»Welche Demütigung wenn jemand neben mir stund und von weitem eine Flöte hörte und ich nichts hörte oder jemand den Hirten singen hörte, und ich auch nichts hörte: solche Ereignisse brachten mich nahe an Verzweiflung, es fehlte wenig, und ich endigte selbst mein Leben – nur sie die Kunst, sie hielt mich zurück.« Auf der Bühne steht ein hörgeschädigter Jugendlicher und rezitiert das Heiligenstädter Testament. Ludwig van Beethoven beschreibt darin auf eindringliche Weise das Schicksal des eigenen Hörverlusts, vor allem aber seine dadurch erlittene gesellschaftliche Isolation. Ich kann hören, dass der Sprecher trainiert hat, deutlich wichtige Worte betont und den historischen Text mit großer Ernsthaftigkeit vorträgt. Im Wechsel mit den gelesenen Zeilen zeigen weitere Schüler:innen des Bildungs- und Beratungszentrums für Hörgeschädigte Stegen (BZZ) deren Übersetzung in Gebärdensprache. Sie stehen dazu am vorderen Bühnenrand, einige mitten im Orchester. Der Inhalt des Textes wird so im wahrsten Sinne des Wortes greifbar.
Zwei Wochen zuvor probt, nach fast drei Jahren Pandemie-bedingter Verzögerung, das Bundesjugendorchester (BJO) gemeinsam mit 15 Schüler:innen des BZZ in Baden-Baden. Vom 14. bis 20. April, beginnend mit dem ersten Konzert in der Kölner Philharmonie, sind die Jugendlichen dann zusammen im Tourbus unterwegs. Von Köln geht es nach Bielefeld, Osnabrück, Berlin, Lübeck und schließlich Freiburg.

Ihr Programm mit dem Titel Zusammen(ge)hören besteht aus zwei Hälften, deren Gerüst Beethovens dritte Sinfonie »Eroica« bildet. In einer Art »modernen historischen Aufführung«, wie es Ludwig Holtmeier, Direktor der Freiburger Musikhochschule, bei seiner Ansprache vor dem Abschlusskonzert in Freiburg formuliert, erlebt das Publikum die Sinfonie nicht an einem Stück, sondern als Rahmen der zeitgenössischen Werke im Programm. Anders als in der heutigen Aufführungspraxis großer Orchester war es zur Zeit Beethovens durchaus üblich, mehrere Werke unterschiedlicher Stile miteinander zu kombinieren und zu mischen. In der ersten Hälfte »sprecht lauter, schreyt« wird der erste Satz der Sinfonie gespielt, sowie das Heiligenstädter Testament in Worten und Gebärdensprache vorgetragen. Es folgen Testament (2009) von Brett Dean und Carillon für Glockenklänge für Schlagzeuger:innen des BJO und Schüler:innen des BZZ Stegen (Bearbeitung 2023) von Bernhard Wulff, sowie der zweite Satz der Sinfonie. Die zweite Hälfte mit dem Titel »euch glücklich zu machen, seyd es« besteht aus dem dritten und vierten Satz der Eroica sowie Mark Bardens the weight of ash.
