In Berlin kann der emsige Konzertgänger jede Woche sein eigenes Kammermusikfestival kuratieren. Er kann da zum Beispiel am Montag exquisites Trio hören, am Dienstag spannungsreiches Quartett, am Mittwoch fein nachdenkliches Duo.

Dazu muss er nicht mal in den Kammermusiksaal der Philharmonie pilgern, der mit seinen 1.200 Plätzen so groß ist wie andernorts »Große Säle« und wo man, um ehrlich zu sein, nur auf dem kleineren Teil der Plätze exzellent hört. Die beliebten Rundsäle sind gerade bei Kammermusik tückisch. Der Pierre Boulez Saal ist auch ein Rundsaal, aber hat nur gut die Hälfte der Kammermusiksaalplätze, und im Parkett hört man überall gut, wenn man nicht gerade im Rücken eines Sängers sitzt. Der Kleine Saal des Konzerthauses aber hat sogar nur ein Drittel und prima Schuhkartonform: mein Berliner Traumraum für Kammermusik. Auch oder gerade weil ein befreundeter Geiger mir mal verriet, dieser Kleine Konzerthaussaal mit seinen akustischen Tücken sei für Musiker eine harte Herausforderung, während der Kammermusiksaal »für Weicheier« wäre, denn da klinge automatisch immer alles gut. (Wobei ich ergänzen würde: wenn man in Block A sitzt.)

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Im Kleinen Saal des Konzerthauses gab nun der diesjährige Artist in residence Augustin Hadelich einen Trio-Abend gemeinsam mit Marie-Elisabeth Hecker und Martin Helmchen: Geige, Cello, Klavier. Und obwohl Musiker sich hier laut meinem befreundeten Geiger ins Zeug legen müssen, weil das Publikum auch jedes Knarzen und Ächzen der schnöden Instrumentmaterie zu vernehmen vermag, knarzt und ächzt bei Hadelich/Hecker/Helmchen kaum was.

Aber zündet trotzdem. Was hier den Funken schlägt, ist auch die Kombi: Es gelingt den drei Musikern, Robert Schumanns Klaviertrio d-Moll ohne Klatsch-Unterbrechung direkt an die kleine, stille Klangfigur Varga Bálint Ligaturája des 1926 geborenen und donnerwettrigerweise noch immer lebenden György Kurtág anzuschließen. Der Effekt ist fabulös: Wenn sich inmitten von Schumanns feurigem Kopfsatz eine gedämpfte, nahezu gläserne Passage ereignet, tritt sie in quasi exterritorialen Dialog mit Kurtágs suggestiver Miniatur.

Allein bei dem eröffnenden G-Dur-Klaviertrio Hob XV:25 von Joseph Haydn hätte ich mir ein bisschen mehr Knarzen und Ächzen gewünscht, jedenfalls einen Tick mehr Esprit. Die Unsitte, Haydn etwas peripher zu nehmen, kommt offenbar selbst bei Musikern dieses Kalibers vor. Doch gleich darauf verfliegt aller Anschein zu gepflegten Musizierens: Zoltán Kodálys Duo für Violine und Violoncello von 1914 ist der Höhepunkt des Abends. Da schrubben die beiden Streicher, dass die Haare von den Bögen fetzen, aber eben zugleich hochgradig kohärent. Und wenn es am Ende des langsamen zweiten Satzes eine Passage voller schwebender Flötentöne und mysteriösen Geräuschnebels gibt, scheint darin die Essenz des einfachen, ja »reinen« Musizierens zu stecken, das dem Bartók-Weggefährten Kodály vorgeschwebt haben mag.


An Intensität mangelt es dem Tetzlaff Quartett niemals. Und auch sein Programmaufbau im Boulezsaal zündet: Die sogenannte erste und die sogenannte zweite Wiener Schule zu kombinieren, ist ein Hot Take nicht erst, seit mal wieder Schönberg-Jahr ist. Auch Haydns f-Moll-Quartett Hob III:35 (23 Jahre früher entstanden als das erwähnte Klaviertrio) spielen die vier, als ginge es um Allerletztes, selbst im Menuett. Hier könnte der Mäkelwillige höchstens anfragen, ob nicht eine gewisse höhere Leichtigkeit fehle. Ob Haydn nicht auf zu schwere Schultern genommen würde. Aber auf diesem Tongebungsniveau lässt man sich das gern gefallen. Zumal, wenn etwa Christian Tetzlaffs levitierende Geigengirlanden im Adagio einen Kontrast zur Schmerzensmiene des Spielers bilden, sich jener altbekannte Satz beweist, dass nichts so schwer sei wie das Leichte.

