Die Hochschule für Musik und Theater München ist »eigentlich eine traumatisierte Institution«, erklärt Helga Dill, die Vorsitzende des Münchner Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) bei der Vorstellung der Studie »Machtmissbrauch, Diskriminierung und sexualisierte Gewalt an der HMTM« am 18. April. Der  ehemalige Präsident der Hochschule, Siegfried Mauser, wurde 2019 wegen sexueller Nötigung rechtskräftig zu einer Haftstrafe verurteilt, es folgte ein weiteres Gerichtsverfahren gegen den ehemaligen Kompositionsprofessor Hans-Jürgen von Bose

In welchem Ausmaß sowohl Machtmissbrauch als auch sexualisierte Gewalt an der Hochschule nach wie vor ausgeübt und erlebt werden, hat die HMTM hat als erste Musikhochschule Deutschlands im Rahmen einer wissenschaftlichen Befragung aller Hochschulangehöriger (durchgeführt vom IPP) untersuchen lassen. Befragt wurden sowohl die Studierenden als auch die Lehrenden und Mitarbeitenden in der Verwaltung. Die Studie zeigt: Etwa jede:r fünfte Studierende der Hochschule und sogar jede:r zweite Verwaltungsangestellte erfährt Machtmissbrauch. 6 Prozent der Hochschulangehörigen berichten, selbst sexualisierte Gewalt erlebt zu haben.

Die HMTM ist eine der größten künstlerischen Hochschulen Deutschlands. An fünf Standorten lernen rund 1.300 Studierende, eingeschrieben in über 100 verschiedene Studiengänge im Bereich Musik, Tanz und Theater. Die Hochschule hatte schon 2016, nach Bekanntwerden der Vorwürfe gegen Mauser und unter dem damaligen Präsidenten Bernd Redmann, selbst eine ähnliche Befragung durchgeführt, die Ergebnisse jedoch nicht veröffentlicht (mit der Begründung, dass die gestellten Fragen zu wenig Bezug zur Hochschule gehabt hätten und deshalb die Antworten für die Hochschule nicht aussagekräftig gewesen seien). Unabhängige Gutachter:innen (die sogenannte Holzheid-Kommission) kritisieren das Ausbleiben der Veröffentlichung scharf und empfahlen die Durchführung einer weiteren Studie. Mit der Arbeit an der jetzt vorliegenden Studie wurde schließlich im Februar 2023 begonnen. Das IPP hat ähnliche Forschungsprojekte bereits vielfach durchgeführt, unter anderem für die evangelische Kirche und pädagogische Einrichtungen.

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Die Ergebnisse der Studie fußen im Wesentlichen auf einer anonymen Onlinebefragung zu Erfahrungen mit Machtmissbrauch, Diskriminierung und sexualisierter Gewalt sowie deren Auswirkungen und der Umgang der Hochschule mit entsprechenden Vorfällen. Machtmissbrauch wird im Rahmen der Studie definiert als Situationen, in denen »eine Machtposition missbraucht wird, um andere zu benachteiligen oder sich selber besser darzustellen«, was auch destruktive Kritik oder Bloßstellungen, Anschreien oder Einschüchterungen mit einschließt. Sexualisierte Gewalt wird in der Studie verstanden als »Handlungen, die das sexuelle Selbstbestimmungsrecht des Menschen verletzen. Dies können anzügliche Bemerkungen sein, unerwünschte Berührungen oder massive körperliche Gewalt.« Die Fragen der Online-Erhebung basieren unter anderem auf Interviews mit Hochschulangehörigen sowie ähnlichen Befragungen des IPP an anderen Institutionen. Insgesamt wurden 1.840 Hochschulangehörige zur Befragung eingeladen, 512 haben teilgenommen. Die Studienergebnisse sind zwar auf wissenschaftlicher Basis erhoben, jedoch nicht repräsentativ. 

