In Gotteshäusern werde ich hibbelig und bei Beerdigungen reiße ich Witze. Man könnte mich also mit Fug und Recht als pietätlos bezeichnen. Aber einmal habe ich göttliche Präsenz verspürt, an einem Mittwoch im College, während einer Chorprobe. Mitten in John Rutters Requiem gab es diesen einen gemeinsamen Moment. Meine Stimme wurde die meiner Nachbarin. Unser Atem verschmolz zu einer Einheit, zu flüssigem Gold. Da verstand ich, was Spiritualität bedeutet. Und dass sie zutiefst lebendig ist.

»Musik ist eine menschliche Technologie, die Zugang zum Göttlichen schafft«, sagt mir Ryan Dohoney, Professor für Musikwissenschaft an der Northwestern University. »Was Freud das ›ozeanische Gefühl‹ nannte – Musik gibt uns das.« Musik ergreift uns, Menschen wie mich. 

Die Pianistin und Autorin Sharon Su kennt dieses Gefühl. »Wenn man solche Erfahrungen macht, sind sie oft mit ganz bestimmten Stücken verbunden, und wenn sie mit bestimmten Stücken verbunden sind, dann natürlich auch mit der Komponistin oder dem Komponisten«, erklärt sie mir. »Denn man hat das Gefühl, dass es dieser Mensch war, der das mit einem gemacht hat … Er hat mir diese Erfahrung ermöglicht.«

Durch Rutters Werk habe ich das Unaussprechliche gespürt, eine der tiefsten Erfahrungen meines Lebens. An jenem Mittwoch hat er mir eine direkte Verbindung geschenkt zu dem, was im Jenseits liegt. Was wäre eine angemessene Form der Rutter-Verehrung, als Reaktion auf so einen spirituellen Booster?

Sie lachen. Aber vermutlich nur, bis ich die Frage leicht abwandele: Was wäre eine angemessene Form der Beethoven-Verehrung? 

Für katholische Gläubige sind die »Kanonheiligen« Fürsprecher, die zwischen uns und Gott vermitteln. Dazu passt, dass wir die großen Komponisten »kanonisch« nennen. In der Welt der klassischen Musik verehren wir die großen toten Komponisten als Heilige.

Gerrit Pietersz. Sweelinck, St. Cecilia, Playing the Organ (1593)

Wenn Ihnen diese Metapher übel aufstößt, sollten Sie sie weiterdenken: In der Welt der klassischen Musik stehen überall Heiligenbilder herum, meist in Form von Büsten, die zwar klein sind, aber die entsprechenden Komponisten wortwörtlich auf einen Sockel heben. Und wir pilgern zu ihren heiligen Stätten: ihren Gräbern, zu ihren konservierten Herzen. Wir tun so, als seien ihre Aufzeichnungen unfehlbar, interpretieren jeden Tintenklecks mit größter Hingabe. Das Wohltemperierte Klavier nicht zu mögen, kommt Ketzerei gleich. Es wurde vor langer Zeit zum Glaubensgrundsatz erklärt und daran haben wir uns zu halten. 

Ich als südindische Musikerin mit einer Ausbildung im karnatischen Stil spüre das immer wieder deutlich. In der karnatischen Musik ist unser größter Komponist Sri Thyagaraja (wörtlich übersetzt: der Heilige Thyagaraja). Er wurde heiliggesprochen und wird jedes Jahr von Anhängern rund um den Globus bei Festivals, den Thyagaraja Aradhanas, verehrt. Ich habe meine Mutter (die karnatische Musikerin, die ich am besten kenne), gefragt, was sie mit dem Heiligen Thyagaraja verbindet. Was würde sie tun, wenn sie seine letzte Ruhestätte besuchen würde?

»Ich würde meinen Respekt erweisen«, antwortete sie. Ich fragte weiter: Würde sie nicht auch zu Thyagaraja beten, auf dem Sand des Flusses Kaveri sitzend, beim heiligen Samadhi, wo seine Gebeine liegen? »Man betet zu jemandem, den man für seinen Schöpfer hält … Respekt wird dem erwiesen, der durch extreme Hingabe in einer Kunst eine Stufe erreicht hat, die der Gottes gleichkommt. Es kann also nicht dasselbe sein.« Aber, so fügt sie hinzu: »Durch ihre Hingabe und ihre außergewöhnliche Begabung hat man versucht, sie Gott gleich zu machen.«

Hingabe und Talent. Beides zusammen macht einen Komponisten in unserer Welt würdig für die Heiligsprechung. Aber natürlich sind diese Kriterien notwendig, nicht hinreichend. Man muss engagiert und talentiert sein, und dann könnte man heiliggesprochen werden. Oder eben auch nicht. 