Außerdem sollen im Lauf des Abends auf diesen Haydn-Schultern ja auch besagter Schönberg sowie Alban Berg stehen. Bergs Streichquartett Opus 3 von 1910 sprengt nicht nur Grenzen der Harmonikk, sondern auch das Klangbilds, da zeigen sich Weltallkristallspäne ebenso wie verrückt schnarrende Töne eines frühen, ganz vergessenen Synthesizers. Es folgt Arnold Schönbergs etwas früheres 1. Streichquartett von 1904/5, das mit »d-Moll« glatterdings noch eine Tonart hatte. Wenn ein gebildeter Großvater zuvor in der Pause seinem von Haydn nicht so begeisterten Enkelteenager dessen f-Moll-Quartett mit der abgelutschten Kamelle vom »Gespräch vier intelligenter Personen« schmackhaft zu machen versuchte, dann möchte ich Schönbergs Quartett als Tanz vier tremolierender Seelen bezeichnen. Sogar eine Art Ungarischer Tanz inmitten verklärter Nacht ertönt in diesem Seelentremolo. Und wie die zerrüttende Darbietung am Ende in die Gefilde einer entrückenden Heiterkeit führt, ist auch nach 120 Jahren noch zum Atemschnalzen.


Am folgenden Abend, wieder im Boulezsaal, ist es die Erhebung des Unfertigen zum Programm, was den Funken schlägt. Diese Unfertigkeit kann tragisch biographischer Art sein, wie im Falle der übel ausgebremsten Komponistin Rebecca Clarke (1886-1979). Mit deren Morpheus eröffnen Nils Mönkemeyer und William Youn ihr Konzert: ein Stück von 1918, zehn Jahre vor Clarkes weitgehendem Verstummen, zudem aus jenen Jahren nach 1900, als die Bratsche plötzlich zum Virtuos(inn)en-Instrument explodierte. Sucht die Bratsche hingegen in den Weiten des 18. und 19. Jahrhundert nach Repertoire, kann sie sich etwa Mozarts Violinsonate G-Dur KV 379 vornehmen: Da erwecken dann die Farben von Mönkemeyers Viola, die bis zur Gamben-Noblesse gehen, den beseligenden Eindruck, man höre abwechselnd mehrere verschiedene Instrumente. Oder die Bratsche adoptiert Franz Schuberts a-Moll-Sonate D821, die mit dem putzigen »Arpeggione« 1824 für ein Instrument komponiert wurde, das noch kürzer lebte als der arme Schubert.

Die thematisch konziseste Chose des Abends aber ist die Verbindung mehrerer Mozart-Fragmente durch Zwischenmomente der 1963 geborenen Isabel Mundry. Das ist keine museale Abfolge, sondern eine organisch komponierte Collage, die die Fragmente atmen lässt. Der »unfertige« Mozart wird Teil eines Musikflusses, der zeitlos um uns zu sein scheint. Da reicht von Mundry/Youns Seite manchmal bereits das kräftige Antreten des Pedals, das den ganzen Flügel in Schwingung versetzt.

Wenn zudem noch Schuberts Sonatensatz fis-Moll D571 von 1817 erklingt, den William Youn vervollständigt hat, ist wieder mal des Staunens kein Ende über den unermesslichen, berührenden Reichtum von Schuberts Schaffen in diesem absurd und empörend kurzen Leben. 


Transparenzhinweis: Albrecht Selge wird in Kürze selbst mit Nils Mönkemeyer und William Youn auf der Bühne des Bonner Beethovenhauses stehen, um in einem Konzert mit Lesung seinen neuen Roman Silence vorzustellen.

… lebt in Berlin, liebt Musik, schreibt Romane: u.a. ›Beethovn‹ (2020). Zuletzt erschien ›Silence‹. ✉️ KonzertgaengerBerlin@gmail.com

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