2019 schrieb Janvier Murenzi Mata y’ amaraso, ein Stück zum Gedenken an den Völkermord an den Tutsi von 1994 in Ruanda. Murenzi lebt heute in Huye, im Süden des Landes. Der 62-Jährige ist Dozent an der University of Rwanda, wo er Sozialwissenschaften, Philosophie und Politik lehrt. Außerdem ist er Musiklehrer an der Rwanda School of Creative Arts and Music. In Mata y‘ amaraso verbindet er seine klassische Musikausbildung mit Texten auf Kinyarwanda.
30 Jahre ist es her, seit dem Völkermord in Ruanda eine Million Menschen zum Opfer fielen. Das Land hat in den letzten drei Jahrzehnten große Fortschritte gemacht, befindet sich aber nach wie vor in einem Prozess der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte.
VAN sprach mit Murenzi über seine Komposition und die Bedeutung, die sie heute hat.

VAN: Warum haben Sie dieses Stück geschrieben?

Janvier Murenzi: Ich habe gedacht: Ich muss zum Wiederaufbau des Landes beitragen. Ich baue keine Häuser und fahre keine Sachen herum. Ich bin Musiker, also geht es bei meinem Beitrag um Musik. Musik kann einen Beitrag zum Leben einer Gesellschaft leisten. Das ist eine politische Rolle, ein politischer Aufruf an Künstler:innen, nicht nur zu tanzen und zu performen, sondern auch über große Themen wie das Leben einer Nation nachzudenken, auch über das Negative in unserer Geschichte.

Es gab schon Musik, die an den Völkermord an den Tutsi von 1994 erinnert, ich war also nicht der erste, der so etwas geschrieben hat. Es gibt andere, aber die haben eher einen realistischen Ansatz verfolgt – sie haben über die Ereignisse gesungen, wie sie passiert sind. Deshalb dachte ich, es sei an der Zeit für etwas, das eher poetisch und metaphorisch arbeitet. Außerdem sind die Lieder, die dem Völkermord gedenken, eher aus dem Pop-Bereich. Ich musste mit meinem Hintergrund in klassischer Musik einen Beitrag leisten.

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Können Sie die Bedeutung des Stückes etwas genauer erklären? 

Es heißt Mata y‘ amaraso. ›Amata‹ bedeutet Milch, ›Amaraso‹ Blut. Der Monat April war im alten Ruanda ein Monat des Überflusses, ein Monat der Milch. Doch leider erwies er sich 1994 nicht als Monat des Lebens, sondern als Monat des Todes, des Unglücks, der Katastrophe eines ganzen Landes.

Die Grundidee ist dieser Kontrast zwischen der Geschichte des Monats April und der schrecklichen Geschichte des Völkermords. Mit diesem Kontrast habe ich gespielt. Der Kontrast ist ein Grundgedanke, ein allgemeiner Gedanke, aber ich habe versucht, ihn weiterzuentwickeln: Wenn man schon keine Antwort auf die Frage finden kann, warum Menschen durch solches Unrecht gestorben sind, dann können wir wenigstens dazu aufrufen, den Überlebenden zu helfen.

Es ist ein pragmatischer Aufruf dazu, für sie zu tun, was wir können. Denn einige unserer Initiativen und Pläne reichen da noch nicht weit genug. In meinem Lied geht es also um den Einzelnen und die Gemeinschaft, Hand in Hand, und darum, dass Vergangenheit und Gegenwart weitergetragen werden, mit Blick in Richtung Zukunft.

Könnten Sie grob den Refrain übersetzen?

Der Refrain lautet in etwa ›April des Blutes‹, ›blutiger April‹ sozusagen. ›Man kann uns unsere geliebten Menschen nicht zurückgeben, aber man kann etwas für die Überlebenden tun. Man kann versuchen, einen Wandel im Herzen der Täter anzustoßen. Lasst uns eine Welt bauen, die frei ist von Katastrophen oder Unglück, von Ungerechtigkeit. Und lasst uns eine Welt ohne Völkermord bauen.‹ Das war’s. Das ist der Refrain.

