Wenn die Tage kürzer werden, hört man aus allen Kirchen und Konzertsälen das ›Jauchzet frohlocket‹ aus Bachs Weihnachtsoratorium – bestenfalls variiert mit dem Oratorio de Noël von Saint-Saëns oder der Weihnachtshistorie von Schütz. Im besten Fall sorgen die ewig gleichen Gassenhauer für wiederkehrend festliche Stimmung, im schlechteren schlicht für Langeweile. Zum Glück haben sich auch andere Komponistinnen und Komponisten mit Weihnachten beschäftigt – von kleinen stimmungsvollen Miniaturen bis hin zu großen sinfonischen Dichtungen.

Cécile Chaminade: Pastorale Enfantine für Flöte und Klavier

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Cécile Chaminade komponierte nicht nur zum Spaß. Vor allem in den Jahren nach dem Tod ihres Vaters war sie auch finanziell auf die Einnahmen aus ihren Kompositionen angewiesen. Vermutlich schrieb sie auch deshalb massenhaft Gebrauchsmusik, die für musikliebende Amateure leicht an den heimischen Instrumenten spielbar war. Dazu gehört auch die Pastorale Enfantine, eine stilisierte Hirtenmusik, deren Heiterkeit und kindliche Schlichtheit an tanzende Schneeflocken und festliche Idylle denken lassen. 

Johannes Brahms: Geistliches Wiegenlied 

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Das Geistliche Wiegenlied für Viola, Altstimme und Klavier schrieb Johannes Brahms als Geschenk zur Taufe des ersten Sohnes des Star-Geigers Joseph Joachim, der mit der Sängerin Amalie Schneeweiss verheiratet war. Darin zitiert die Viola-Stimme das bekannte Weihnachtslied Joseph, lieber Joseph mein, hilf mir wiegen mein Kindelein – eine Anspielung auf das neue häusliche Glück und zugleich auf den Vornamen des Bräutigams. Die Altstimme verkörpert die Figur der Maria, die ihr Neugeborenes im Arm hält. Sie bittet die Engel des Himmels darum, seinen Schlaf zu bewachen und den Lärm der Welt zu dämpfen. 

Der Ehe zwischen Joseph und Amalie war leider kein dauerhaftes Glück beschieden: Sie zerbrach an der Eifersucht des Geigers, der seiner Gattin ein Verhältnis zu dem Verleger Fritz Simrock unterstellte.


Augusta Holmès: Noël und Noël d’Irlande

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Die irisch-französische Komponistin Augusta Holmès war eigentlich in der großen Form zu Hause: 1889 komponierte sie zum hundertsten Jubiläum der französischen Revolution eine Ode Triomphale für eine Besetzung von über 1000 Musikern und 1895 wurde ihre Oper La Montagne Noire erfolgreich an der Pariser Oper aufgeführt. Auch zwei Weihnachtslieder hat Holmès komponiert: In Noël bekommt ein Kind Besuch von drei Weihnachtsengeln, die es mit allerlei Luxusgütern beschenken: goldenen Perlen, Silberschmuck und Blumen, Paradiesfrüchten und kostbaren Kleidern.

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Wie Noël ist auch Noël d’Irlande musikalisch vergleichsweise schlicht gesetzt, doch der Text hat es in sich: Holmès bekennt sich zu den nationalstaatlichen Bestrebungen ihrer irischen Heimat und hofft, das nächste Weihnachtsfest möge ihr Freiheit und Unabhängigkeit von der englischen Krone bringen.


Franz Liszt: Weihnachtsbaum

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Im Dezember 1848 zeigte die Titelseite der Illustrated London News ein Bild der königlichen Familie vor ihrem Weihnachtsbaum – eine Tradition, die Queen Victorias Prinzgemahl Albert aus seiner deutschen Heimat mitgebracht hatte. Der Baum war mit Bonbongläschen, Lebkuchen, Schleifchen und Glaskugeln behangen. Auf seiner Spitze prangte ein Engel und unter seinen Zweigen lagen Geschenke für die Kinder. Bald wollten es alle vornehmen Familie nachmachen, auch das aufstrebende Bürgertum. Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich die Mode in ganz Europa verbreitet und ein Tannenbaum mit Gabentisch und Lichterschein durften zum Weihnachtsfest in keinem Wohnzimmer fehlen.

Als Hommage an die liebgewonnene Tradition komponierte Franz Liszt im Jahr 1873 zwölf kurze Klavierstücke namens Weihnachtsbaum. Der erste Teil besteht aus Weihnachtsliedbearbeitungen, im zweiten beschreibt ein fröhliches Scherzo das Anzünden der Kerzen, im dritten Teil erklingen nostalgische Abendglocken. Liszt widmete die Suite seiner Enkelin Daniela von Bülow, die als begabte Nachwuchspianistin galt.


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Samuel Coleridge-Taylor: Christmas Overture

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Stimmungsvolles Glockengeläut, himmlische Harfenklänge, üppiger Bläser-Sound: So hochromantisch klingt Samuel Coleridge-Taylors festliche Christmas Overture, basierend auf den Melodien von Hark The Herald Angels Sing und Good King Wenceslas. Veröffentlicht wurde das etwa 6-minütige Orchesterstück erst 1925 – 13 Jahre nach dem frühen Tod des Komponisten. Heute wird von Coleridge-Taylor vor allem die Orchesterkantate Hiawatha’s Wedding Feast gespielt, welche die Geschichte des nordamerikanischen indigenen Kriegers Hiawatha erzählt. 


