Arno Lücker erlabt sich diabolisch-lukullisch an sechs Einspielungen des Mephisto-Walzers Nr. 1.
Doppelbödigkeit, Wankelmut, die Zweiheit in der Einheit… Schöpfer von Musik umgibt seit jeher die Aura des Zwiespältigen: Gut oder Böse? Freund oder Feind? Geliebter oder Totschläger? Göttliche Vokalmusik komponierte der Eifersuchtsmörder seiner Frau Carlo Gesualdo. Ludwig van Beethoven galt als Misanthrop, der Schiller-Schlusschor seiner neunten Symphonie dagegen als menschheitsumarmende Vision einer besseren Welt.
Franz Liszt – wie Violinisten-Vorbild Niccolò Paganini – sagte man gar teuflische Eigenschaften nach, so ausdrucksvoll deren Physiognomie, so unfassbar virtuos deren Spiel noch vertracktester Ansammlungen tausender Noten auf nur einer Partiturseite. Liszt allerdings empfing in seinen späteren Jahren die niederen Weihen. In ihm, der vom »Faust«-Stoff Goethes seit jeher fasziniert war, schlug sich der ewige Kampf zwischen Himmel und Hölle für das 19. Jahrhundert geradezu idealtypisch auf Notenpapier nieder. Schwarz und Weiß auf Schwarz auf Weiß.
Irgendwann im Zeitraum 1856 bis 1861 entstand Liszts erster und mit Abstand bekanntester Mephisto-Walzer: der Mephisto-Walzer Nr. 1, auf den noch Nr. 2 (1878-1881), Nr. 3 (1883) und Nr. 4 (1885) folgten. Der dramaturgische Aufbau des Werkes bezieht sich dabei nicht etwa auf eine Episode aus Goethes »Faust«-Drama, sondern folgt im musikalischen Nachvollzug einem Abschnitt des »Faust«-Gedichtes von Nikolaus Lenau aus dem Jahr 1836. Liszt »vertonte« gewissermaßen eine damals fast noch zeitgenössische »Faust«-Version, während er sich beispielsweise in seiner »Faust-Sinfonie« von 1857 tatsächlich auf die ältere Goethe-Dichtung berief. Richtig: An dem Narrenstoff hatte Liszt eine(n) Faust gefressen!
In der Dorfschenken-Episode Lenaus sind Faust und Mephisto Gäste einer Hochzeit. Der sehr schnelle – nicht tanzbare – Walzer beginnt mit dreisten, stellenweise durch jeweils eine scharfe kleine Sekunde angeschrägten Hohlklängen. Hier nimmt Mephisto die Geige zur Hand und stimmt die (haha, natürlich schiefbleibenden!) leeren Saiten, um daraufhin der Hochzeitsgesellschaft gewaltig Beine zu machen. Nach zwei Abbrüchen hebt der klopfend-spotzende Teufelstanz erneut an, um die Doppelpunkte beziehungsweise die Anführungsstriche für das stolpernd-ironische Hauptthema zu setzen.
Bald ertönt ein romantischer Reigen in der »Liebestonart« Des-Dur. In ebenfalls rhythmisch meisterhaft »untanzbar« gemachter Weise wird hier die spontane Verliebtheit Fausts bei Lenau thematisiert: »Die mit den schwarzen Augen dort / Reißt mir die ganze Seele fort. / Ihr Aug mit lockender Gewalt / Ein Abgrund tiefer Wonne strahlt.« Das wollüstige Drama nimmt seinen Lauf, Mephisto heizt die Musiker der Dorfschenke an: »Doch Jugend nicht voll Blut und Brand. / Reicht eine Geige mir zur Hand, / s’ wird geben gleich ein andres Klingen / Und in der Schenk ein andres Springen!« Es folgt ein orgiastischer Tanz aller Beteiligten, eine Art Sex-Tarantella. Bald »schmiegen sich lüsterne Badeswellen« und »alle verschlingt ein bacchantisches Kreisen«. Am Ende verschwindet Faust mit seiner Eroberung im Wald. Mephisto triumphiert.
