Unter dem Titel »Sex im Präsidentenbüro« brachte der Spiegel vergangenen Freitag einen Artikel über die Missbrauchs-Vorwürfe und laufenden Gerichtsverfahren gegen Siegfried Mauser, den langjährigen Präsidenten der Musikhochschule München und Hans-Jürgen von Bose, einen Münchener Kompositionsprofessor. Damit berichtet das Magazin eigentlich nichts Neues: Bereits im April 2017 war Mauser wegen sexueller Nötigung einer Professorin in zweiter Instanz zu neun Monaten Haft auf Bewährung verurteilt worden. Laut Urteil hatte er die Frau in zwei Fällen sexuell bedrängt. In einem weiteren Verfahren wurde er am 16. Mai 2018 wegen sexueller Nötigung in drei Fällen zu zwei Jahren und neun Monaten Haft verurteilt. (Beide Urteile sind wegen laufende Berufungsverfahren noch nicht rechtskräftig.) Über beide Verfahren wurde auch in überregionalen Medien außerhalb der Klassik-Nische berichtet. Auch die Vergewaltigungs-Vorwürfe gegenüber von Bose sind bekannt. Die Süddeutsche Zeitung wusste schon im Mai 2016 von einer derartigen Anzeige gegen den Kompositionsprofessor (der allerdings im Artikel nicht namentlich genannt wird). Das Verfahren wurde bis heute nicht eröffnet. Warum also gerade jetzt ein so ausführlicher Artikel in einem Medium, das keinen Kultur- oder gar Klassik-Schwerpunkt hat? Weil durch die #Metoo-Debatte das öffentliche Interesse an derartigen Formen des Machtmissbrauchs deutlich gewachsen ist. Und weil der Artikel genau dieses Interesse zum Anlass nimmt, deckt er im Umkehrschluss zwischen den Zeilen unfreiwillig einiges auf, was in der #Metoo-Debatte in der Klassik-Welt schief läuft.

Schon die Überschrift zeigt, worum es dem Artikel an allererster Stelle geht: Wer hat wen wann wo und wie zu welcher Art von Sex oder welchen sexuellen Handlungen gezwungen? Man zielt auf den voyeuristischen Klick ab. Unter den Tisch fällt, worum es eigentlich im Kern geht: Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt. Auf den folgenden Seiten werden dann ausführlich Details über diverse sexuelle (Miss-)Handlungen ausgebreitet, während der Blick auf strukturelle Probleme des »Systems Musikhochschule«, die die behandelten Fälle begünstigt, wenn nicht ermöglicht haben, nicht einmal 5% der Textmenge ausmacht.

Foto nik gaffney (CC BY-SA 2.0)
Foto nik gaffney (CC BY-SA 2.0)

Dies ist in mancherlei Hinsicht problematisch. Zum einen werden Mauser und von Bose so als extreme Einzeltäter dargestellt. Das macht es allen anderen Akteur*innen an den Musikhochschulen Deutschlands leicht, sich durch die Verurteilung der Verbrechen dieser beiden als moralisch integer zu positionieren (eine solche Verurteilung ist natürlich richtig, aber ist sie im Falle von sexueller Nötigung und Vergewaltigung nicht auch auf eine Art selbstverständlich?). So lässt sich bequemerweise die Notwendigkeit umgehen, sich mit Machtmissbrauch und sexualisierter Gewalt im eigenen Umfeld oder gar im eigenen Handeln (mache ich schlüpfrige Witze, die Mitmenschen in unangenehme Situationen bringen können? Welche erotischen Bilder oder Vergleiche verwende ich in der Lehre? Wen fasse ich wie an? Wie verhalte ich mich als Zeug*in solcher Handlungen?) auseinandersetzen zu müssen.

Eine Vergewaltigung ist mit einem Witz, egal wie schlecht er ist, oder einer unbedachten Berührung nicht zu vergleichen. Nicht umsonst handelt es sich bei ersterer um eine hart geahndete Straftat. Gleichzeitig hilft es nicht, das Problem auf die besonders drastischen, grausamen Fälle zu reduzieren und es damit von der eigenen Lebensrealität fernzuhalten. Mich hat es sehr gewundert, wie ein paar (tatsächlich nur männliche) Leser nach der Veröffentlichung meines Artikels über Sexuelle Belästigung und Machtmissbrauch an Musikhochschulen Anfang November 2017 auf mich zukamen und mich ermunterten, einzelne Lehrpersonen »hochgehen zu lassen«. Auch hier hatte ich das Gefühl, dass dahinter eher der Wunsch nach einer Profilierung als »Kämpfer an vorderster Front« stand, als die (Für-)Sorge um die Opfer.

Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt im Musikhochschulkontext erscheinen im Artikel als ein München-spezifisches Problem. Dabei gibt es sie wahrscheinlich leider an allen Musikhochschulen. Der Fokus auf Einzeltäter verstellt den Blick auf Strukturen und Verstrickungen, die an Musikhochschulen Machtmissbrauch begünstigen können. Angesprochen werden im Spiegel lediglich kurz die starke Abhängigkeit der Studierenden von der Gunst nur einer Lehrkraft, die große Menge an Zeit, die Lehrende und Lernende gemeinsam verbringen, die körperliche Nähe im Unterricht und das Unbeobachtet-Sein im häufigen Einzelunterricht hinter verschlossener Tür. Alle genannten Punkte treffen zu, allerdings bleiben entscheidende Aspekte unerwähnt. So ist es an Musikhochschulen unüblich, den eigenen oder gemeinsamen Umgang mit Körperlichkeit im Unterricht zu thematisieren, obwohl die Körper der Studierenden – die Atmung, die Haltung, die Bewegungen – ununterbrochen im Mittelpunkt stehen. Zu diesem Ergebnis kommt eine im Jahr 2000 veröffentlichte Studie an Schweizer Musikhochschulen. Ich habe nur einen einzigen Professor erlebt, der die Studierenden gefragt hat, ob ihnen bestimmte Berührungen zur Veranschaulichung weiterhelfen oder unangenehm sind. Zur körperlichen kommt im Einzelunterricht (der ca. 80% des Musikstudiums ausmacht) noch eine emotionale Nähe. Der Rückgriff auf Emotionen beim Musizieren und auch das Erleben von Sinnlichkeit sind Teil eines jeden, auch guten Instrumental- und Gesangsunterrichts. Die Herausforderung ist hier, Eros und Erotik nur dann zu thematisieren, wenn es inhaltlich Sinn ergibt (zum Beispiel beim Einstudieren einer Don-Giovanni-Arie) oder die Studierenden vorher ihr Einverständnis zu solchen möglicherweise für manche grenzüberschreitenden Methoden gegeben haben. Das ist oft nicht der Fall. Die im Spiegel-Artikel erwähnte Haltung des Kompositions-Professors von Bose (»Für ihn sei Komponieren eine private und intime Angelegenheit, deshalb habe er auch mit seinen Studenten über Privates und Intimes gesprochen« – und ihnen zum Beispiel auch Pornos gezeigt) ist ein zwar krasses, aber meiner Erfahrung nach ziemlich typisches Beispiel. Ich sollte mir im Gesangsunterricht oft vorstellen, ich läge auf dem Bauch meines Liebhabers und spielte, während ich pianissimo-Passagen singe, mit seinen Brusthaaren. Das sollte dann Atmung und Ausdruck fördern. Kann man hier von Hochschul-Lehrkräften nicht verlangen, alternative pädagogische Modelle in petto zu haben oder zumindest zu fragen, ob solche Bilder mir als Studentin weiterhelfen?

Der Grund für diese Leerstelle könnte sein, dass die erotische Anziehungskraft, die Fähigkeit durch und mit Musik zu verführen, immer noch einen Teil unseres Musiker*innen-Bildes ausmacht, das von Journalist*innen, Klassikmarketing und auch einigen Musiker*innen selbst immer weiter genährt wird. Gut sichtbar wurde dies unlängst zum 90. Geburtstag der Mezzosopranistin Christa Ludwig, zu dem viele Journalisten die Erzählung vom erotischen Nimbus des Klassikstars wiederauflegten. So schreibt der Kollege für die Opernwelt: »Christa Ludwigs Stimme war die sinnlichste, erotischste unter den Mezzosopranistinnen«. Der Feuilletonist der FAZ packt die Sexualisierung gleich in den Anleser seines Interviews mit der Jubilarin: »Egal, ob mit Leonard Bernstein oder Herbert von Karajan – jede Zusammenarbeit mit einem Dirigenten ist eine erotisch-elektrische Angelegenheit.« Die WAZ fragt: »Ist man in einer anderen Welt, wenn die Stimme voll aufdreht? Ist das eine Droge oder gar Erotik?« Diese Erotik-Erzählung ist alt, genau wie Christa Ludwig, beide haben viel Zeit miteinander verbracht, die Sängerin selbst bedient sich ihrer gern. Bei einer Plattenkritik eines Klassikmagazins über ein Album der Sopranistin Aida Garifullina fragten wir uns unlängst lange, ob es sich vielleicht doch um eine Satire handelt. Der Rezensent beginnt seinen Text so: »Superschlank, superschön, superstimmig schon auf dem ersten Album: Diese Sängerin aus Tatarstan ist keine Sopraneintagsfliege«, hangelt sich über »Vor ihr nimmt jede Magenverkleinerungsschnur sofort Reißaus. Schwarzhaarig, Kirschmund, dunkle, leicht mandelförmige Augen, puppenhaft zarte Figur. Aber kein Töne spuckender Automat, genauso wenig ein Schmusekätzchen. Die hat Temperament, weiß zu locken und zu verführen, kuschelt und teilt aus. Und kratzen kann sie auch«, und leider geht es noch weiter: »Wenn es nicht nach ihrem Willen geht«. Das Ganze garniert mit Connaisseur-mäßiger Jovialität: »Sie trillerte sich mit hellem Funkelglanz, freilich über einem typisch russischen, noch ganz flaumigen, rauchig-dunklen Stimmgrund schwebend …«.