Die Stegenerinnen Noemi Gruttke und Maren Waldvogel erzählen mir, dass viele der Stegener Jugendlichen, die bei Zusammen(ge)hören mitwirken, vor allem das Fingeralphabet und einfache Grundlagen der Gebärdensprache kennen. »Bei unserer Interpretation vom Heiligenstädter Testament ist die Gebärdensprache deutlich anders als in Alltags-Gesprächen«, meint Waldvogel. »Das Testament ist ja auch in einer sehr gehobenen Sprache verfasst und die Gebärden-Performance ist dem angepasst, mit mehr Bewegung, als normal üblich wäre, und einfach einer größeren Bühnenpräsenz. Im Alltag haben wir mehr einen Smalltalk Gebärden-Gebrauch, mit dem wir uns austauschen.«
Gerade Profi-Musiker:innen räumen dem Hörsinn gerne einen übergeordneten Status gegenüber anderen Sinneswahrnehmungen ein. BJO-Dirigent Christoph Altstaedt betont jedoch, dass eigentlich jede Hörerfahrung für alle von uns immer unvollkommen ist: »Die Menschen im Publikum hören immer selektiv. Es gibt Leute, die eine musikalische Vorbildung haben, andere, die die Stücke zum ersten Mal hören, und solche, die selbst ein Instrument gespielt haben. Jeder hört selektiv durch seinen Bildungs- oder Instrumentalhintergrund, insofern erfassen wir nie das ganze Stück und auch als Profimusiker erlebt man immer wieder etwas Neues, bei jedem neuen Hören.« So will auch das aktuelle Projekt zeigen: »Es gibt nicht die Hörenden und die defizitär Hörenden, sondern es geht darum, sich bewusst zu machen, dass wir im Grunde genommen alle nur einen Bruchteil dessen hören, was erklingt.«
Im Zentrum des Abends steht eine Uraufführung, an die niemand Hörerwartungen hat. Um für das Projekt zu recherchieren, reisten Christoph Altstaedt und Komponist Mark Barden ins Cochlea-Implant Centrum in Essen. Ein Cochlea-Implantat ist ein Gerät, das Menschen mit schwerer Hörbehinderung oder Taubheit dabei helfen kann, wieder besser zu hören. Das Implantat besteht aus einem Teil, der im Kopf des Trägers implantiert wird, und einem Teil, der außerhalb des Körpers getragen wird. Es wandelt Schall in elektrische Signale um und stimuliert damit direkt den Hörnerv, um dem Träger ein Hörerlebnis zu ermöglichen. Im Implantat-Zentrum lernen Menschen, die ein Cochlea-Implantat erhalten haben, damit zu leben, zu hören und auch zu sprechen. Logopädie ist für sie essentiell. Das gilt auch für Kleinkinder, die noch im Spracherwerb sind. Durch eine Feedbackschleife wird abgeglichen, wie das Gesagte mit dem Gehörten übereinstimmt und wie Laute geformt werden können, um verstanden zu werden. Altstaedt und Barden haben bei Leuten, die Implantate tragen, erfragt, was sie gerne hören, ob sie Musik hören, in Konzerte gehen und was sie dann angenehm zu hören finden. Es stellte sich heraus, dass Jugendliche »krasse Bässe« und vor allem elektronische Musik mögen, bei der die gleichzeitig auftretenden Klänge gut unterscheidbar sind. Die Musik-Geschmäcker gingen ansonsten auseinander wie bei nicht-Hörgeschädigten Menschen auch. Eine ältere Dame, die im fortgeschrittenen Alter ein Implantat bekommen und deshalb den Vergleich zu ihrem früheren Hören hat, geht heute nicht mehr in klassische Konzerte, weil sie in ihrer Hörwahrnehmung zu viel Verlust empfindet. Das Hörerleben kommt nicht mehr an das heran, was sie gewohnt ist.Altstaedt erzählt: »Gerade diese Aussage hat uns dazu bewegt ein Stück in Auftrag zu geben, damit niemand eine Hör-Erwartung hat und sagen kann: ›Ich hab‘s früher schonmal gehört und bin enttäuscht, dass es nicht mehr so klingt wie vor 20 Jahren.‹ Sondern: Das Stück klingt für alle neu.«
In Bardens the weight of ash spielen die Jugendlichen auf pitch pipes, auf angefeuchteten Weingläsern, auf Styropor sowie Malerspachteln mit Streichbögen, und auf claves. Sie arbeiten auch mit ihrem Körper, mit Atemgeräuschen: »ch-ttt«. Altstaedt beschreibt: »Es war uns wichtig, dass die Stegener ein Instrumentarium bekommen, das neu ist, das die BJOler nicht besser könnten und welches sie schnell lernen können.«
Für Waldvogel und Gruttke ist in der Probe und im Konzert der Klang der mit Bogen gestrichenen Styropor-Blöcke ab einer gewissen Lautstärke sehr unangenehm, sie greifen dann zum Hörschutz, um sich nicht der Gefahr eines Tinnitus auszusetzen. Noemi Gruttke findet den Klang des Waldteufels besonders interessant: »Wie viele quakende Frösche.« Die Weingläser können die beiden nicht hören, während das Orchester spielt. Sie spüren dann die Vibration am Glas, aber hören nicht, dass Klang herauskommt. Gruttke erzählt mir, dass Richtungshören besonders schwierig für sie ist und sie manchmal umherschaut, um zu identifizieren, woher ein Klang gerade kommt.

