In wenigen Tagen geht Stas Nevmerzhytskyi, Chefredakteur von The Claquers, einem ukrainischen Online-Magazin für klassische Musik, an die Front. Der Musikwissenschaftler und Alte-Musik-Spezialist (»Ich habe meinen Abschluss an der Nationalen Musikakademie in Kyjiw gemacht, die leider immer noch nach Tschaikowsky benannt ist«) gründete das Magazin, dessen Artikel auf Ukrainisch und Englisch (und gelegentlich auch auf Deutsch und Polnisch) erscheinen, im Juni 2020. Der Name beschreibt »eine Person, die bei einem Theaterstück oder einer anderen öffentlichen Aufführung bezahlten Applaus liefert« und reagiert so mit einem Augenzwinkern auf den Ruf von The Claquers, bei Kritiken kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Aber nicht nur das: Seit dem russischen Angriff auf die gesamte Ukraine ist die Zeitschrift zwangsläufig zu einem Medium der Kriegsberichterstattung geworden. (Tetiana Novytska, die bei The Claquers eine erschütternde Geschichte über die Erfahrungen eines ukrainischen Musikers in russischer Gefangenschaft veröffentlicht hat, wird Nevmerzhytskyi als Chefredakteurin ablösen.) Ich spreche mit Nevmerzhytskyi via Zoom über die frühe »Arroganz« des Magazins, die wichtigen Unterschiede zwischen ukrainischer und russischer Musik und seine Entscheidung, an die Front zu gehen. Les Vynogradov dolmetschte während des Gesprächs.

VAN: Mit welchem Ziel habt ihr The Claquers gegründet?

Stas Nevmerzhytskyi: Vor The Claquers gab es in der Ukraine kein Medium, in dem junge Musikwissenschaftler:innen sich äußern konnten. Es gab zwar immer wieder mal Versuche, aber das waren meistens Blogs, also keine richtigen Medien, ohne Management, ohne Aufgabenteilung, ohne Honorare für die Autor:innen. Es gab nur die großen Medien, die sehr selten Musikkritiken veröffentlicht haben, und die wenigen Kritiken, die sie veröffentlicht haben, waren die von etablierten Kritikerinnen und Kritikern.

Es gab also diese kritische Masse junger Musikwissenschaftler:innen mit jeder Menge Energie und Ideen, die aber einfach nicht die Möglichkeit hatten, diese Ideen in der Öffentlichkeit zu äußern. Und da kamen wir ins Spiel. 

Außerdem war es uns von Anfang an wichtig, auch auf Englisch zu erscheinen, weil Menschen im Ausland ukrainische Musik hauptsächlich aus der russischen Perspektive kennen und oft nicht zwischen ukrainischer und russischer Musik unterscheiden können.

Wie sah die ukrainische klassische Musikszene damals aus?

Ich werde sehr nostalgisch, wenn ich an die Musikszene von 2020 denke und sie vergleiche mit dem, was sie heute ist. Einerseits war da die COVID-19-Pandemie, andererseits gab es eine große Vielfalt. Neben all den bekannten Institutionen wie der Philharmonie und der Nationaloper gab es aktive unabhängige Initiativen, denen wir immer die größte Aufmerksamkeit geschenkt haben. Es waren junge Leute wie wir, aber Komponist:innen und Interpret:innen.

Wir waren überzeugt, dass der ukrainischen Szene ein kritischer Blick auf das Geschehen fehlte, und wir wollten Katalysatoren für Veränderungen sein und der Szene helfen, sich weiterzuentwickeln. Das war mit einer gewissen Arroganz verbunden, denn wir waren im Grunde noch Studierende, und vor uns standen berühmte Künstler:innen.

Wie war es, Kritiken zu schreiben über Musiker:innen, die sonst nicht kritisiert werden?