Wie die Erzählung vom erotischen Klassikstar instrumentalisiert werden kann, wird, abgesehen von München, zum Beispiel in einem Artikel des Boston Globe deutlich: James Levine trichterte den jungen Musikern, die er mutmaßlich missbrauchte, unter anderem ein, die sexuellen Handlungen würden ihr Spiel verbessern. Auch Musikpädagogik-Professorin Freia Hoffmann (die ein Buch über sexuelle Belästigung im Instrumentalunterricht geschrieben hat) sieht Zusammenhänge zwischen einem derartigen Künstler*innen-Bild und Machtmissbrauch: »Zum Nimbus des großen Künstlers gehört traditionell seine erotische Anziehungskraft, seine Wirkung auf Frauen, die Selbstverständlichkeit, mit der er bewundert und begehrt sein möchte. Und wo er Macht hat, gehört es unter Umständen dazu, dass er sie zur Durchsetzung seiner erotischen und sexuellen Bedürfnisse nutzt.«

Foto nik gaffney (CC BY-SA 2.0)
Foto nik gaffney (CC BY-SA 2.0)

Die Unterstellung, Musiker*innen wollten mit ihrer Kunst per se verführen, wird auch genutzt, um Übergriffe auf Künstler*innen herunterzuspielen. Sie ist wahrscheinlich einer der Gründe, warum Victim blaming, also die Darstellung und Beschuldigung der Opfer als Verführer*in und damit als »selbst Schuld« am Übergriff oder Missbrauch, an Musikhochschulen verbreiteter ist als an »normalen« Universitäten (auch ein Ergebnis der Schweizer Studie). Student*innen an Musikhochschulen sind häufig weniger gut vernetzt als Studierende an anderen Hochschulen, weil sie viel Zeit alleine beim Üben verbringen und manchmal sogar im direkten Konkurrenzkampf um bestimmte Stellen oder die Gunst einer Lehrkraft stehen. Der fehlende Austausch untereinander begünstigt unter Umständen, dass Missbrauch länger unentdeckt bleibt.

All diese Aspekte, die die Musikausbildung an allen Hochschulen Deutschlands gemein hat, können Räume oder Anlässe für sexuelle Belästigung oder Missbrauch schaffen. Sie einfach abzuschaffen ist schwierig bis unmöglich und auch nicht in allen Fällen wünschenswert. Aber sich ihrer bewusst zu werden, sie zu thematisieren und zu versuchen, auf eine möglichst entspannte, offene Art zu reflektieren, wie sich alle Beteiligten (meist ja eine Lehrkraft und ein*e Studierende*r) in gewissen Spannungsverhältnissen fühlen, sollte das Ziel aller Musikhochschulakteur*innen im gegenseitigen Umgang sein. Allerdings sind bislang nur sehr wenige Institutionen im Hochschulalltag sicht- und spürbar aktiv in der Vorbeugung und Bekämpfung sexualisierter Gewalt. Oft ist unter den Studierenden noch nicht einmal klar, an wen sich Opfer im Falle des Falls wenden können. Von ernstzunehmenden Präventionsprogrammen für Lehrende und Studierende ganz zu schweigen.

»Der Fokus auf Einzeltäter verstellt den Blick auf die Strukturen, die Machtmissbrauch begünstigen können.« Über Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt an Musikhochschulen in @vanmusik.

Sexualstraftäter anzuzeigen und aus den Hochschulen zu entfernen wie in München, ist wichtig. Die #Metoo-Debatte kann so, wie sie gerade an Musikhochschulen geführt wird, hoffentlich dazu beitragen, Opfer zur Strafanzeige zu ermutigen. Was dann noch immer bleibt, ist das Problem der zahlreichen nicht strafrechtlich relevanten Fälle. Auch darüber muss das Schweigen gebrochen werden. ¶

... machte in Köln eine Ausbildung zur Tontechnikerin und arbeitete unter anderem für WDR3 und die Sendung mit der Maus. Es folgten ein Schulmusik- und Geschichtsstudium in Berlin und Bukarest. Heute lehrt sie Musikwissenschaft an der Universität der Künste Berlin und ist Redakteurin bei VAN. merle@van-verlag.com

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