Ein Interview wird oft dann am interessantesten, wenn die Befragten ins Plaudern kommen. »Sorry, die Antwort eben war ein bisschen wischiwaschi«, reflektiert Ticciati selbst im Gespräch. Nachdem der Tenor David Butt Philip kürzlich in einem Interview mit der Times jungen britischen Sänger:innen geraten hatte, ins Ausland zu gehen, um ihre Karriere nach dem Brexit weiter voranzutreiben, hatte ich ihn gefragt, ob das auch für junge britische Dirigent:innen gelte. Ticciati hatte zunächst geantwortet, dass frühere Karrierewege noch immer gelten würden. »Der Grund, warum meine Antwort etwas vage war, ist die Tatsache, dass ich als junger Dirigent sehr viel Glück hatte.«
Ticciati wählte bei seiner Ausbildung zum Dirigenten einen durchaus traditionellen, wenn auch eher informellen Weg: sich einen Mentoren zu suchen (in seinem Fall waren es Simon Rattle und Colin Davis, die er als Geiger des National Youth Orchestra of Great Britain kennenlernte) und einfach sehen, was passiert. Ticciatis Arbeitsmoral brachte ihn bis zum Chefdirigentenposten beim Deutschen Symphonie-Orchester Berlin (DSO) und in Glyndebourne. Dabei kann seine Arbeitswut durchaus auch in Überarbeitung umschlagen. 2016 setzte ihn ein Bandscheibenvorfall monatelang außer Gefecht und bedrohte seine Zukunft als Dirigent.
Die vier Konzerte des »Music and Healing« Festivals des DSO sind jedoch mehr als die Auseinandersetzung mit persönlichen Erlebnissen. An zwei Wochenenden im März nähert es sich seinem Motto aus ganz verschiedenen Blickwinkeln – in Themenkonzerten oder Gesprächsformaten mit Musikpsycholog:innen wie dem Lübecker Professor für Musizierendengesundheit Daniel S. Scholz – und einem breiten Repertoire, von Jonathan Harveys …towards a Pure Land über Birtwistles Panic, den dritten Akt von Tristan und Isolde, Sacre du printemps und Scriabins Le Poème de l’Extase, allesamt unter dem Dirigat Ticciatis. Ich erreiche ihn ein paar Tage vor Festivalbeginn per Telefon zuhause in Sussex, England.
VAN: Wie kam es zu dieser Idee einer über mehrere Konzerte gestreckten ›Healing Session‹?
Robin Ticciati: Eigentlich ist es gar keine Healing Session. Diese vier Konzerte und Talks sollen eher mehr Bewusstsein, Awareness schaffen. Die ursprüngliche Idee entstand teilweise aus einem unbedachten Wortgebrauch heraus. Es gibt einen wunderbaren Dramaturgen, der für das Deutsche Symphonie-Orchester arbeitet, Moritz Brüggemeier. Bei Konzerten meinte ich oft: ›Musik! Sie hat so eine heilende Kraft, oder?‹ Und dann habe ich eines Tages gesagt: ›Gosh Moritz, was meine ich denn damit? Ich weiß, was ich fühle, aber was meine ich eigentlich?‹ Ich dachte: Wäre es nicht wunderbar, ein Forum zu haben mit Talks und bestimmten Werken, und Menschen zusammenzubringen, um über die Wirkung von Musik auf die Gesundheit von Körper und Seele zu sprechen? Daher kam die Idee: aus diesem Gefühl, dass ich das zu romantisch sehe und dass wir uns dem widmen sollten, mit Hilfe von Leuten, die da Bescheid wissen.
Ich habe mich gefragt, ob für Sie auch persönliche Erfahrungen mit Musik und Heilung hinter diesem Festival stehen?
Nicht bewusst. Aber es gibt da etwas, an das ich mich gut erinnere, aus der Zeit meiner Rücken-OP. Da war dieses Gefühl: ›Ah, ich werde nie wieder dirigieren können.‹ Das raubt einem alle Kraft, man kann an gar nichts anderes mehr denken.