Hugo Wolf: Schlafendes Jesuskind und Epiphanias

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Liederkomponist Hugo Wolf hatte mit Religion ziemlich wenig am Hut, sondern war wie viele seiner Zeitgenossen ein Anhänger Friedrich Nietzsches. Der Gedanke an dionysischen Rausch und unbezwingbare Übermenschen gefiel ihm einfach besser als die Vorstellung von Erbsünde und Heiland am Kreuz. Den christlichen Traum von Erlösung scheint er trotzdem nie so recht überwunden zu haben – zumindest kreisen auffällig viele seiner Lieder um religiöse Sujets. Acht Stück davon hat der Peters-Verlag sogar in einem Notenband namens 8 Lieder zur Weihnacht veröffentlicht. Mit dabei sind unter anderem Ephiphanias, ein humorvolles Portrait der umherziehenden und trinkfreudigen heiligen drei Könige und Schlafendes Jesuskind, eine andächtige Miniatur über das Kind in der Krippe, auf dessen schmalen Schultern alles Wohl und Weh der Erde lastet.

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Fernande Decruck: Sonate in Cis-Dur, zweiter Satz: Noël

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Die große musikalische Liebe der französischen Komponistin Fernande Decruck galt dem Saxophon – möglicherweise verstärkt durch den Umstand, dass sie mit dem Saxophonisten des New York Philharmonic verheiratet war. Im Laufe ihres Lebens komponierte sie ausschließlich für dieses eine Instrument, darunter auch die Sonate in Cis-Dur für Saxophon und Klavier, deren zweiter Satz aus dem französischen Weihnachtslied Noël Nouvelet zitiert. Sie erschien 1943 und wurde noch im selben Jahr im französischen Radio übertragen.


Peter Cornelius: Weihnachtslieder

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»Ein reicher, schöpferisch begabter Geist tritt uns darin entgegen, ein Künstler, dessen Werk unmittelbar begeisternd in das Tiefste der Menschenseele hineingreift«, lobte die Neue Zeitschrift für Musik im Jahr 1871 eine Veröffentlichung des Komponisten Peter Cornelius. Der hatte gleich einen ganzen Band mit Weihnachtsliedern komponiert, die sich mit verschiedenen weihnachtlichen Themen beschäftigen – vom Weihnachtsbaum, über die drei heiligen Könige bis hin zum Christkind.


Hans Pfitzner: Das Christ-Elflein

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An den meisten Opernhäusern gilt: Weihnachtszeit ist Hänsel-und-Gretel-Zeit. Und das, obwohl der viel gespielte Evergreen von Engelbert Humperdinck bei näherer Betrachtung gar nicht so besonders viel weihnachtlichen Geist atmet: Zwei völlig verarmte Kinder werden von einer Menschenfresserin mit Süßigkeiten bestochen und landen um ein Haar in ihrem Backofen. Zum Glück gibt es in der Welt des Musiktheaters weitaus erbaulichere Stücke, die dazu noch ausdrücklich am Heiligen Abend spielen – zum Beispiel Gian Carlo Menottis Amahl and the Night Visitors und Die Nacht vor Weihnachten von Rimski-Korsakow. Auch Hans Pfitzner schrieb eine waschechte Weihnachtsoper: 1917 feierte seine Spieloper Das Christ-Elflein Premiere. Sie spielt in einem verschneiten Tannenwald, wo eine kleine Waldelfe dem Christkind zur Hand geht. Gemeinsam mit ihm und Knecht Ruprecht besucht sie ein krankes Kind und bringt ihm einen Weihnachtsbaum als Geschenk.


Carl Loewe: Der Hirten Lied am Krippelein

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Carl Loewe hatte ein Faible für dramatisches Storytelling: Er schrieb über 500 Balladen, in denen es von Seeungeheuern, tapferen Rittern und gefährlichen Zauberinnen nur so wimmelt. Wie viele gute Geschichten gehen auch Loewes Balladen nicht immer gut aus. Vielleicht legte Loewe den Hirten in Der Hirten Lied am Krippelein deshalb schon mal die düstere Vorahnung der Passionsgeschichte in den Mund: Bald wirst du groß, dann fließt dein Blut / Von Golgatha herab / Ans Kreuz schlägt dich der Menschen Wuth / Dann legt man dich ins Grab.


Ralph Vaughan Williams: Fantasia on Christmas Carols

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Vaughan Williams hatte ein besonderes Hobby: Jahrelang sammelte er Noten und Aufnahmen von alten englischen Weihnachtsliedern. The truth sent from above, Come all you worthy gentlemen, The First Nowell und Sussex Carol fanden Eingang in die für Chor, Orchester und Bariton-Solo komponierte Fantasia on Christmas Carols von 1912. Weitere traditionelle Weihnachtsweisen veröffentlichte Vaughan Williams 1928 in dem Sammelband Oxford Books of Carols.


Dale Trumbore: Glorious, Glorious

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Wie kaum eine andere Zeit im Jahr laden die Feiertage zu Nostalgie ein. Weil aber früher eben nicht alles besser war, wollen wir zeitgenössische Komponist:innen nicht vergessen. Die in Los Angeles lebende Komponistin Dale Trumbore etwa ist eine gutes Beispiel dafür, dass die weihnachtliche Botschaft auch in der Gegenwart verbreitet werden kann: Ihr Chorstück Glorious, Glorious greift die Schlussszene von Charles Dickens‘ Christmas Carol auf. Darin verkündet ein von Geiz und Misanthropie geläuterter Ebenezer Scrooge, von nun an ein besserer Mensch werden zu wollen:

I will live in the Past, the Present, and the Future!
The Spirits of all Three shall strive within me.
I am as light as a feather, I am as happy as an angel. A merry Christmas to everybody!
A happy New Year to all the world.


… lebt in Berlin und arbeitet als freischaffende Sängerin und Musikjournalistin (u.a. für Opernwelt, Crescendo, TAZ).