Lenau schildert Mephisto als einen »Teufelsgeiger«, als einen Verführer mit und durch Musik, der mit seiner Virtuosität imstande ist, moralische Vorsätze und gute Manieren im Rausche wahnhaften Tanzens verschwinden zu lassen. Liszt, der sich allein wegen der vielen musikalischen Implikationen schnell in den Text Lenaus verguckt haben muss, schafft zu dem Brausen und Jauchzen der Dichtung eine Musikalisierung voller lukullischer Passagen und ekstatischer Apotheosen. Teuflische Sticheleien stehen neben Momenten falscher – hypnotischer – Ruhe und aufgezwungener Liebe. Es entsteht ein Satz von nicht zu unterschätzender struktureller und intellektueller Tiefe, eine Art programmatisches Pendant zur wenige Jahre zuvor entstandenen Sonate h-Moll. Noch in den von ambivalentem Glockengeläut umrankten Mittelstimmen steckt durchweg thematisches Material, noch die am weitesten aufgefächerten Girlanden sind nie Selbstzweck, sondern dienen als Kontrapunkt für die entworfenen Themen, die überall präsent auch innerhalb fortwährender Steigerungsprozesse aufscheinen. So geht durchwirkte Virtuosität!
Der Beginn bei Artur Rubinstein(Studio-Aufnahme, 1950)
Artur Rubinstein rodet mit seiner Interpretation einen ganzen Wald von trocknen Humorhölzern aus allerdings gewaltig nachhaltigem Bestand ab. Hier bröckelt die Rinde, dort kratzt es am Gebälk, bald knirscht es lustig-unlustig im fallenden Laub sprödester Pointen. Das Decrescendo am Ende der ersten Phrase trotzt und trutzt Rubinstein gegen die Wand unmissverständlicher Unwilligkeit: Es gibt kein Decrescendo – und »leggiero« sind die anschließenden Quasi-Notte-e-giorno-faticar-Don-Giovanni-Schleifer bei Rubinstein ganz und gar nicht. Sie sind aus Stein! Das ist von ungeheurer Witzigkeit, die bei manchen Hörer*innen Grenzen kennen(lernen) dürfte.
Der Beginn bei Sviatoslav Richter (Live-Aufnahme, 1958)
Mit Höchstgeschwindigkeit und größtem Überschlagsrisiko spurtet Sviatoslav Richter los. Was für ein Tempo! Da, wo andere »klug« (in Wahrheit: feige!) sparen, will Richter es wissen. Artikulation und Abphrasierungen leiden darunter nicht. Im Gegenteil. Man zeige uns eine so gewitzte wie musikantisch hörenswerte Endphrasen-Verhuschung, wie sie uns Richter nach bereits zwölf Sekunden Mephisto-Walzer zuteilwerden lässt! Krass dann auch die anschließende Disziplin Richters, den Wagen im Gestrüpp dauernd sich für Crescendi anbietender Oktav-Staccatierungen nicht zu früh gegen die Wand zu fahren. Nicht nur, dass Richter im vorgeschriebenen Piano zu bleiben vermag, es ist sogar noch ein deutlich sich ausbreitendes Accelerando – also ein Schneller-Werden – drin. Aufregend!
Der Beginn bei Evgeny Kissin (Studio-Aufnahme, 2003)
Ähnlich schnell der Beginn bei Kissin. Interessant und im besten Sinne aufmerksamkeitserheischend, wie Kissin nach wenigen Sekunden die Zügel falscher Mephisto-Geigenquinten schleifen lässt. Da, wo Rubinstein knöchern und voll im (zu langsamen?) Tempo den letzten C-Dur-Sextakkord der ersten Phrase ins Elfenbein plumpsen lässt, da gibt es bei Kissin eine Mini-Verzögerung; ein kleiner Kunstgriff, ein zweifelndes Fragezeichen? Mephisto: »Willst du das wirklich, Faust?« Kissin, dessen Hobby die Poesie ist, weiß um die Doppelbödigkeit dieses dichterischen Kneipenbesuchs. (Wäre man besser mal Zuhause geblieben.) Ganz toll!
Der Beginn bei Daniil Trifonov (Live-Aufnahme, 2011)
Daniil Trifonov rädert voller Selbstbegeisterung los – und geht leider auf Nummer sicher. Schon die erste Phrase endet im Wohlfühlstübchen scheinmephistophelischer Pedal-Mulmigkeit. Da werden dann – »Ha, schaut mal alle her, wie teuflisch ich mit meinem Buckel schon in jungen Jahren aussehe!« – kurz die Hände hochgerissen; aber daraus folgt nichts – beziehungsweise: Dem ist nichts vorausgegangen! Ein unsympathischer Zug vieler jüngerer und mittelalter Pianist*innen: Charakter wird lediglich behauptet, durch Augenrollen (siehe Lang Lang), Schultern hochziehen, Buckligkeit oder mittels der Nase auf den Tasten. Besser wäre wahre (innere) Bockigkeit! Doch es gilt seit dem Tod von Meister Horowitz: Sicherheit geht vor! Keine falschen Noten! Lieber uninteressante Interpretationen! Zur Hölle mit euch!