Ich war da noch nicht mal im Krankenhaus, sondern lag ausgestreckt auf dem Hotelfußboden, hörte den zweiten Satz eines Mozart-Violinkonzerts, und mir rollten die Tränen übers Gesicht. Das war einer dieser Momente, in dem sich die Beziehung zwischen der Musik und der Art, wie dein Körper und dein Geist funktionieren, zeigt, und auch, wie wir mit ihr Sachen durchstehen. Jedem Stück dieses Festivals ist ein Aspekt der Heilung immanent: sei es der Schmerz davor oder die Verwandlung danach.
Es gibt ja fast so eine Art Subgenre der klassischen Musik ›for healing and relaxation‹. Wie finden Sie das, wenn klassische Musik so instrumentalisiert wird? Was ich an Ihrem Programm wirklich interessant finde, ist, dass es diese Ideen aufgreift, ohne das Publikum zu sehr zu leiten. Birtwistle ist nicht gerade ein typischer Yoga-Soundtrack.
Ich habe an sich nichts dagegen, wenn jemand eine Playlist macht mit klassischer Musik zum Entspannen oder Meditieren. Ich denke, problematisch wird es, wenn Leute denken, das sei das Einzige, was klassische Musik kann. So nach dem Motto: ›Ah! Mach doch mal Mozart an oder was Barockes, bei dem wir abschalten können.‹ Ein Beruhigungsmittel. Eigentlich ist klassische Musik genau das Gegenteil von Abschalten. Genau wie die Idee der Heilung. Diese Welt ist eine aktive. Die Welt der Achtsamkeit ist eine, mit der man sich auseinandersetzen muss, und nicht etwas, über das man ›hinwegschweben‹ sollte.
Das führt uns zu der Hitze und der dionysischen Kraft von [Harrison Birtwistles] Panic und in gewisser Weise auch zu den rohen Emotionen des Sacre. Das Mädchen wird geopfert, um den Frühling versöhnlich zu stimmen; auch das ist ein Akt der Heilung in einem mythischen Sinne. Ich habe auch versucht, Kontraste zu schaffen; bei diesem Festival geht es nicht darum, dass Menschen kommen, sich hinsetzen, einschlafen, aufwachen und sich besser fühlen. Das Festival ist nicht zum Heilen da. Das Festival soll den Dialog fördern. Tuwinischer Kehlkopfgesang, eine Bach-Kantate, Dowland … Alle Stücke spielen miteinander.
Wie sieht Heilung bei Ihnen aus? Für mich wirken Sie wie jemand, der eher durch’s Machen heilt als durch’s Ausruhen.
Ich muss mich sehr viel ausruhen. Da kommt mir eine schöne Sache in den Sinn, die von meinem Bruder [der Geiger Hugo Ticciati, der beim Festival Pärt und Vasks spielt] kommt, der einfach sagt: ›nach und nach‹, er macht es einfach nach und nach. Und das kann ganz ganz unterschiedlich aussehen.
Wenn Sie heute zurückblicken: Denken Sie, dass Sie in der Vergangenheit den Fehler gemacht haben, zu viel zu arbeiten?
Auf jeden Fall, und ich lerne ständig dazu. Es ist wunderbar, wirklich bewusster zu leben. Diese Idee der Awareness ist auch der Grund, warum wir überhaupt ins Konzert gehen: die Fähigkeit, nicht mehr aufs Telefon oder einen Bildschirm zu schauen, sondern wirklich im gegenwärtigen Moment zu sein und nicht nach vorne zu blicken oder sich über sich selbst oder die eigenen Erfahrungen aus der Vergangenheit den Kopf zu zerbrechen. Und ich denke, eine sehr interessante Sache, die man den Leuten bewusst machen sollte, ist: der Konzertsaal als Kathedrale.
Man hat das Gefühl, dass Oper in Großbritannien gerade nicht den besten Stand hat. Wie ist es, mit Glyndebourne ein großes Opernfestival zu leiten, wenn die Tradition der ›Grand Opera‹ eher ein wenig bedroht scheint?