Sexualisierte Gewalt erlebten die etwa sieben Prozent der Studierenden, die davon berichteten, relativ häufig im Einzelunterricht. Hier haben die Lehrenden einen besonders großen Einfluss auf den Erfolg im Studium und im späteren Berufsleben, hinzu kommen eine enge persönliche Bindung, die das Risiko für Grenzüberschreitungen erhöht, ein sehr körperbezogenes Arbeiten und der künstlerische Nimbus einiger Lehrender, der ihre Machtstellung noch weiter festigt. Die aktuelle Münchner Studie benennt sowohl die besondere Abhängigkeit von der Lehrperson als auch das Format des Einzelunterrichts explizit als Risikofaktoren. Aus vermutlich ähnlichen Gründen hatte die Holzheid-Kommission 2019 empfohlen, zu prüfen, »ob eine gewisse, stärkere Öffnung einzelner Bereiche des Musikunterrichts hin zu einem Gemeinschaftsunterricht vorstellbar und weiterführend wäre«. Die Münchner Studierendenvertretung allerdings fordert aktuell, Sensibilisierung und Kontrollmechanismen zu stärken, statt das Unterrichtsformat als solches zu ändern: »Wir möchten betonen, dass Einzelunterricht ein zentraler, relevanter Bestandteil und ein Qualitätsmerkmal des künstlerischen und künstlerisch-pädagogischen Studiums ist. Gerade im Einzelunterricht muss daher bei allen Beteiligten der Hochschule ein Bewusstsein für Machtmissbrauch und das Überschreiten von Grenzen geschaffen werden. Es muss Kontrollmechanismen und genauso klare Konsequenzen für Fehlverhalten geben.«

Auffällig ist außerdem, dass viele Berichte zu selbst erlebtem Machtmissbrauch aus der Ballettakademie und der Künstlerischen Gesangs- und Theaterausbildung stammen. Auch von körperlicher und/oder psychischer Gewalt wird vor allem aus der Ballettakademie berichtet (24,2 Prozent haben entsprechende eigene Erfahrungen geäußert) sowie aus der Jugendakademie der Hochschule. »Dieses Ergebnis ist insofern besorgniserregend, als die Betroffenen häufig noch Kinder und Jugendliche sind«, heißt es in der Studie. 


Dass Machtmissbrauch und auch sexualisierte Gewalt an der Münchner Musikhochschule nach wie vor ausgeübt und erfahren werden, ist nicht hinnehmbar, aber wenig überraschend, schaut man auf aktuelle Debatten an Musikhochschulen oder Initiativen wie die der Studierendenvertretungen der Musikhochschulen im deutschsprachigen Raum, die im Februar diesen Jahres ein entschiedeneres Vorgehen gegen Machtmissbrauch im Hochschulkontext forderten

Die HMTM hat basierend auf den Ergebnissen der aktuellen Studie einen 7-Punkt-Plan gegen Machtmissbrauch, Diskriminierung und sexualisierte Gewalt entworfen. Beispielsweise soll das Kriterium »Nähe – Distanz« in alle Berufungs- und Besetzungsverfahren in Lehre und Verwaltung integriert werden. Neue Angestellte in Lehre und Verwaltung werden zu einem entsprechenden Fortbildungsprogramm verpflichtet, ebenso alle bereits beschäftigten Lehrenden im Bereich des Jungstudiums. Die anonyme Lehrevaluation wird als Kontrollinstrument weitergeführt, anonyme Beschwerdewege werden noch weiter ausgebaut. Die Ballettakademie soll künftig von einer Doppelspitze geleitet werden. Hier sollen zudem, genau wie in den Theater- und Gesangsstudiengängen, Intimitätskoordinator:innen und -coaches zum Einsatz kommen. Eine große Herausforderung bleibt nach wie vor, so zeigt es die Münchner Studie, mit Fragen zum Thema Machtmissbrauch auch die internationale Studierendenschaft zu erreichen. Größtenteils kommen die Teilnehmer:innen aus Deutschland (88 Prozent), dabei haben etwa 40 Prozent aller Studierenden einen internationalen Hintergrund. Um diese besser zu erreichen, wird in München auch das International Office neu strukturiert.