Im Mittelteil von the weight of ash haben die BJOler:innen eine Lieblingsstelle. Sie nennen es den »Beethoven-Teil«. Das Licht geht an dieser Stelle vollkommen aus und acht verschiedene historische Aufnahmen von Beethovens Klaviersonate Nr. 23, Op. 57 in f-Moll, auch bekannt als Appassionata, werden übereinander gelegt. Alle diese Aufnahmen haben unterschiedliche Tonqualität und Tempi. Sie werden so übereinandergeschichtet aus Lautsprechern wiedergegeben, dass überraschend eine Art Beethoven-Wolke entsteht, deren Quelle man nicht identifizieren kann. Dazu spielen die jungen Musiker:innen im Stockdunkeln Cluster, Akkorde und Haltetöne, die aus der Sonate entnommen sind. Das Zusammenspiel funktioniert dann größtenteils über sogenannte »cues«: Schlüsselstellen im Stück, die vom Dirigenten deutlich optisch angezeigt werden und damit einen Impuls geben, der dann aufgenommen und weitergegeben werden kann. Zum Beispiel setzen die Stegener:innen mit einem vorgegebenen Rhythmus und Tempo auf einen cue von Christoph Altstaedt hin ein. Er wechselt dann aber gemeinsam mit dem BJO das Tempo, während die Stegener:innen im vorherigen Puls bleiben. Sie bilden damit eine zweite Schicht, die parallel zum Orchester läuft und müssen hochkonzentriert Triolenrhythmen und Taktwechsel zählen. Über mehrere 100 Takte geht das Licht dann langsam wieder an.
»Manchmal überlagern sich auch die Frequenzen vom Schlagzeug mit denen der Streicher, sodass es für uns und auch Christoph [Altstaedt] zum Teil schwierig war zu hören, wo der Klang gerade herkommt«, erzählt BJO-Cellist Jonathan Grossmann. »›Habt ihr schon eingesetzt?‹, war eine häufig gestellte Frage in den ersten Proben. Auch die Orientierung vom Ohr her ist ein großes Thema, denn sie setzt über große Strecken komplett aus – man verliert den Orientierungssinn. Dann herrscht totale Desorientierung, keine Ahnung, woher der Klang kommt. Wir wurden damit auch ziemlich ins kalte Wasser geworfen, das war echt nicht leicht. Das, was bei Beethoven so wichtig ist, dass man wahnsinnig gut zuhören muss, um zu hören, was in allen Stimmen gleichzeitig passiert, das ist sehr schwierig beim Barden.« Es ist eine Qualität von the weight of ash, dass die akustische Orientierung hier für alle gleichermaßen schwer zu sein scheint.
Zu Beginn des Projekts bekamen die BJOler:innen Klang-Simulationen gezeigt, von gesprochener Sprache und auch Musik von Beethoven. Die Simulationen sollten deutlich machen, wie beides für Menschen mit Hörschädigung klingen kann. Diese Hörerfahrung war zugleich erschreckend und überraschend, weil für gut Hörende nur Knacken und Kratzen auf den Aufnahmen zu hören war. Sich dieses andere Hören vorzustellen, fällt den BJOler:innen schwer, besonders weil sie sich im Alltag, sogar in der Mensa mit hoher Geräuschkulisse, immer ganz normal mit den Stegener:innen haben unterhalten können. Cellist Grossmann meint: »Ich glaube, es ist auch viel Hören lernen. Logopädie spielt da eine große Rolle – gerade nachdem sie ihre Implantate neu bekommen, müssen sie lernen, zu sprechen, weil sie sich selber zunächst nicht hören. Da steckt viel Übung drin.« Im Endeffekt, so könnte man sagen, ist die hohe Beschäftigung mit dem eigenen Hören eine ähnlich intensive Professionalisierung in diesem Bereich, wie bei den angehenden Profi-Musiker:innen des BJO. Geigerin Tabea Schwarzenberg fügt hinzu: »Über so viele Tage und Wochen, die wir zusammen auf Tour sind, ist es inzwischen gar kein Thema mehr, dass sie Hörgeräte haben. Es dreht sich gar nicht mehr wirklich darum.«
Für die Zukunft, im Hinblick auf die Teilnahme von Hörgeschädigten an kulturellen Veranstaltungen, besonders im Musikbereich wünscht sich Waldvogel eine besonders einladende Haltung in der Werbung: »Das ist wichtig, denn selbst wir, die wir auf das Projekt hier vorbereitet wurden, hatten lange Zweifel, ob das was für uns ist. Das Experimentelle beibehalten ist sehr schön, dann können alle mal was Neues ausprobieren. Es wird bestimmt nie allen gefallen, aber nur durch Ausprobieren kann man herausfinden, was einem liegt, und was vielleicht nicht so gut ist. Es macht Spaß miteinander zu musizieren und nicht nur nacheinander, das Verlassen und Hören auf die cues der anderen.«

Zum Ende der Tournee ist das Foyer der Freiburger Musikhochschule brechend voll, denn das Abschlusskonzert ist ausverkauft. Es tummeln sich viele Jugendliche und Familien, die Mitglieder des BJO, des BZZ und deren Angehörige, ein freudiges Wiedersehen nach der dreiwöchigen Tournee. Das Publikum strömt in den Saal und wegen des großen Besucher:innenandrangs beginnt das Konzert etwas verspätet.
