Als Pekka Kuusisto sich für das Interview in den Videocall einwählt, bin ich überrascht, wie ähnlich wir uns sehen: zwei Brillen, viel zu kurzes dunkelblondes Haar und zwei nicht ganz unähnliche Pullover – meiner ein dunkelgrüner Fleece, den ich mir von meinem Vater geliehen habe, seiner ein flaschengrüner Strickpullover, den seine Schwiegermutter während des Lockdowns für ihn gemacht hat. Kuusisto lacht viel, aber immer wieder schimmern auch dunklere Töne durch. Er hat helle Augen und einen Mund, dessen Winkel nach unten zeigen.

Hinter dem regelmäßigen Lachen steckt eine Menge Ärger. Der Geiger und Dirigent ist gerade auf dem Weg nach Norwegen zu einem Konzert mit dem  Norwegian Chamber Orchestra und der samischen Sängerin Katarina Barruk. »Es ist ein bisschen aktueller geworden, als wir eigentlich wollten«, sagt er. Das Committee on the Elimination of Racial Discrimination der Vereinten Nationen verurteilte die finnische Regierung schon vor den jüngsten Wahlen für ihre Behandlung der Sámi. Jetzt, nachdem die Mitte-Links-Premierministerin Sanna Marin abgewählt wurde und das Land weiter nach rechts rückt, sind die ohnehin schon geringen Aussichten der Sámi auf Besserung laut Kuusisto noch trüber geworden. In den ersten Minuten unseres Gesprächs streift er eine Reihe politischer Themen: die Sámi, Greenpeace, Just Stop Oil, seine Enttäuschung darüber, dass es kein finnisches Pendant zur britischen Gruppe Led By Donkeys gibt. Er hat eindeutig viel auf dem Herzen.


VAN: Du scheinst etwas an der Welt zu verzweifeln …

Pekka Kuusisto: Das kann man mir ja auch schwer verübeln [lacht]. Nein, eigentlich ist es cool, in der heutigen Zeit zu leben, wenn man gerne den Sinn von allem Möglichen hinterfragt. Wir hatten einen etwas düsteren Start, aber es ist nicht alles schlecht. Das ist mir immer noch viel lieber als 2020.


Im November kündigte Kuusisto über die sozialen Medien an, dass er sich für den Rest des Jahres 2022 krank melden wolle. Dabei verwies er auf einige extrem schwierige Jahre, angefangen bei einer besonderen Durststrecke während der Pandemie bis zum Verlust seines älteren Bruders Jaakko und, wenig später, seiner Mutter im Jahr 2022. Beim heutigen Anruf trägt er denselben grünen Pullover wie bei seinem Facebook-Post.


Wann wurde dir klar, dass du wegen deiner Krankheit besser eine Auszeit nimmst?

Eigentlich genau in dem Moment, als ich es gemacht habe. Ich war ziemlich müde, ich hatte gerade ein persönlich schwieriges Jahr hinter mir, und als die Saison im Herbst wieder losging, konnte ich nicht richtig schlafen; etwa anderthalb oder zwei Monate lang nur sehr sporadisch.

Dann kam ein sehr lästiges (wenn auch zum Glück nicht chronisches) körperliches Symptom dazu, das oft mit Müdigkeit und Stress einhergeht. Und das hinderte mich daran, Geige zu spielen, denn es waren auch Nervenschmerzen im Spiel. Dann nimmt man zwei oder drei Wochen lang Medikamente und hofft, dass es weggeht, und das tat es auch. Aber es gab diese Phase, in der ich einige Konzerte mit dem Chamber Orchestra in Norwegen gespielt habe und Unmengen Ibuprofen nehmen musste und da dachte ich: Das funktioniert so nicht.

Ich war wirklich überrascht, wie gut die zwei Monate mir getan haben. Und tatsächlich bin ich in Helsinki einmal eingesprungen: Den Philharmonikern fehlte ein Dirigent, und ich bin hingegangen und habe eine Probe geleitet, und das fühlte sich wirklich gut an. Mir wurde klar, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Einen Monat später bin ich wieder an die Arbeit und startete direkt in den wohl verrücktesten Monat meines ganzen bisherigen Berufslebens, und ich fühlte mich danach immer noch fantastisch. Es war also gut, es war hauptsächlich nur… emotionaler Ballast, der ein bisschen Zeit brauchte, um verarbeitet zu werden.

Womit hast du dir die Zeit vertrieben, als du nicht gearbeitet hast? 

Ich glaube, ich war ziemlich viel draußen, was gar nicht so leicht ist im November in Finnland. Ich habe einfach versucht zu leben – mehr Rhythmus oder Verhaltensmuster zu finden, zur richtigen Zeit schlafen zu gehen, zur richtigen Zeit aufzustehen, und zwischendurch die richtigen Sachen zu machen.


Es ist nicht das erste Mal, dass Kuusisto sich eine Auszeit nimmt. Vor 12 Jahren, als er das abenteuerlustige finnische Sommerfestival Meidän Festivaali leitete, spitzte sich die Lage derart zu, dass er kaum mehr als ein paar Tage im Voraus planen konnte. Als im Herbst die Saisoneröffnung anstand, meldete er sich für vier Monate krank.


