Die am Schwarzen Meer gelegene Kulturmetropole Odessa ist vom Krieg bisher noch nicht so stark betroffen wie viele andere Regionen der Ukraine. Allerdings mehren sich die Anzeichen, dass ein russischer Angriff auf die drittgrößte Stadt des Landes kurz bevor steht. Auch an Odessas Opernhaus ist der Alltag seit Beginn der russischen Invasion ein anderer. Ein Gespräch mit Anatolii Pastukhov (59), dem Assistenten des Chefdirigenten, und dem führenden Tenor Vladislav Gorai (54) – über Tarnnetze, Musik in der Kriegszeit und die Kollegen in Russland.

VAN: Wir haben von Dirigent Vitali Alekseenok gehört, dass Sie sich der Territorialverteidigung angeschlossen haben. Stimmt das? Wie sieht Ihr Tagesablauf im Moment aus?
Anatolii Pastukhov (AP): Viele Orchestermitglieder, Solisten und Balletttänzer unserer Oper haben Einsatzmöglichkeiten gefunden. Einige Musiker aus dem Orchester wurden mobilisiert, kriegen Waffen und werden kurz ausgebildet. Ich werde in einem halben Jahr 60 und bin offenbar kein geeigneter Soldat mehr. Also tue ich, was ich kann. Wir haben viele Freiwilligenzentren. Als ich am ersten Tag zur Territorialverteidigung ging, sagte ich, dass ich ein Auto habe. So begann ich, Lebensmittel und Medikamente zu transportieren, oder auch mal die Militärs irgendwohin zu fahren. Meine Frau leitet eigentlich die Operntruppe des Theaters, aber jetzt webt sie fünf bis sechs Stunden pro Tag mit anderen Frauen Tarnnetze, die ich dann auch transportiere.
Vladislav Gorai (VG): Als ein Freund und ich uns für die Verteidigung angemeldet haben, waren alle Plätze schon vergeben. Das ist keine reguläre Armee, aber schon mit einer Waffe in der Hand. Man hat uns zwar in die Reserve eingetragen, aber es ist für einen normalen Menschen doch unmöglich, zu Hause im Wartemodus fernzusehen. Man will sich nützlich machen. Also helfe auch ich mit meinem Auto als Freiwilliger beim Transport von Materialien. Über Odessa flüchten jetzt auch Menschen aus Mykolajiw in den Westen, wir helfen ihnen. Wir wissen, dass Europa gerade sehr viele Flüchtende aufnimmt. Wir schätzen jede Unterstützung sehr, jetzt vor allem die moralische. Danke! Wir werden das nie vergessen! Und ich denke, dass dieser Zusammenhalt der Völker in Zukunft ganz besondere Früchte tragen wird.
Es gibt in deutschen Medien einige Berichte darüber, wie Odessa sich auf einen russischen Angriff vorbereitet. Sind Sie bereit, die Stadt mit einer Waffen in der Hand zu verteidigen, wenn das nötig werden sollte?
AP: Wir sind alle bereit, und wir sind auch bereit, eine Waffe in die Hand zu nehmen, aber bisher gibt man uns keine. Ich müsste ja, wenn es dazu kommen sollte, zuerst zumindest eine Art Trainingskurs machen. Man muss das Gewehr richtig bedienen können, um nicht sich selbst und seinen Leuten zu schaden.
Die Menschen verhalten sich hier gerade sehr ähnlich. Es haben sich zum Beispiel am 26. Februar in der Territorialverteidigung so viele Freiwillige gemeldet, dass selbst die Menschen mit Kampferfahrung zurückgewiesen wurden. Die Menschen bringen Essen, Wasser, alles freiwillig. Du kommst abends nach Hause und wünschst dir, es käme jetzt eine Nacht ohne Sirenenalarm und ohne Explosionen. Das trifft die Psyche sehr. Die gegenseitige Hilfsbereitschaft hilft aber gegen die depressiven Stimmungen.
Während und nach der Maidan-Revolution 2014 waren in Odessa noch prorussische Stimmen zu hören. Hat sich der Verdacht, die Stadt sei prorussisch eingestellt, nun komplett erledigt?