Das war schwierig, viele waren es nicht gewohnt, so etwas zu hören, schon gar nicht von jemandem wie uns: Wer seid ihr? Ihr seid zu jung, und wir sind so berühmt. Was habt ihr denn erreicht? Sowas haben wir oft gehört. Die Leute sind es nicht gewohnt, eine andere Meinung zu hören, und wir haben den Narzissmus getroffen, den alle Künstler:innen haben. Wir haben sie aus ihrer Komfortzone geholt. Viele mögen uns wohl nicht, und manchmal waren die Reaktionen richtig übel. Aber ich weiß, dass jetzt einige Veranstalter, wenn sie ein Konzert organisieren, denken: Was werden wohl The Claquers über uns schreiben?

Kritik als reines Kritisieren war nie unser Ziel. Wir haben das Magazin gegründet, weil wir Musik lieben. Sie ist uns wichtig, und wir wollten ein Teil davon sein und zur Entwicklung dieser Branche beitragen, sie besser machen. Wirklich aus einer großen Liebe heraus. Wir gelten oft als sehr kritisch, aber gleichzeitig haben wir Künstler:innen und Komponist:innen sehr unterstützt, indem wir viel über sie geschrieben haben, auch auf Englisch. Das heißt, wir haben viel investiert, um sie sowohl in der Ukraine als auch im Westen bekannt zu machen.

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Wie hat sich die Rolle von The Claquers seit dem russischen Angriff auf die gesamte Ukraine 2022 verändert?

Es war für uns alle eine schwierige Zeit. Seit dem Beginn dieses Angriffs gab es wahrscheinlich keinen einzigen Tag, an dem ich mich nicht gefragt habe: Warum machen wir das überhaupt? Aber wir haben erkannt, dass wir das alles angefangen haben, weil wir Musik und das, was um uns herum passiert, lieben, und dass wir das stärken können. Und unsere Stimme im Westen ist jetzt wichtig, mehr denn je.

Wir haben verstärkt in zwei Richtungen gearbeitet. Einerseits haben wir begonnen, mehr über die Kolonialisierung zu sprechen: wie die russische Kultur die ukrainische Kultur kolonialisiert hat. Andererseits können wir dem Krieg nicht aus dem Weg gehen, denn viele der mit uns befreundeten Musiker:innen sind im Krieg, viele sind gefallen, und einige leben unter Besatzung.

Und wir haben einen klaren Standpunkt eingenommen, wenn es um die bisherige Haltung gegenüber russischer Musik geht, die überdacht werden sollte. Russische Musik sollte jetzt nicht gespielt werden, zumindest nicht in der Ukraine. Wir verbrennen sie nicht auf dem Scheiterhaufen und wir versuchen auch nicht, sie ganz abzuschaffen, aber es muss eine kritische Neubewertung geben.

Worum geht es bei dieser Neubewertung?

Russische Kultur, insbesondere russische Musik, fungierte schon immer als Deckmantel für den aggressiven russischen Kolonialismus und Imperialismus. Aber darüber wird im Westen nicht gesprochen; im Westen wird sie als eine Kultur wahrgenommen, die auf denselben Werten aufbaut wie die europäische Kultur – auf den Prinzipien der Zivilgesellschaft und allen Werten, die die europäische Demokratie mit sich gebracht hat. Das wahre Wesen der russischen Kultur ist im Ausland noch nicht verstanden worden, obwohl es ein paar Ausnahmen gab, zum Beispiel in den Vereinigten Staaten, wo sich am 4. Juli 2022 einige Orchester geweigert haben, Tschaikowskys Ouvertüre 1812 aufzuführen, wegen des Militarismus, den diese Musik vermittelt. An einigen europäischen Opernhäusern hat man sich geweigert, Tschaikowskys Jungfrau von Orleans aufzuführen, weil man der Meinung war, dass der militaristische Geist des Werks in der aktuellen Situation nicht angemessen ist. Aber das sind eher Ausnahmen als die Regel.