Würdest du das auch anderen empfehlen?

Zuallererst würde ich empfehlen, es gar nicht so weit kommen zu lassen. Aber ich hatte nicht diese Art von Burnout, bei der man gar nicht aus dem Bett kommt. Ich war die ganze Zeit in gewisser Weise aktiv als Mensch, ich konnte nur nicht … Ich war nicht in meiner besten Verfassung, was die Arbeit angeht. 

Aber es ist kompliziert. Ich glaube nicht, dass es für jüngere Kolleginnen und Kollegen einfacher wird, weil einem viel stärker bewusst ist, was andere Leute für coole Sachen machen, als es das in meiner Jugend der Fall war. Der spannende Teil des Berufs ist über die sozialen Medien viel präsenter als zu meiner Jugendzeit.

Es ist heute wahrscheinlich schwieriger als früher, sich nicht zu übernehmen. Als freier Musiker – als Solist, als Dirigent oder als was auch immer – gibt es sehr wenig Leitlinien, auf die man zurückgreifen kann. Es gibt kein ›allgemeingültiges‹ angemessenes Arbeitspensum. Es ist alles ein bisschen wie im Wilden Westen. 

Man muss es einfach machen und gucken was passiert, und auch mal über die Strenge schlagen … 

Es ist super schwierig, einen Schritt zurückzutreten, sodass man wirklich merkt, wie unwichtig man eigentlich ist. Ein befreundeter Doktor hier in Finnland sagt immer, Schauspieler:innen und Musiker:innen sind die letzten, die sich krankschreiben lassen, weil wir annehmen, dass es ohne uns nicht geht: ein Jesus-Komplex.

Als ich 2011 alles abgesagt habe, dachte ich, dass jetzt alle total wütend auf mich sind. Also dass alle, denen ich abgesagt habe, mich jetzt zutiefst hassen und mir per Post Pakete voll Pferdescheiße schicken. Ich hatte da schon mehr als 10 Jahre lang ein Festival geleitet, ich wusste, dass ich nie wütend auf jemanden wäre, wenn die oder der aus gesundheitlichen Gründen oder wegen Erschöpfung absagt, sondern die Person unterstützen würde, weil sie auf sich selbst aufpasst. Aber als ich das dann selbst gemacht habe, hatte ich das Gefühl: Oh Gott, alle werden mich hassen.

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Auf Facebook haben dir die Leute aber eindeutig Respekt gezollt für diesen Schritt. 

Ich vermute, dass es zum Teil damit zusammenhängt, dass viele, mit denen ich über Social Media in Kontakt stehe, wussten, dass der Großteil meiner Erschöpfung auf Ereignisse in meinem Privatleben zurückzuführen war, nämlich den Tod meines Bruders und meiner Mutter Anfang des Jahres. Man müsste aber auch schon ein ziemlich gefühlskalter Mensch sein, um jemanden nicht zu unterstützen, der eine Zeit lang nicht arbeitet, um sich von sowas zu erholen. 

Was für Menschen waren deine Mutter und dein Bruder?

Also von meinem Bruder gibt es einiges an Musik und Auftritten online [lacht], die sagen ziemlich viel über ihn aus. 

Meine Mutter war wie das Hirn der Familie, die Struktur, die alles zusammenhielt, vor allem, als mein Bruder und ich jünger waren. Und natürlich kümmerte sie sich um den Geigenunterricht und dass wir üben, in den ersten 10, 11 Jahren oder so.

Es ist sehr seltsam, und es wird wahrscheinlich nie aufhören… seltsam zu sein. Aber… ja. Ich kann dir nicht wirklich sagen, was für Menschen sie waren… Sie sind meine Familie.

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Wie war es dann, wieder zu arbeiten?

Großartig. Ich habe mich gefühlt wie ein menschlicher Flipper, vieles ist während der Pandemie fünf Mal hin und her geworfen worden und dann endlich richtig gelandet. Was das Geigerische anging, habe ich mich sehr gut gefühlt. Und ich habe auch beim Dirigieren einiges rausgefunden, was ich … rausfinden musste.  

Was zum Beispiel?

Hauptsächlich Physisches. Ich habe lange so dagestanden [macht eine Geste, als ob er eine Geige hält] und ich habe so lange Orchester von der Geige aus dirigiert, dass es ein kleines Abenteuer war, herauszufinden, wie ich die Musik auf die gleiche Weise führen kann, wenn ich selbst keine Geräusche mache.

Diese Verbindung zwischen dir und dem Ensemble ist sehr interessant, im Gegensatz zum Dirigieren mit Instrument in der Hand. Dabei muss immer alles unmittelbar sein, sonst spielt man am Ende vor allen anderen. Beim Dirigieren ist die Situation natürlich sehr viel flexibler. Es war interessant, das herauszufinden und zu nutzen, ohne irgendwas im Weg zu stehen. Niemand will einen Dirigenten, der einem Sachen erzählt, die man schon weiß. Dafür hat man Consultants [lacht].

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Weil du eben vom Flipper sprachst – fliegst du eigentlich viel?