Der Beginn bei Khatia Buniatishvili (Live-Aufnahme, 2014)
Noch weniger einen Scheiß auf frühe Charakterzeichnung mittels Artikulation, Tempo und schlichtweg Ideen (!) gibt Khatia Buniatishvili. Das allerdings zahlt sich ganz überraschend aus: Wenn man einfach mal nichts macht! Die Spannung entsteht durch Pausen. Nicht zu früh urteilen! Denn die anschließenden Don-Giovanni-Anroller dienen Buniatishvili für eine kurze Verharrung – für das nötige Fragezeichen. Herrlich glitscht es dann auch im Folgenden bei Buniatishvili dahin. Da ist viel Risiko im Spiel. Alles etwas verhudelt – und doch irgendwie seltsam gekonnt. Aber überzeugend?
Der Beginn bei Lucas Debargue (Live-Aufnahme, 2016)
Lucas Debargue will überraschen – und macht einen auf Glenn Gould: halbes Tempo, trockene Artikulation. Von Kissin hat er sich möglicherweise die besagte Verzögerung des ersten Akkords in Takt 28 abgelauscht. Doch Debargue übertreibt es. Erst ist man erschöpft von der unangenehmen Glenn-Gould-Überraschung, denn es gibt einfach Stücke, die Derartiges nicht vertragen; dann lässt Debargue sogleich alle Zügel aus der Hand flattern. Das ist extrem manieriert, aber im langweiligsten aller denkbaren Sinne.
Das zweite Thema bei Artur Rubinstein (Studio-Aufnahme, 1950)
Auch bei der Gestaltung des zweiten Themas – nach Art eines sich rhythmisch verschiebenden Untanzbarwalzers im Geiste Chopins – bleibt Rubinsteins Spiel ohne jegliche Fettbeigabe. Doch genau hier entwickelt sich aus der angesprochenen Holzigkeit Erstaunliches! Rubinstein begehrt auf – und fällt wieder in sich zusammen. Man ist angesichts dieser Fast-Pedallosigkeit geradezu gebannt. Hier ist Null Eitelkeit, kein Kaschieren, sondern gleißendes Zähneklappern tanzender Skelette im unwirklichen Wirtshaus Liszts. Fantastisch.
Das zweite Thema bei Sviatoslav Richter (Live-Aufnahme, 1958)
Ganz zögerlich, fragend geht Richter das zweite Thema an. Toll, wie er so tut, als handele es sich um Chopin! Manchmal muss man die Anführungsstriche weglassen, um echte Aufmerksamkeit zu erheischen! Die Post-Chopinigkeit stellt sich im Verlaufe dieses hier sehr nachdenklich von Richter gesetzten Formteils von selbst ein. Wo bei Rubinstein das trockne Drama seinen Lauf nimmt, bricht es bei Richter ganz aus dem Schein-Schwelgen hervor. Als ob Sigmund Freud komponiert hätte.
Das zweite Thema bei Evgeny Kissin (Studio-Aufnahme, 2003)
Nüchterner als Rubinstein und Richter, doch von toller mittel- und unterstimmiger Klanglichkeit wiegt sich der zersprengte Des-Dur-Walzer-Teil bei Kissin hin und her. Wieder vernehmen wir Girlanden voller Fragezeichen und poetischer Aufbereitung. Die langsame Steigerung sich wiederholender Figuren und das immerwährende Zusammensinken ohne wirklichen Spannungsverlust. Solche Ritardandi muss man erst mal können!
Das zweite Thema bei Daniil Trifonov (Live-Aufnahme, 2011)
Lobenswert, wie Trifonov zu Beginn des zweiten Themas spielend der Hoffnung nachgeht, es könne sich hier tatsächlich so etwas wie ein tanzbarer Kunstwalzer einfinden. Da lässt er prompt auch die gestischen Faxen sein und konzentriert sich auf die Musik, merkt dann aber alsbald, dass vielleicht etwas zu viel eher langweiliges Musikantentum im Spiel ist und setzt folglich wieder Grimassen auf, um fehlende Ideen zu kompensieren.
Das zweite Thema bei Khatia Buniatishvili (Live-Aufnahme, 2014)
Sehr hauptstimmenfokussiert erklingt der Des-Dur-Walzer bei Buniatishvili. Schön aber, wie sie die Stille des Ganzen Klang werden lässt. Hier ist echte Verharrung. Fast manifestiert sich das Gefühl, eine Pianistin improvisiert das Stück weiter – wie man es früher in Annäherung an ein Werk im Vorhinein tat. Niemand traut sich das mehr. Viel zu glatt allerdings die Fortsetzungen Buniatishvilis. Da verschätzt sie sich im Tempo bei so manch charakteristischer Stelle. Es prasselt so insektenartig dahin. Ganz virtuos schnell, wie eine egale Maschine. Also genau so, wie man es nicht hören will! (Weil man es von Lang Lang schon schmerzvoll gewohnt ist. Hörerlebnisse mit anschließender Leere im Herzen.)
