Selten hat ein klassisches Konzert für so viele politische Turbulenzen gesorgt wie das Solidaritätskonzert ›Für Frieden und Freiheit‹, zu dem der Bundespräsident die Berliner Philharmoniker am 27. März ins Schloss Bellevue eingeladen hatte. Dass das Gegenteil von gut oft gut gemeint ist, legte der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk offen. Bereits am Vorabend des Konzerts hatte er per Twitter verkündet, dass er die Einladung zur Veranstaltung ausschlagen werde, weil nur russische Solisten auftreten würden. Steinmeiers Pressesprecherin Cerstin Gammelin versuchte daraufhin (vergeblich) die Wogen zu glätten, indem sie auf die Anwesenheit ukrainischer Musiker verwies. Einer davon war der Geiger Oleh Kurochkin, der derzeit Stipendiat der Karajan-Akademie der Berliner Philharmoniker ist. Kurochkin wurde 1994 im Schwarzmeerkurort Jewpatorija auf der Krim geboren, wo er mit dem Geigenspiel begann. Mit elf Jahren zog er nach Kyiv, wo er am Musikinternat Lysenko aufgenommen wurde. Nach einem Bachelor-Studium an der Nationalen Musikakademie der Ukraine zog er 2014 nach Deutschland, wo er zunächst an der Robert Schumann Musikhochschule in Düsseldorf und seit 2017 bei Boris Garlitsky an der Essener Folkwang Universität der Künste studiert. Hartmut Welscher sprach mit Kurochkin per Zoom über seine Kindheit auf der Krim, Versöhnungskitsch und warum er derzeit keine russische Musik spielen möchte. 

Oleh Kurochkin • Foto © Elza Zherebchuk for VERE MUSIC FUND

VAN: Ihre Mutter und Großmutter leben noch auf der Krim, Ihr Vater in Odessa. Wie geht es ihnen?

Oleh Kurochkin: Den Umständen entsprechend. Wir telefonieren praktisch jeden Tag per Facetime. Das ist nicht optimal, aber Hauptsache, sie sind noch in Sicherheit. Natürlich ist die große Frage, wann und wie wir uns wiedersehen können. Von der Krim gab es früher eine gute Direktverbindung nach Deutschland. Heute dauert es wahrscheinlich 40 Stunden mit den ganzen Umwegen über dritte und vierte Länder. Man braucht auch einen russischen Pass, um auszureisen. Es ist ganz ganz kompliziert. Ich möchte natürlich auch die Sicherheit meiner Familie nicht riskieren, nur weil ich sie sehen will. 

Waren Sie 2014 zum Zeitpunkt des Euromaidan und der Krim-Annexion noch in Kyiv?

Ja, ich habe damals noch dort studiert. Die Musikhochschule in Kyiv liegt direkt am Maidan. Ich war tatsächlich die ganze Zeit bei den Protesten dabei. Genau an dem Tag, als auf dem Maidan die Demonstranten erschossen wurden, hatte ich morgens eine Probe mit dem Kyiv Symphony Orchestra, wo ich Stimmführer der Zweiten Geigen war. Zu meinem Glück war ich also nicht auf dem Platz dabei. 

Wie haben Sie in Ihrer Kindheit das Zusammenleben auf der Krim erlebt?

Ich war immer ganz stolz, dass die Krim so ein Schmelztiegel war, wo über 80 verschiedene Kulturen und Völker friedlich zusammenlebten. Diese Grundidee, dass wir alle unterschiedlich sind und doch gleich, habe ich auf der Krim immer ganz stark gespürt. In meiner Klasse waren die Hälfte Tataren, es gab Russen, Ukrainer, Georgier, Armenier … Ich habe mich als Weltbürger gefühlt, mit vier angefangen, Englisch zu lernen. In meiner Geburtsstadt Jewpatorija gab es auch einen großen deutschen Verein und starke Verbindungen nach außen. Mit einem Ensemble haben wir ein paarmal die deutsche Partnerstadt Ludwigsburg besucht, das Landesjugendorchester Baden-Württembergs war fast jedes Jahr zu Gast bei uns. Die Krim war immer sehr divers. Seit 2014 ist das schlagartig anders geworden.

Waren Sie seit der Annexion nochmal dort?