Jacques Callot, Ste. Cécile, vierge et martyre (1636)

Auch wenn der Kanon der westlichen klassischen Musik oft nicht explizit gemacht wird, ist er bekannt. Schauen Sie sich nur die Aufnahmeprüfungen der Juilliard School an. Für das Hauptfach Klavier muss man eine »bedeutende Komposition von Chopin, Schumann, Brahms, Liszt oder Mendelssohn« vorspielen. Nun gibt es ja mehrere komponierende Schumanns und Mendelssohns. Aber wer gemeint ist, braucht niemand zu fragen. Man weiß einfach, dass es nicht um Clara oder Fanny geht. Sie sind nicht Teil des Kanons.

Hat es Clara an Hingabe gefehlt? Oder Fanny an Talent? Oder hätte ihre Heiligsprechung einfach niemandem genützt? Natürlich wäre es schön, wenn unsere Verehrung, die gemeinschaftliche Heiligsprechung, allein aus dem tief empfundenen Gefühl der Erhabenheit der Kunst resultierte. Wenn man dieses Göttliche einmal gespürt hat, ist es schwer, sich etwas anderes vorzustellen. Aber die Wahrheit ist, wie so oft, viel profaner. Die Heiligsprechung eines Komponisten färbt auch ab auf diejenigen, die ihn erwählt und gefördert haben. Beethovens Gönner:innen sicherten sich durch ihn ihren Platz in der Geschichte; an seiner Unsterblichkeit hatten sie ihren kleinen Anteil. So müssen wir also beichten: Klassische Musik dient zwei Göttern: der Schönheit und der Macht. Die Heiligsprechung eines Komponisten steht im Dienste beider.

Nehmen wir jetzt an, wir wollten den Kanon erweitern. Der Harvard-Theologe und Reverend Matthew Potts erklärt, wie die Erweiterung des Kanons an Heiligen in der christlichen Tradition funktioniert: »Eine Heilige wie die Jungfrau von Guadalupe dient einem politischen Zweck. Sie verleiht den Indigenen Nord- und Südamerikas Legitimität auf eine Art und Weise, die für die Kirche von Bedeutung ist … Die Kirche signalisiert Menschen durch diese Kulte der Verehrung, dass sie dazugehören.« Vielleicht könnten wir das Übel der Komponistenheiligung in der klassischen Musik schmälern, wenn wir etwas umfassender verehrten. Zum Beispiel auch Hensel, Price und Sakamoto.

Wenn die einzige Sünde der Kanonisierung in der klassischen Musik darin bestünde, dass sie ausgrenzt und Machtstrukturen festigt, wäre das vielleicht schon Lösung genug. Aber die Heiligsprechung von Komponisten zementiert nicht nur Macht. Sie steht auch dem eigentlichen Ziel im Weg: Kunst zu machen, Schönheit zu suchen – und das heißt, sich mit dem Göttlichen zu verbinden.

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Die Schriftstellerin Marilynne Robinson sagte in einer Diskussion über das Buch Exodus: »Gott braucht keine Nahrung. Gott braucht kein Obdach. Die Befriedigung dieser Art von Ansprüchen, die die Welt an den Rest von uns stellt, spielt für Gott keine Rolle. Aber Schönheit kann eine Rolle spielen für Gott … Gott kennt Schönheit. Und Gott erfreut sich an der Schönheit.«

Musiker:innen können diese göttliche Forderung, die Robinson aus dem Exodus liest, erfüllen, indem sie die schönste Musik schaffen, zu der sie fähig sind. Aber der Kniefall vor den Toten in der klassischen Musik steht oft genug zwischen den Musiker:innen und ihren schöpferischen Fähigkeiten. Wenn die Musikerin nur den geheiligten Komponisten anbetet, wenn sie die Wünsche des Komponisten über die Bedürfnisse des Publikums stellt, schafft sie Musik, die in ihrer Reichweite und ihren Möglichkeiten begrenzt ist. Indem sie vermeintlich perfekt den Ansprüchen des Komponisten folgt, nimmt sie dem eigenen Musizieren die lebendige Wärme.

Trotzdem lernen wir in der klassischen Musik von klein auf so zu spielen. Auch Su erinnert sich an diesen Aspekt ihrer Ausbildung: »Mir wurde ausdrücklich beigebracht, dass ich als Interpretin im Dienste des Komponisten handele. Wenn ich spiele, sollte das Publikum nicht Sharon hören. Sie sollten Beethoven, Bach oder Schubert hören. Sie sollten die Intention des Komponisten hören, und wenn ich im Weg war, machte ich etwas falsch … Es gibt in der klassischen Musik definitiv das Gefühl, dass Interpret:innen auf eine Art weniger wert sind Komponist:innen. Das liegt in der Natur der Sache.« Sie dampft all das ein auf den Leitspruch: »Befreie dich von deinem eigenen Selbst. Du sollst nur Sprachrohr für den Komponisten sein.«