Es gibt auch einen nationalen Kontext. Wegen dieser ›Überlegenheit‹ der russischen Musik wurde ukrainische Musik immer kleingehalten und ignoriert – russische Musik wurde immer als großartig und ukrainische Musik als zweitklassig angesehen. Deshalb kennt der Westen Schostakowitsch und all die Geschichten darüber, dass er angeblich gegen die Sowjetregierung war, aber nicht [Borys] Ljatoschynski, einen ukrainischen Komponisten, der zur gleichen Zeit gelebt hat und der auch ein großer Komponist war. [Sowjetischen Behörden war die Aufführung der Musik Ljatoschynskis ein Dorn im Auge.] Deshalb ist es sehr frustrierend und demütigend zu sehen, wie ukrainische Musik in Europa in den Kontext russischer Musik gestellt wird und ukrainische Interpret:innen mit russischen Musiker:innen auf einer Bühne spielen müssen.

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Abgesehen davon, dass man ukrainische und russische Musik nicht in einen Topf werfen sollte, was könnten ausländische Journalist:innen bei der Berichterstattung über Kultur in der Ukraine noch besser machen?

Der einzige Rat, den ich geben würde, ist, ukrainische Kultur nicht als etwas Exotisches und Neues darzustellen, das einfach aus dem Nichts auftaucht. Die ukrainische Kultur hat sich immer neben der europäischen Kultur entwickelt. Dabei gibt es große Unterschiede, denn so ist es nun mal in dieser Gegend, aber sie war immer ein integraler Bestandteil Europas.

Wenn man ukrainische Kultur durch diese Linse betrachtet – wenn man anfängt, die Ukraine als Teil Europas wahrzunehmen –, erledigt sich diese Frage von selbst und man versteht, was es zu schreiben gilt. 

Wie wichtig ist es deiner Meinung nach für russische Künstler:innen oder Künstler:innen mit einer Verbindung zu Russland – Currentzis zum Beispiel –, öffentlich Haltung zum Krieg zu zeigen?

Ich glaube nicht, dass Currentzis eine Haltung hat, er hat sich in keiner Weise gegen den Krieg ausgesprochen.

Richtig, aber Currentzis wurde oft kritisiert, weil er sich nicht geäußert hat …

… Wenn wir in einer europäischen Gesellschaft leben, die auf all den Werten aufbaut, die wir kennen, dann muss jeder Mensch, der Teil dieser Gesellschaft ist, Haltung zeigen, sie zum Ausdruck bringen und durch sein Verhalten zeigen, wofür er steht: Freiheit oder Diktatur. Steht man auf der Seite des Guten? Verurteilt man das Böse oder nicht? Bei Currentzis ist das ganz einfach: Er bleibt im russischen Kontext, er hat den Krieg nicht verurteilt, und er wird von der VTB Bank unterstützt, die in Europa mit Sanktionen belegt ist.

Aber ich möchte nicht, dass der Eindruck entsteht, dass ein Russe, nur weil er eine leichte Unzufriedenheit mit dem russischen Regime äußert, automatisch einer von den Guten ist und man gut mit ihm zusammenarbeiten kann. Das ist nicht der Fall. Wir brauchen entschlossene Maßnahmen – nicht nur einen Facebook-Post oder einen Satz im Interview, um noch Auftritte in Europa zu bekommen. Russland ist zu unserem Problem geworden und wir kämpfen dagegen. Aber die Situation in Russland ist für die Menschen dort noch nicht zum Problem geworden. Erst wenn sie anfangen, etwas zu tun, um ihr Land zu verändern, wenn sie erkennen, dass sie Bürger:innen sind, und anfangen, zu kämpfen, können wir anfangen, irgendeine Art von Gespräch zu führen.

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Bei der Lektüre von The Claquers hatte ich den Eindruck, dass ihr nicht nur Musikkritik macht, sondern auch Kriegsberichterstattung, zum Beispiel über die Bedingungen in russischer Kriegsgefangenschaft oder das Massaker an der Zivilbevölkerung in Bucha – durch die Brille der Musik.