Wenn ich auch über die Strophen sprechen darf: Die erste ist die Geschichte des Völkermords, sie zeichnet den Hintergrund nach und beschreibt, was passiert ist. Die zweite Strophe ist optimistisch, proaktiv, blickt in die Zukunft. Dass wir Hand in Hand den Wiederaufbau voranbringen müssen.

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Sie meinten, dass Ihr Stück klassischer klingt als andere Lieder zum Gedenken an den Völkermord. Als ich es zum ersten Mal gehört habe, kam es mir fast wie eine Hymne vor. Wie klingt es für Sie?

Der Rhythmus ist langsam, wie ein Trauermarsch. Und ich habe Instrumente gewählt, die Emotionen fördern sollen. Ich habe mich für das Cello entschieden, weil es so emotional klingt. Das Cello ist das menschlichste Instrument, wenn es um Klang und Stimme geht. Und ich glaube, es ist das erste Mal, dass in Ruanda Musik für Cello komponiert wurde.

Aber das Besondere ist der Einsatz des Gongs. Es ist ein ostasiatisches Instrument, ein Perkussionsinstrument, sehr tief. Wenn man es in einem langsamen Tempo spielt, ist es meditativ, es regt einen immer mehr zum Nachdenken an. Und der Klang ist nicht hell, sondern limitiert, oder limitierend.

Die Melodie hat eine Art lange Form, auf- und absteigend, wie eine Hymne, wie Sie sagten. Aber im Refrain sind die Phrasen im Gegensatz zur Strophe kurz. Ich streue Farben ein, mit einigen Verzierungen in der Stimme. Ohne zu übertreiben, denn es geht nicht darum, Musikalisches zur Schau zu stellen – es geht um das Gedenken.

Und es gibt eine Art Dialog zwischen klassischer Musik und gregorianischem Choral, denn in der ›Bridge‹ verwende ich ein gregorianisches Thema, das als Requiem oder Totenmesse bekannt ist. Aber ich ändere den Rhythmus und die Länge der Phrasen absichtlich, um mich dem Publikum anzupassen. Um einen freien Fall, den freien Fluss des gregorianischen Gesangs zu vermeiden.

Das Outro ist eine Art Auflehnung und ein Aufruf, dass sich der Völkermord nicht wiederholen darf. Der Schluss ist also sehr emotional.

2024 jährt sich der Völkermord zum 30. Mal. Welche Rolle spielt Ihr Stück bei den Gedenkveranstaltungen?

Was ich an klassischer Musik liebe, ist, dass sie zeitlos ist, immerwährend. Ich weiß nicht, ob es prätentiös ist, das zu sagen.

Man gewinnt also etwas, aber man verliert auch etwas. Das Lied oder die Musik mag für manche Leute ein bisschen komplex oder intellektuell klingen. Als ich es veröffentlicht habe, meinten einige der Überlebenden: ›OK, danke, aber uns wäre ein realistischer Ansatz lieber. Wir wollen die Namen der Menschen singen, die gestorben sind.‹ In meinem Lied gibt es nichts dergleichen. Ich arbeite mit Bildern. So bleibt das Stück in verschiedenen Zeiten bedeutsam, das ist eher eine langfristige Perspektive.

Wie geht es Ihrem Land aktuell? 

Es ist ein Prozess. Es ist eine Reise, mit Höhen und Tiefen. Global gesehen ist die Entwicklung positiv. Aber die Details sehen zum Teil anders aus. Einige Menschen leben immer noch in Armut; einige sind noch nicht mit sich und ihrer Geschichte versöhnt. Einige sind nicht mit der Geschichte der anderen versöhnt.

Das betrifft aber nicht nur Ruanda. Ich glaube, in den USA ist sowas auch spürbar. Und zwar nicht in der Vergangenheit, sondern jeden Tag, immer. Ganz zu schweigen von der Situation in Ländern, die unter Völkermord gelitten haben, wie zum Beispiel Israel oder Armenien.

Der Refrain von Mata y‘ amaraso fühlt sich ein bisschen wie ein Gebet an. 

Er ist wie eine Einladung. Wir stehen vor zwei Aufgaben: Wir haben die Aufgabe, zu ergründen, was passiert ist, aber wir haben auch die Aufgabe, in die Zukunft zu denken. ¶

… schreibt für Printmedien, Radio und Podcasts und lebt in Vermont.