Ich glaube, das Schöne ist, dass Glyndebourne sich nie als Ort der ›Grand Opera‹ verstanden hat. Es ist vielmehr stolz auf die Integrität eines Werkes, die Art und Weise, wie Künstler:innen mit einem Werk umgehen, mit der Probenzeit und der Frage, welche Art von Regisseur:in, welche Art von Sänger:in man einlädt. Die Planung mit [dem künstlerischen Leiter] Stephen Langridge fühlt sich im Moment darum mehr wie eine große Chance an und nicht wie eine bedrohte Kunstform.
Natürlich trifft der Sparzwang alle. Aber in künstlerischer Hinsicht steht die Frage im Raum: Okay, wie geht es jetzt weiter? Was wollen wir den Menschen geben? Wie können wir sie herausfordern? Wie schaffen wir es, dass sie sich gut fühlen? Das Unglaubliche an diesem Gebäude und diesem Raum, den Gus und die Familie Christie schaffen, ist, wie beharrlich und entschlossen man da die Absicht verfolgt, Kunst zu den Menschen zu bringen, auf wunderbare Weise.
Die Glyndebourne-Tour zum Beispiel fiel ja den Kürzungen zum Opfer – die Logistik ist also schon betroffen, unabhängig davon, was künstlerisch passiert, oder?
Man muss nicht in Großbritannien leben, um zu erkennen, wie kurzsichtig, blind das ist, wie man dort mit der Kultur umgeht und ihr keine faire Chance gibt.
Aber Glyndebourne versucht immer, das Beste aus der Situation zu machen und jetzt zu sagen: ›Ok, wir können nicht auf Tournee gehen, das ist finanziell nicht möglich. Wie können wir also die Talente, die bei der Tour sichtbar wurden, am Leben erhalten, wie können wir sie fördern? [Im Herbst präsentiert Glyndebourne aufstrebende Künstler:innen aus Initiativen wie der Glyndebourne Youth Opera, dem Jerwood Young Artist Program und der Glyndebourne Academy.]
Bei ›Music and Healing‹ dirigieren Sie den dritten Akt des Tristan, den Sacre, Scriabin und Bergs Violinkonzert … Ich dachte erst, dabei geht es um vier Nächte direkt hintereinander, aber das Festival erstreckt sich über zwei Wochenenden. Hätten Sie das in einem früheren Leben alles in einem Rutsch probiert?
Nein, nicht mal mein früheres Ich. Selbst für mein heutiges Ich ist das ein großes Unterfangen, aber auch eine gute Art. Das Wunderbare am DSO ist, dass Teil ihrer DNA diese Wildheit ist, die sie, wenn sie eine Herausforderung sehen, sagen lässt: ›Ja, ja, bitte.‹ Und das ist ein Charakterzug, der typisch ist für Berlin. Es ist immer das Außergewöhnliche, das die Menschen begeistert; es ist immer die große Herausforderung, die unüberwindbar scheint. Künstlerische Integrität geht mit künstlerischer Offenheit einher. Das ist Berlin und das ist das DSO.
Sie haben sich eine Karriere mit ganz unterschiedlichem Repertoire aufgebaut. Gibt es eine bestimmte Richtung, die Sie in den nächsten Jahren besonders gerne einschlagen wollen?
Nachdem ich vor zwei Jahren den Tristan dirigiert habe, mit dem Parsifal 2025 vor Augen und nach all der Zeit, die ich mit deutschen Sinfonieorchestern und ihrem Klang verbracht habe, weiß ich, dass ich mich Wagners Opern in den nächsten Jahren ausführlich widmen werde.
Das ist die eine Richtung. Eine andere ist der Stil von Weber, Brahms, frühes 19. Jahrhundert … Dieses ganze Feld mit dem Chamber Orchestra of Europe. Mit Mark Simpson spreche ich außerdem über wundervolle Kompositionsaufträge, über die Suche nach zeitgenössischen Komponist:innen, die mich wirklich begeistern und für die ich dann auch, so denke ich jedenfalls, ein Publikum begeistern kann. Die Liste ist noch lange nicht zuende. Ich bin ziemlich neugierig.
Es ist immer noch viel von allem. Aber mit besonderer Sorgfalt: mit Achtsamkeit, Zeit, guter Vorbereitung und guter Zusammenarbeit. ¶
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