Das zweite Thema bei Lucas Debargue (Live-Aufnahme, 2016)
Leider dirigiert sich Debargue beim Übergang zum zweiten Thema so bedeutungsschwanger selbst, dass die Fruchtblase der Affektiertheit brotlos früh platzt. Man schaut ungerne hin und hört folglich gerne weg. Ja, man darf sich selber ganz toll und legendär finden. Wenn man es denn wäre. Den Des-Dur-Teil nimmt er dann viel zu hart und dabei bar jeder Idee interessanter Binnenspannung. Hier hat jemand folgsam die Noten auswendig gelernt, hackt sie unlustig und nie im Sinne mephistophelischer Ekeligkeit in die schwarzweißen Dinger, deren Namen man kennt, die aber einen nie wirklich interessiert haben. (Um nachher nicht mit Debargue enden zu müssen, scheidet dieser hier aus.)
Der Schluss bei Artur Rubinstein (Studio-Aufnahme, 1950)
Fies schütteln sich die knackenden Knochen der erschöpften Tanzenden aus bei Rubinstein, der kurz vor Beschluss noch einmal die Chance nutzt, um Recitativo-Künste fast ohne Pedal vorzuführen. Da werden selbst kleine Triller absichtlich schülerhaft ausgedängelt, um der ganzen Trockenheit noch eine weitere »Farb«-Variation angedeihen zu lassen. Das ist in seiner ganzen Boshaftigkeit so toll, so überraschend, so gegen den Strich. Der Teufel hätte seinen Spaß gehabt – und doch Rubinstein als Verführer das Feld überlassen müssen. Ab in den Himmel mit dir, Artur!
Der Schluss bei Sviatoslav Richter (Live-Aufnahme, 1958)
Mendelssohnartig huscht es bei Richters Stretta zunächst dahin. Auch er nimmt noch einmal komplett das Tempo raus – und ergeht sich in Recitativo-Innigkeiten, die sich beim Teufel selbst dreckiggewaschen haben. Fragil, farbenreich, eindringlich… Und irrwitzig furios das endgültige Finale bei Richter. Er enttäuscht uns nie! Nie!
Der Schluss bei Evgeny Kissin (Studio-Aufnahme, 2003)
Toll, wie Kissin kleine Dröhnigkeiten in den nun wirklich tollkühn komponierten Schluss einbaut. Kissin neigt hier jedoch zur etwas zu abgezirkelten Noblesse; fast mag man sag: »Kissin ist eh häufig etwas zu edel!« (Warum trägt er eigentlich ständig diesen weißen Smoking?) Doch da überrascht Kissin – und fährt den endgültigen Stretta-Schluss volle Möhre gegen die Wand. Geht doch.
Der Schluss bei Daniil Trifonov (Live-Aufnahme, 2011)
Trifonov diktiert die Skelettierungen Liszts zu sehr. Dabei findet er immer mal wieder lustige ungehörte Mittelstimmen oder anderweitige Klangeigenheiten im Notengestrüpp, doch irgendwie ist das viel zu kontrolliert, zu sehr mit Ansage – und, wie gesagt, dann doch nur mit Schein-Risiko vorgetragen. Zur Strafe verspielt sich Trifonov beim Schlussklang. Verdient.
Der Schluss bei Khatia Buniatishvili (Live-Aufnahme, 2014)
Fragend und angenehm interessant dröhnend geht es bei Buniatisvili zu Beginn der Coda zu. Fein, wie hier eine Interpretin überhaupt gewillt ist, sich der improvisatorischen Anmutung einer Komposition fast exakt aus der Mitte des »Jahrhunderts des Klaviers« zu widmen. Letztlich gelingt das Buniatishvili nur mit Abzügen; zu sehr stratzt sie tempomäßig ins stets zu Schnelle (das konnte voller Spannung eigentlich nur Richter!) – und damit ins Leere. Zwischen den »schwierigen« Teilen fährt sie dagegen die Krallen komplett ein. Das ergibt in dieser prickelnden Unausgeglichenheit aber keine erfrischende Brause, sondern nicht mehr als nur eine nette, eher lauwarme Zugabendusche. Das hat der Mephisto-Walzer nicht verdient!
Man höre Rubinstein, Richter und Kissin – und erlabe sich diabolisch-lukullisch an den krassesten Interpretationsunterschieden. Es möge uns heißkalt den Rücken hinunterlaufen! ¶