So erfüllt die HMTM zukünftig fast alle Forderungen der Studierenden-Initiative. Das zeigt zweierlei: Einerseits, dass man in München auf einem guten Weg ist. Und andererseits bestätigen sich die durch die Studierendenvertretungen (nicht nach wissenschaftlichen Methoden) gesammelten zahlreichen Erfahrungsberichte und die Ergebnisse der aktuellen Studie gegenseitig. So wird die Relevanz und Gültigkeit der studentischen Forderungen für alle Musikhochschulen im deutschsprachigen Raum noch einmal unterstrichen. (Lediglich die von den Studierenden geforderte verpflichtende Weiterbildung aller Lehrender findet sich nicht im Münchner 7-Punkte-Plan.)

Für einen neuen Fokus in der Debatte um Machtmissbrauch an Hochschulen könnten die Erkenntnisse der Studie zum Umgang mit Verwaltungsangestellten sorgen. 45,5 Prozent dieser Gruppe hat in München im Arbeitskontext Machtmissbrauch erlebt. Diese Zahl überrascht jedoch weniger, schaut man auf vergleichbare Studien von anderen Hochschulen (nicht aus dem künstlerischen Bereich). So gaben in einer Befragung aus dem Jahr 2019 rund 45 Prozent der Mitarbeiter:innen der RWTH Aachen an, im Arbeitskontext psychische Gewalt erfahren zu haben. In der Pressekonferenz zur Vorstellung der neuen Studie betonte zudem Dr. Giulietta Tibone, Psychologin und psychologische Ombudsstelle der HMTM, dass ein spezifisches Problem von Kunsthochschulen sei, dass nicht-künstlerische Arbeit (wie die in der Verwaltung) häufig als minderwertig angesehen werde. Diese Haltung kennt man auch aus dem Klassikbetrieb, von Berichten von Mitarbeiter:innen mit rein administrativen Aufgaben, die sich wie Menschen zweiter Klasse behandelt fühlen. Zumindest in München wird man sich, so liest es sich auch aus dem aktuellen 7-Punkte-Plan, zukünftig auch stärker für die Belange der Verwaltungsangestellten einsetzen.

Finanziert wurde die Münchner Studie aus Geldern, die das Bayerische Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst der Hochschule für die »Frauenförderung« beziehungsweise »Gleichstellung« zur Verfügung gestellt hatte. Auf VAN Nachfrage heißt es vonseiten des Ministeriums, eine »Mitfinanzierung einer ähnlichen Studie an anderen staatlichen Musikhochschulen ist im Rahmen der verfügbaren Haushaltsmittel grundsätzlich möglich«. Schon im März erklärte Christian Fischer, der Vorsitzende der Rektorenkonferenz der Musikhochschulen, gegenüber VAN, dass an allen deutschen Musikhochschulen Interesse »an einer systematischen Erhebung beziehungsweise an einer wissenschaftlich aufgesetzten Studie« zu Machtmissbrauch bestehe. Es gibt also Grund zur Hoffnung, dass nicht nur die Musikhochschulen in Würzburg und Nürnberg bald dem Münchner Vorbild entsprechende Studien aufsetzen und darauf aufbauend weitere Maßnahmen zum Schutz von Studierenden und Beschäftigten entwickeln, sondern auch alle anderen 21 Musikhochschulen der Bundesrepublik. ¶

... machte in Köln eine Ausbildung zur Tontechnikerin und arbeitete unter anderem für WDR3 und die Sendung mit der Maus. Es folgten ein Schulmusik- und Geschichtsstudium in Berlin und Bukarest. Heute lehrt sie Musikwissenschaft an der Universität der Künste Berlin und ist Redakteurin bei VAN. merle@van-verlag.com

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