Mit scharf artikulierten Attacken und sattem Streicherklang beginnt der erste Satz aus Beethovens Eroica. Die Begeisterung springt vor allem durch die Kommunikation, Blicke und Körperbewegungen der Spielenden untereinander auf das Publikum über. Die BJOler:innen spielen vollkommen angstbefreit und sprühen vor Energie. Für die Darbietung des Heiligenstädter Testaments kommen nun die Stegener:innen auf die Bühne. Viele Menschen um mich herum sind sichtbar gerührt. Einige jugendliche Zuhörer:innen geraten in einen Lachkrampf, vielleicht weil sich eine Spannung und Ernsthaftigkeit im Raum breit macht, die hier gerade überraschend neu ist und schwierig auszuhalten sein kann.
Direkt im Anschluss beginnt Testament von Brett Dean. Es kommt Unruhe auf im Saal, denn wer das Stück erstmalig hört, nimmt unter Umständen gar nicht wahr, dass es bereits begonnen hat. Erste diffuse Geräusche sind wahrnehmbar und so langsam verstehen die Zuhörenden, dass die Performance schon weitergeht. Es folgen Fetzen melodischer Streichersoli, Telefonklingeln. Auf einen klaren neuen cue von Altstaedt hin beginnt eine nervöse Fuge mit klaren Signalen und Pattern. Es wird zwischen Streich-Bögen mit und ohne Kolophonium gewechselt, die Streicher:innen sind in voller Aktion. Nach einem weiteren cue ist ein Thema erkennbar das zu einem Klimax der Bläser, des Schlagzeugs und der Streicher anwächst.
Im zweiten Satz der Eroica kontrastieren wunderschöne Holzbläser-Soli, besonders von der Oboe, mit dem vorher Erlebten und gehen über in einen wabernden, eindringlichen Klang, den die Stegener:innen mit Klangschalen und Gongs erzeugen und der so intensiv in der Luft des Saals hängt, dass man fast meint, ihn anfassen zu können. Nach der Pause liefert das BJO eine knackige und perfekt artikulierte Fassung des Scherzo aus Beethovens Eroica, bevor es mit vielen Geräuschklängen langsam die Spannung für the weight of ash aufbaut. Als die Beethoven-Wolke über uns schwebt, verschwimmen die räumlichen und klanglichen Dimensionen des Saals vollkommen und versinken im Blau der Dunkelheit. Ich verliere das Gefühl für Raum und Zeit, laut und leise, werde zurückgeworfen auf mein inneres Hören.
Das Licht wird schleichend wieder heller und mit ihm schwillt das gleissende, grelle Kreischen des Styropors an, bis sich, besonders die jungen Menschen im Saal , bei den immer höher werdenden Frequenzen und großer Lautstärke beginnen die Ohren zuzuhalten. Mark Bardens Stück wird von rasendem Applaus belohnt.
Als abschließend der vierte Satz der Sinfonie erklingt, höre ich sie völlig neu. Das Streichquartett wirkt glasklar nach den letzten dreißig Minuten Geräusch-intensiver Klänge. Kurz vor Schluss der Sinfonie verfallen die Streicher:innen, die den Grundpuls und schnelles tremolo spielen, in energisches headbanging. Ein euphorisches Jubilieren, mit dem ganzen Körper. ¶