Das habe ich auch gehört, und heute, aus Erwachsenenperspektive, finde ich das, was ich früher für selbstverständlich gehalten habe, ziemlich seltsam. Auch Komponisten werden oft selbst als Mittler beschrieben: In What To Listen For In Music schrieb Aaron Copland, dass ein musikalisches Thema für einen Komponisten »ein Geschenk des Himmels ist. Er weiß nicht, woher es kommt – er hat keine Kontrolle darüber.« Der Komponist lässt das Göttliche durch ihn in die Musik fließen. Wie sinnvoll kann es dann sein, als Musikerin Vermittlerin eines Vermittlers zu sein? Wenn wir der Göttlichkeit der Musik gerecht werden wollen, sollten Komponist:innen und Musiker:innen demselben Zweck dienen: der Schönheit.

Johann Gottfried Schadow, Saint Cecilia at the Organ, Flanked by Angels Making Music

Als Zuhörerin bewundere ich Interpret:innen, die ich erlebe. Ich möchte sie hören. Ich möchte nicht, dass ein talentierter Pianist den Klang seines Steinways einschränkt, weil dem, was wir für die Träume eines toten Mannes halten, andere Grenzen gesetzt waren. Ich möchte, dass dieser Musiker mir seine ganze Begabung, seine ganze Liebe zeigt. Wenn der Musiker sich selbst aus der Aufführung streicht, bin ich um ihn betrogen.

In der karnatischen Musiktradition geht die Verehrung des Komponisten nicht so weit wie in der westlichen klassischen Tradition. Weil die karnatische Musik keine schriftliche Tradition hat, weil der Kolonialismus sie auslöschen wollte, weil Improvisation integraler Bestandteil dieser Kunst ist: Aus all diesen Gründen entwickelt sich die karnatische Musik ständig weiter. Man kann Thyagaraja mit Leib und Seele ergeben sein und gleichzeitig auf der Bühne mit seiner Musik experimentieren, wie man es für richtig hält. Und genauso soll es auch sein. Die Musik des Komponisten zu verändern ist eine Art, sie relevant und lebendig zu halten. Nicht aus Respekt vor dem Komponisten, sondern aus Respekt vor der Musik.

Ich frage mich, ob wir einen solchen Ansatz nicht auch in der westlichen klassischen Musik in Betracht ziehen sollten: lebendige Musik zum Ziel zu haben, die von Komponist:innen und Interpret:innen gemeinsam geschaffen wird. Es gibt Komponist:innen, die das ähnlich sehen. Copland schrieb: »Es gibt nichts Unfehlbares am musikalischen Instinkt eines Komponisten.« Er gehört zweifellos zum amerikanischen Kanon, und doch sagte er ganz klar, dass Komponist:innen nicht größer sind als andere auch.

Es ist die Illusion der Unfehlbarkeit, die wir aufgeben müssen. Selbst die großen Religionen haben nie gewollt, dass die Heiligen als solche behandelt werden. Reverend Potts erklärt mir dazu: »Heilige sollen nicht unfehlbar sein; sie sollen menschlich sein. Sie werden nicht durch ihr spirituelles Heldentum geweiht, sondern durch die Liebe … Sie ist es, die sie theologisch gesehen heilig macht.“

Liebe, nicht Perfektion. Wärme und Fehlbarkeit. Der Musik dienen wir nicht, indem wir Komponisten heilig sprechen und sie als ideale Schöpfer hochhalten. Der Musik dienen wir, indem wir sie lebendig halten: indem wir die Musik in ihrem gemeinschaftlichen Entstehen im Hier und Jetzt lieben. Heilig ist nicht der Komponist, sondern das Leben, das wir seinem Werk geben.

Einmal in meinem Leben bin ich tatsächlich gepilgert. Mit 19 wanderte ich durch die Straßen von Wien, allein, pleite und auf der Suche. Ich starrte auf Haydns Klavier mit den schwarzen Tasten. Ich starrte aus den Fenstern von Beethovens Wohnung. Ich dachte, dass mich das auf eine Art bewegen würde, aber alles, was ich fühlte, war eine traurige Leere.

Ins Mozarthaus bin ich gar nicht erst reingekommen und so stolperte ich geschlagen in die Kathedrale nebenan. Dort sang ein Knabenchor Rutters For The Beauty Of The Earth. Es war ein Stück, das ich Jahre zuvor gelernt und das in mir seinen festen Platz hatte. Als ich es dort hörte, spürte ich endlich die Resonanz, wegen der ich gekommen war. Der Geist Beethovens konnte mich nicht erheben, aber die Energie dieser Kinder konnte es. Ihr Lied war für mich heilig. ¶

… ist Autorin, Wissenschaftlerin und Musikerin. Sie lebt in Chicago.