Zweimal, 2018 das erste Mal. Ich bin mit dem Auto von Simferopol nach Jewpatorija gefahren. An der Autobahn gab es alle zehn Meter eine Werbetafel mit dem Konterfei Putins und einem Zitat von ihm. Man fährt anderthalb Stunden und sieht alle paar Sekunden dieses Gesicht, das ist Orwell. An meiner Schule, auf die ich bis zur 5. Klasse gegangen bin, stand eine Metallwand, auf die jemand mit großen Buchstaben geschrieben hatte: ›Lang lebe Schirinowski.‹ Ich wollte eigentlich ein paar Wochen bleiben, aber nach ein paar Tagen habe ich es nicht mehr ausgehalten. Ich habe das nächste Flugzeug genommen und bin weg. Mit meiner Familie habe ich mich danach lieber woanders getroffen, in Kyiv oder Saporischschja. 

Haben Sie noch Kontakt zu vielen Menschen auf der Krim?

Alle Freunde von mir von früher, die so denken wie ich, denen Freiheit nicht egal ist, sind nicht mehr dort. Wenn man jung ist und eigene Gedanken hat, kann man auf der Krim jetzt nicht mehr frei leben. Mit Menschen, die pro Putin sind, habe ich den Kontakt nach 2014 eingestellt. Mir fehlte die Kraft zu versuchen, sie zu überzeugen. Ich habe viele Freunde aus dem IT-Bereich, die noch in Moskau und St. Petersburg leben. Die reisen jetzt alle aus, in die USA, nach Georgien, Israel… Viele andere bereiten das vor. In Russland kann jetzt keiner bleiben, für den Freiheit etwas Wertvolles ist. 

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Letzte Woche hat Russland angefangen, auch von der Krim Männer zur Wehrpflicht einzuberufen. Das wehrpflichtige Alter in Russland geht von 19 bis 27 Jahren, würde also auch Sie betreffen. 

Ja, über mir wohnt jetzt ein Kollege, der Geiger an der Kyiver Oper war und geflüchtet ist. Der hat ein paar Familienmitglieder auf der Krim, ich glaube in Sewastopol, die gerade eingezogen wurden. Ich habe auch einen guten Freund in Donezk, dessen Mutter sehr krank ist und nicht reisen kann, weshalb er dort geblieben ist. Er ist seit 46 Tagen nicht aus seiner Wohnung gegangen, aus Angst, auf der Straße verhaftet und als Kanonenfutter an die erste Frontlinie geschickt zu werden. Dort werden ja besonders die verheizt, die eine andere politische Einstellung haben.

Wie ist es jetzt für Sie, in Berlin und weit weg von der Ukraine zu leben?

Das Gefühl der Machtlosigkeit war zunächst furchtbar. Jetzt spiele ich jede Woche zwei bis drei Benefizkonzerte, wenn ich weiß, wohin die Spenden gehen, dass sie wirklich sofort zu einem guten Zweck eingesetzt werden, also nicht ans Rote Kreuz. Ich habe eine Liste von mittlerweile 250 ukrainischen Musikerinnen und Musikern zusammengestellt, die ich versuche, zu vermitteln. Mein Professor in Essen nimmt jetzt zum Beispiel drei oder vier Geflüchtete in seine Klasse auf. Das ist das einzige, was mir gerade Kraft gibt, weiterzuleben. Nichts zu machen, ist das Schlimmste.

Was wünschen Sie sich in Hinblick auf diese Vermittlung von deutschen Kulturinstitutionen?

Es wurde schon viel gemacht, ich kriege Hunderte von Anfragen, von Leuten, die helfen wollen, auf die eine oder andere Art, von Veranstaltern, Managern, Lehrern. Ich bin froh, dass es in unserer Szene so viele Menschen gibt, denen es nicht egal ist und die sich engagieren wollen. Ich glaube, bei jedem deutschen öffentlich finanzierten Orchester und bei jeder Hochschule gibt es genügend Ressourcen, eine Aushilfs- oder Akademistenstelle oder einen Studienplatz zu organisieren. 

Wie gehen Sie mit den schrecklichen Bildern aus der Ukraine um, die allgegenwärtig sind? 

Der Fernsehturm, der in den ersten Tagen bombardiert wurde, steht genau neben dem Internat, wo ich aufgewachsen bin. Es gab dieses Bild eines russischen Panzers genau neben der S-Bahn Station, von der aus ich jeden Tag zur Arbeit gefahren bin. Ganz viele Erinnerungen meiner Kindheit und Jugend werden jetzt so überlagert. Das ist ein ganz komisches Gefühl. 

Hilft das Musikmachen, geht das überhaupt?

Es ist super anstrengend, sich auf so eine abstrakte Sache zu konzentrieren. Andererseits, wenn ich nicht arbeiten würde, würde ich verrückt, sofort. In der ersten Woche hatte ich Gottseidank einige extra Dienste bei den Philharmonikern, das hat mir sehr geholfen, mich auf der Welt zu halten und im guten Sinne wach zu bleiben. Bei dem ganzen Doomscrolling wäre ich sonst krank geworden. 