AP: Ich kann nicht sagen, dass Odessa ›prorussisch‹ war. Odessa war immer russischsprachig, ja. Noch mehr: Odessa ist wohl die multinationalste Stadt der Ukraine, hier leben auch Bulgaren, Gagausen, Juden. Aber ›prorussisch‹? Wissen Sie, ich war sehr verstimmt, als ich mir ein Interview im russischen Fernsehen angetan habe, in dem es heißt, wir hätten hier Banderiten. Das ist doch Quatsch. Ich glaube nur, Putin hat von uns einfach solch einen großen Widerstand nicht erwartet.

Vom Opernhaus kursieren Fotos, auf denen vor dem Gebäude Sandsäcke aufgetürmt sind. Wie geht es dem Theater gerade, wurde es umfunktioniert?
AP: Ja, vor dem Theater stehen viele Tschechenigel und Sandsäcke. Auch das Denkmal des Herzogs von Richelieu, eines unserer wichtigsten Sehenswürdigkeiten, wurde komplett mit den Sandsäcken bedeckt. Das Theater selbst ist jetzt allerdings für Besucher geschlossen. Es gibt Militärs, die Wache halten, und Dienste, die rund um die Uhr im Einsatz sind und das Theater am Laufen halten.
VG: Das Theater ist grob gesagt eingemottet worden und wird jetzt als strategisches Objekt bewacht. Es macht für uns Künstler und Solisten jetzt überhaupt keinen Sinn, da aufzutreten.
Die Berliner Philharmoniker mit Kirill Petrenko, die eigentlich am 1. Mai in Odessa ihr Europakonzert geben sollten, haben das Opernhaus in Odessa mit einer Musikbotschaft und einem Stück von Valentin Silvestrov unterstützt. Gibt es überhaupt noch Musik in Ihrem Leben gerade?
AP: Die Musik spielt immer eine sehr große Rolle in meinem Leben. Ich arbeite seit 42 Jahren in diesem Opernhaus, das sagt schon etwas. Es gab harte Zeiten, in denen ich das Theater verlassen wollte. Ich habe nach einem besseren Ort gesucht, an dem ich mehr verdienen konnte, aber ich bin geblieben, und wenn Gott es will, werden wir noch so lange wie möglich dem Theater dienen. Übrigens: Wir haben uns schon auf das Konzert der Berliner Philharmoniker in unserem Haus vorbereitet, das ist doch das Orchester Nr. 1 auf der Welt, und wir wollten seinen Besuch bei uns so gut wie möglich gestalten, inklusive der Akustik und so. Leider haben die Zeiten diese Pläne kaputt gemacht. Ich hoffe aber sehr, dass die Berliner Philharmoniker nach unserem Sieg zu uns kommen und wir zusammen das 140. Jubiläum des Orchesters feiern werden.
VG: Ich hoffe, dass diese ›Kampagne‹ von kurzer Dauer sein wird. Sollte alles länger dauern, wird eine andere Logistik geschaffen, vielleicht werden die Musiker für die Militärs oder in den Krankenhäusern spielen. Jetzt ist noch vieles etwas chaotisch, aber man wird dann auch für uns Verwendung finden, damit wir unsere Soldaten, unser Volk oder die Verwundeten irgendwie unterstützen könnten. Im Moment versuche ich, täglich eine halbe Stunde zu üben, um meine Stimme in Form zu halten. Am Samstag haben wir auf gemeinsame Initiative mit unseren Musikern Verdis ›Va, pensiero‹ aus Nabucco auf dem Platz vor dem Theater gesungen und gespielt. Es war minus fünf Grad, aber es hat uns so viel Spaß gemacht, zu singen. Wir wollten mit dieser Aktion die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf unsere Stadt lenken und auf die Forderung unseres Präsidenten, über der Ukraine eine Flugverbotszone einzurichten.
Sind viele Mitarbeiter:innen des Theaters geflüchtet?