Ich wünschte, Fliegen wäre so unglaublich teuer und unbequem, dass wir gar nicht erst in Versuchung kämen, ins Flugzeug zu steigen. Ich weiß auch nicht, was wir da machen sollen. Weißt du, dass Greenpeace einen Preis für das ›Greenwashing of the Year‹ vergibt? Ich glaube, Finnair wird ihn bekommen, denn man zahlt jetzt mit jedem Flugticket grünen Treibstoff im Wert von etwa 20 Cent. Ganze 20 Cent [lacht]. Und dann heißt es: Ja, wir fliegen nachhaltig.

Wie du weißt ist Finnland ein kleines Land, und mit meiner Ausbildung und meinem Beruf ist es sehr schwierig, Möglichkeiten zu finden, künstlerisch befriedigende Arbeit zu leisten oder überhaupt genug zu arbeiten, ohne unseren jüngeren Kolleginnen und Kollegen, die noch nicht so viel Erfahrung haben, alle Möglichkeiten zu nehmen.

Es ist eine verrückte Sache, weil meine ganze Ausbildung und meine ganze Erziehung auf der Idee basieren, um den Planeten zu jetten, um Konzerte zu spielen, und es ist einfach so … meine Generation wird bald aussterben. Ich habe keine Lösung dafür, und ich glaube nicht, dass ich die Kraft habe, das aufzugeben, ohne das Gefühl zu haben, aufzugeben.

Ich habe vor ein paar Jahren einen interessanten Film gesehen … Es ist ein Dokumentarfilm über einen Schweden namens Harry Schein [ein jüdischer Flüchtling aus Österreich, der mit den Kindertransporten das Land verließ, später das schwedische Filminstitut gründete und Filme von Ingmar Bergman finanzierte – Anm. d. Red.]. Er war ein brillanter Typ, aber er hat etwas sehr Dummes gemacht und ist darum rausgeflogen. Und den Rest seines Lebens hat er dann damit verbracht, sich selbst wieder aufzubauen, weil sein Beruf einen so großen Teil von dem ausgemacht hat, wer er war, wie er sich selbst gesehen hat. Wenn das dann wegfällt … das ist beängstigend. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich von einem Boot springen oder in einer Anstalt oder zumindest dauerhaft betrunken enden würde, wenn ich mit dem, was ich tue, ganz aufhören würde.

Es gibt dieses interessante Paradox, dass Skandinavier:innen als besonders glücklich gelten und gleichzeitig gibt es am anderen Ende des Spektrums …

… hohe Selbstmordraten.

Ja.

Massiver Kaffeekonsum [lacht].

Was ist dein Ziel jetzt bei deiner Rückkehr ins Arbeitsleben? Eine Art von Zufriedenheit?

Ich glaube, auf lange Sicht ist mein Ziel, den Workload zu verringern, ohne den Lebensstandard zu senken. Ich weiß, dass das irgendwie furchtbar klingt, aber ich glaube, das ist mein Bauchgefühl. Wenn ich älter werde, hoffe ich, dass ich mit weniger zufrieden sein werde. Aber wenn ich mir so anschaue, wie mein Beruf in der Vergangenheit ausgeübt wurde, bin ich mir nicht ganz sicher, ob das klappt.


Kuusisto hat eine Menge Eisen im Feuer. Er hat angefangen, Soundtracks für Film und Fernsehen zu schreiben (»die meiste Zeit hat man da künstlerisch Herzschmerzen, aber ich glaube, wenn es funktioniert, dann ist es fantastisch«) und hat in seinem Haus spezielle Räume eingerichtet, um remote Aufnahmen machen zu können. Im Herbst wird er Erster Gastdirigent des Helsinki Philharmonic und tritt damit eine Stelle an, die perfekt zu ihm zu passen scheint: »Eine herausfordernde und künstlerisch befriedigende Arbeit, für die ich nirgendwo hinfliegen muss.«


Die Versuchung ist manchmal groß, einfach alles hinzuschmeißen und abzuhauen, oder? 

Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich aus dem Gleichgewicht geraten würde, wenn ich das machen würde. Es gab eine Zeit, da habe ich auf einer Geige gespielt [eine Stradivari], die so gut war, dass ich schon fast daran gedacht habe, mit ihr abzuhauen, einfach wie Gollum auf den Felsen, aber in eine Hütte mit einer Geige. [Kuusisto macht eine My Precious-Geste. Er wirkt darin sehr geübt.]

Ich habe einen Freund, der an einer Studie zu Pilzen teilnimmt. In Oxford, da erforschen sie, inwiefern man mit Psychedelica Depressionen behandeln kann. Und das bisschen, was ich von ihm gehört und was ich dazu gelesen habe, scheint unglaublich vielversprechend zu sein. Für die Art von Problemen, bei denen man völlig auf etwas fixiert ist und dann aus irgendeinem Grund aufhören muss und das einfach nicht überleben kann, denke ich, dass das ein Ausweg sein könnte. Also: Lass das Touren und nimm lieber Pilze.


Er streckt die Zunge heraus, rollt mit den Augen und macht ein Friedenszeichen, kurz darauf beendet er das Gespräch.