Gibt es Musik, die Sie gerade nicht spielen können? 

Es gibt Musik, die ich nicht machen würde, das ist russisches Repertoire. Das ist klar. Dafür ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Ich habe hier bei der Akademie meinen Arbeitsvertrag, und wenn ich dort eingeteilt werde, spiele ich mit, da will ich keinen großen Streit anzetteln. Aber wenn ich für solistische Auftritte oder als Aushilfe angefragt werde, spiele ich keine russische Musik. Nicht weil ich glaube, dass Tschaikowsky oder Strawinsky Schuld sind. Aber es ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. 

Ein Konzert, in dem Sie unter anderem auch russisches Repertoire gespielt haben, war das Solidaritätskonzert der Berliner Philharmoniker beim Bundespräsidenten im Schloss Bellevue. Wäre es nicht besser gewesen, dort nur ukrainisches Repertoire zu spielen, um klar zu machen, wem die Solidarität gilt?

Da stimme ich vollkommen zu, wenn ich das Programm gemacht hätte, wäre das so gewesen. Meiner Meinung nach ist gerade die Zeit, ukrainische Musik zu spielen. Ich ermutige alle, die noch keinen Silvestrov oder keine Ljatoschynskyj-Sinfonie gehört haben, das mal zu tun. Oder das Kossenko-Violinkonzert. Da gibt es noch viel zu entdecken. 

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Waren Sie überrascht von den Diskussionen rund um das Konzert?

Als ich gehört habe, dass die Philharmoniker ein Konzert für die Ukraine spielen und ich dabei sein kann, habe ich selbstverständlich sofort zugesagt ohne lang zu überlegen. Ich glaube auch nicht, dass ein Konzert mit Kissin und dem Schostakowitsch-Trio was ganz Schlimmes ist. Kissin war ja einer der ersten russischen Musiker, die sich in einem Video ganz ehrlich und emotional gegen den Krieg gestellt haben. Kirill Petrenko ebenfalls. Ob man sich da beschweren muss, weiß ich nicht. Ich glaube, die Wut von Herrn Melnyk hängt auch weniger mit der Musik und den Solisten zusammen, die dort aufgetreten sind, sondern mit der politischen Einstellung des Bundespräsidenten seit 2014. Er hätte sich wahrscheinlich auch aufgeregt, wenn ich als Solist aufgetreten wäre. Es gab ein anderes Konzert, das Herr Melnyk ebenfalls kommentiert und abgesagt hat, bei dem ich den Grund noch viel mehr sehe. 

Das Solidaritätskonzert der Staatskapelle unter Daniel Barenboim am 7. März in der Staatsoper …

Ja, in der Rede von Herrn Barenboim ging es nicht um die Ukraine, sondern die Hälfte der Zeit nur um russische Künstler, die unter Druck stehen. Da hätte ich mich wahrscheinlich auch beschwert. 

Es gibt ja gerade viel Diskussion um eine vermeintliche ›Cancel Culture‹ gegenüber russischer Kunst. Mir scheint auch, dass das eine falsche Betonung ist, gerade weil niemand ernsthaft das Canceln fordert oder umsetzt. 

Ich studiere in Essen bei Boris Garlitsky, der in Moskau geboren wurde, dessen Familie aber ursprünglich aus Kyiv stammt. Ein Großteil seiner Familie wurde in Babyn Jar ermordet. Wir haben gestern telefoniert und er meinte: ›Es würde Strawinsky, Prokofjew und Schostakowitsch nicht schaden, wenn sie für ein Jahr nicht gespielt würden, sie bleiben in der Musikgeschichte, aber jetzt ist gerade nicht die Zeit.‹ Das ist, glaube ich, die Einstellung der meisten ukrainischen Musiker gerade. Es gibt eine Menge anderer Musik, die auch schön ist und passender. Dabei geht es nicht nur um ukrainische Musik, sondern insgesamt darum, mal zu schauen, welche Musik zu wenig gespielt wird, weil sie nicht einer hegemonialen Musiktradition entstammt. 

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Viele Solidaritätskonzerte und Statements benutzen gerade die etwas kitschige Rhetorik von Versöhnung dank der ›völkerverbindenden Kraft der Musik‹. Versöhnung suggeriert ja immer, dass beide Seiten etwas zum Konflikt beigetragen haben und jetzt mal ›über ihren Schatten springen sollten‹. Abgesehen davon, ist dafür jetzt die richtige Zeit?

Überhaupt nicht. An solchen Konzerten nehme ich auch nicht teil, obwohl schon zahlreiche Anfragen in die Richtung kamen. Es ist Kitsch, Sie sagen das richtig. 

