höhe (es geht hinauf bis zum dreigestrichenen c) beiträgt. Stets gebietet jedoch die Rückkehr zur religiös-demütigen Schlichtheit kreativ Einhalt in diesem ersten Part, welcher in der Besetzung nur eine Solostimme mit Begleitung von Basso Continuo vorsieht. Die nachfolgenden Teile der reichhaltigen Komposition spielen sich dann fünfstimmig ab: mal in hymnisch-homophoner Gestalt, mal polyphon-expressiv aufgesplittet; vor allem die Unterschiede in den Notenlängen sind äußerst variantenreich. Hier geht eine Nonne ganz aus sich heraus.
Ein Zeitzeuge um 1670 gab über Cozzolani zu Protokoll: »Die Schwestern von Santa Radegonda in Mailand sind mit solch seltenen und ausgezeichneten musikalischen Fähigkeiten ausgestattet, dass sie als die besten Sängerinnen Italiens angesehen werden. Sie tragen die dunklen Gewänder des Heiligen Benedikts, aber dem Hörer erscheinen sie eher als weiße, melodiöse Schwäne, die die Herzen mit Wundern erfüllen und die Zungen mit Entzücken, um ihre Kunst zu preisen. Unter diesen Schwestern verdient Chiara Margarita das höchste Lob für die außergewöhnliche und hervorragende Würde ihrer musikalischen Erfindungen…«
Sogar Humor mag man in diesem geistlichen Werk ausmachen. Während Cozzolanis Kollege Antonio Brunelli (1577–1630) – das Wort »Reichtum« meinend – bei der musikalischen Ausdeutung der gleichen Textzeile »…der du die Hungrigen mit Gütern versorgest, und die Reichen leer ausgehen lässt« sage und höre über fünfzig (!) Melismentöne nur dem Worte »inanes« (auch: »leerer Raum«) angedeihen lässt, bringt Cozzolani die denkbar schlichteste Wendung. Cozzolani deutet »Reichtum« als Nonne – und zwar in dem Sinne, dass aller Reichtum eben nichts, hohl und leer sei. Darum die »leere« Schlusswendung der Komponistin, die sie – auch darin liegt ungehöriger Witz – viermal wiederholt. Eben ausdrücklich nicht göttlich dreifach, sondern »überreich« und schnöde viermal! Während Brunelli dem Wort »Reichtum« sozusagen »naheliegend« auf den Leim geht, bringt uns die mit Gott verheiratete Cozzolani »leeren Reichtum« in Form von vier Quintfall-Schlusswendungen dar, die mit Ansage »absichtlich langweilig« gesetzt sind. ¶