AP: Klar, wir haben auch Frauen mit kleinen Kindern. Sie haben natürlich die Stadt verlassen, denn es gibt nichts Kostbareres als das Leben eines Kindes. Einige sagten mir, dass sie bei der ersten Gelegenheit zurückkehren würden, sie wollen keinen Flüchtlingsstatus, sondern nur diese schwere Zeit abwarten, um das eigene Leben und das Leben der Kinder nicht in Gefahr zu bringen.
VG: Auch ich habe meine Frau und Kinder ins Ausland geschickt. Sie sind jetzt in Moldawien. Schon zwei Wochen lang sehen wir uns nur auf dem Handy-Bildschirm. Meine Mutter wollte nicht mitfahren, sie ist hier geblieben und hilft auch, die Tarnnetze zu weben. Sie arbeitete 52 Jahre an einer Musikschule, sie war Chorleiterin. Als sie gesehen hat, dass ihre Musikschule in unserer Heimatstadt Malyn in der Region Schytomyr von einer Bombe zerstört wurde, hat sie für zwei Stunden die Fassung verloren.
Sie haben vielleicht Freunde oder Bekannte in Russland. Haben Sie in dieser schwierigen Situation miteinander gesprochen?
AP: Nein, habe ich nicht. Ehrlich gesagt will ich auch nicht. Wenn meine Freunde irgendwo in Schwierigkeiten wären, würde ich sie anrufen und es selbst herausfinden. Aber sie rufen mich nicht an. Wozu soll ich sie dann anrufen? Sie scheinen das nicht zu brauchen. Also nein.
VG: Mich haben keine Künstler angerufen. Ich habe gehört, dass die Verbindung gerade auch nicht wirklich funktioniert. Einige Menschen, die keine Künstler sind, haben mich jedoch angerufen, auch ein Geschäftsmann, der in Russland hoch gestellt ist. Er sagte, dass er die ganze Situation idiotisch finde und es auch für die Geschäfte eine Katastrophe sei. Es hat mich auch berührt, dass er sich entschuldigt hat für das, was Russland der Ukraine gerade antut. Möge es von solchen Menschen mehr geben, vielleicht endet dann auch alles.
Können Sie es hinnehmen, dass viele Künstler in Russland sich nicht öffentlich zu diesem Angriffskrieg äußern?
AP: Ich glaube, 99 Prozent der Musiker in Russland haben Angst, ihren Job zu verlieren, oder noch mehr Angst davor, dass sie einen Besuch bekommen und verhaftet werden. Daher äußern sie ihre Meinung nicht.
VG: Ich hoffe, ich will daran glauben, dass sie einfach total unwissend sind über das, was in der Ukraine gerade passiert, und deswegen noch keine Haltung dazu entwickelt haben. Sie wissen noch nicht, dass sie wegen ihres Schweigens vielleicht keine Engagements mehr in Europa oder in den USA kriegen. Kein normaler Mensch würde einfach zu Hause verweilen, wenn er sehen würde, wie Bomben Wohnhäuser treffen und Kinder sterben. Ich kann ihr Schweigen also nur darauf zurückführen, dass sie einfach nicht wissen, was hier passiert, weil es sonst keine Rechtfertigung für die ausbleibende Positionierung gibt. Ein Krieg ist nicht einfach ein Kampf einer Armee gegen eine Armee. Wenn die Leute sehen würden, dass die Geschosse unsere Wohnhäuser treffen, würden viel mehr Demonstranten auf die Straßen gehen. Die Künstler sind doch das Gewissen der Nation. Sie könnten doch wenigstens sagen, dass sie gegen den Krieg sind, könnten eine Botschaft der Menschlichkeit senden. Ein Mensch der Kultur kann doch nicht unpolitisch sein. Valery Gergiev war zum Beispiel immer politisch, er unterstützt und legitimiert Putin. Und wenn Anna Netrebko meint, eine Distanzierung von Putin sei wie eine Distanzierung von der Heimat, dann ist sie auch politisch. Aber ich hoffe, dass Russland nicht gleich Putin ist, auch wenn diese Hoffnung mit jedem Tag schwindet. ¶