Ist diese Rhetorik einfach ein Reflex, weil man das schon immer so macht und nicht darüber nachdenkt, ob es passt, oder was steckt dahinter?

Vielleicht will man die Augen verschließen vor der harten Wahrheit, vielleicht ist man einfach naiv, ich weiß es nicht. Die Eltern des Chefdirigenten der Oper in Lwiw, den ich sehr gut kenne, wurden in Irpin erschossen. Eine Freundin, die Konzertmeisterin bei der Nationalen Philharmonie in Kyiv war, lebt jetzt in Wien und spielt unter anderem Aushilfe bei den Wiener Philharmonikern, eine fantastische Geigerin. Ihre Eltern leben in Mariupol, sie hat seit über einem Monat keinen Kontakt zu ihnen. Sie weiß nicht, wo die Eltern sind, ob sie noch am Leben sind. Da jetzt einfach so von Frieden und Freundschaft und ›ihr seid doch Brüder‹ zu sprechen? Sind wir nicht. Meine Urgroßmutter hat noch Ukrainisch gesprochen. Dass ich russischsprachig aufgewachsen bin liegt daran, dass die ukrainische Sprache und überhaupt alles Ukrainische in den letzten Jahrhunderten systematisch unterdrückt und verboten wurden. Trotzdem sind wir Ukrainer. Jetzt liest man in den Nachrichten: ›Das ist nur Putins Krieg, die Russen haben damit nichts zu tun‹. Das ist totaler Blödsinn. Vielleicht sind es nicht 81 Prozent, die den Krieg unterstützen, aber auf jeden Fall die große Mehrheit.

Sie haben am 24. Februar auf Facebook geschrieben: ›If you remain silent, you support the Putin regime.‹ Es gibt russische Musiker, die schweigen oder sich nicht klar positionieren. Ist der Umgang mit denen für Sie schwierig?

Schwierig ist es nicht, ich spiele mit ihnen nicht, deshalb ist es ganz einfach. Gott sei Dank gibt es viele andere Musiker, mit denen ich arbeiten kann. Ich habe eine ganz klare Einstellung. Ich glaube nicht, dass jeder russische Künstler jetzt vergessen werden sollte oder nicht mehr auf die Bühne kommen darf. Wir dürfen Menschen nicht aufgrund der Herkunft oder Hautfarbe bewerten, sondern wegen dem, was sie tun, wie sie sich verhalten. In dem Moment, in dem man auf einer Bühne steht, ist man jemand, dem Menschen zuhören. Und dann braucht man eine klare Einstellung gegen den Krieg. Nicht der Pass ist entscheidend, aber die Einstellung gegen Gewalt. Ich kenne einige russische Geiger, die Netrebko und Gergiev verteidigen, die davon reden, dass Musik und Politik nicht zusammengehören, und dann Konzerte für den Frieden veranstalten wollen und versuchen, Ukrainer zu engagieren. Ich spiele mit diesen Musikern nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, die Bühne mit jemandem zu teilen, der oder die eine Politik des Tötens verteidigt, rechtfertigt oder verschweigt. Das ist eine ganz einfache Sache. 

Nach der Kritik des ukrainischen Botschafters hat Bundespräsident Steinmeier gestern zum ersten Mal Fehler in seiner Russlandpolitik eingestanden. Auch die deutsche Kulturszene hat die russische Kulturpropaganda lange unterstützt oder unterschätzt. Erwarten Sie auch da eine selbstkritische Auseinandersetzung?

Ein bisschen, wahrscheinlich. Aber dafür braucht man Mut. Ich brauche keine Entschuldigung. Was in der Vergangenheit war, ist nicht mehr relevant. Wichtiger wäre mir, dass man jetzt die richtigen Entscheidungen trifft und nicht wieder die Augen schließt. Die Kulturszene ist ein wichtiger Teil der russischen Propaganda. Viele können sich nicht vorstellen, dass jemand, der die 6. Sinfonie von Tschaikowsky so zart spielt, dass man am Ende bei der Reprise weint, jemanden unterstützt, der Menschen umbringt. Aber das ist leider so. Man kann am Dirigentenpult und als Solist auch lügen. Man kann Mitgefühl zeigen, das man eigentlich nicht hat. ¶

... ist Herausgeber von VAN. Er studierte Development Studies, Ethnologie und Asienwissenschaften in Berlin, Seoul, Edinburgh und an der London School of Economics und arbeitete im Anschluss zehn Jahre als Berater in Projekten der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. 2014 gründete er mit Ingmar Bornholz den VAN Verlag, wo er auch als Geschäftsführer fungiert. hartmut@van-verlag.com