Wir waren noch nie in den Kriegsgebieten selbst. Aber wir sind in Kontakt mit Freund:innen, die entweder im Krieg sind oder in besetzten Gebieten leben. Wir teilen ihre Erfahrungen und dokumentieren das Kriegsgeschehen durch ihre Geschichten. Eine dieser Geschichten handelt von Musikern aus Militärkapellen, die nach dem Fall von Asowstal gefangen genommen wurden. Normalerweise schreiben die Medien über die kämpfenden Soldaten, während Musiker leider vergessen werden und der Rettung aus der Gefangenschaft nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt wird. Wir haben kürzlich über einen Musiker berichtet, der die schrecklichen Bedingungen in russischer Gefangenschaft überlebt hat.

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Warum hast du dich jetzt entschlossen, zur Armee zu gehen?

Das ist eine schwierige Frage. Als Bürger hätte ich das wahrscheinlich zu Beginn des großangelegten Angriffs tun sollen. Ich habe es versucht, aber es gab für mich eine bestimmte Situation, in der ich gemerkt habe, dass ich für die Armee nicht bereit war. Ich bin unter Beschuss geraten; ich habe irgendwo Schüsse gehört; ich hatte ein Sturmgewehr in der Hand, aber ich wusste nicht, was ich damit anfangen sollte. Ich hatte große Angst, so peinlich das auch klingt. Und ich habe das Gewehr der Polizei übergeben.

Danach habe ich mich körperlich vorbereitet, denn ich war körperlich schwach. Ich habe trainiert und eine militärische Ausbildung für Zivilist:innen absolviert – man wohnt weiter zu Hause, aber man nimmt am theoretischen und praktischen Unterricht auf dem Übungsplatz teil.

Trotzdem hatte ich immer noch auf eine Art das Gefühl, dass ich für die Musikszene da sein musste. Sie zu verteidigen und – so prätentiös das auch klingen mag – der ukrainischen Musik dabei zu helfen zu überleben. Das hat mich eine Zeit lang hier gehalten. Aber nach dem Tod meines engen Freundes, des großen, wenn auch jungen Musikwissenschaftlers Ivan Kuzminskyi, hat sich vieles geändert. Er war einer der wenigen, die sich mit der frühen ukrainischen Musik beschäftigt haben. 

Zwei Jahre lang habe ich überlegt, ob ich gehen soll, und letztendlich habe ich mich dazu entschlossen. Ich erkläre mir das folgendermaßen: Es ist sehr schwierig, alles zurückzulassen, was man geschaffen hat, sein Leben komplett aufzugeben. Aber ich habe erkannt, dass man etwas nicht wirklich und aufrichtig verteidigen kann, wenn man es nicht liebt. Und wenn man erkennt, dass man das, was man aufgebaut hat, wirklich liebt, kann man es mit reinem Herzen verteidigen.

Auf welche Zukunft hoffst du für The Claquers

Ich habe erkannt, dass nichts, was ich geschaffen habe, von Bedeutung ist ohne Menschen, an die ich es weitergeben kann. Ich habe dem Team keine besonderen Ziele gesetzt. Ich bin einfach sehr gespannt darauf, wohin sie gehen, was sie erreichen. Es steht ihnen frei, zu machen, was sie wollen. Das Einzige, was ich voraussagen kann, ist, dass es ganz anders wird, und das ist großartig. Es ist eine neue Generation, neue Menschen. Sie nehmen die Welt anders wahr, vielleicht sogar noch intensiver. Für mich ist das eine Gelegenheit, die Musik mit ihren Augen zu betrachten. So entstehen ganz neue Formen von Bedeutungen. ¶

... ist seit 2015 Redakteur bei VAN. Sein erstes Buch, The Life and Music of Gérard Grisey: Delirium and Form, erschien 2023. Seine Texte wurden in der New York Times und anderen Medien veröffentlicht.