Der wunderschöne Monat Mai ist zwar laut Kalender endlich da, zeigt sich aber – zumindest in Berlin – bisher nicht von seiner wonnigen Seite. Wir setzen dieser meteorologischen Mittelmäßigkeit eine ultimative Frühlings-Compilation entgegen: die besten Aufnahmen von Robert Schumanns Dichterliebe op. 48, auf Gedichte von Heinrich Heine. Ich habe zwar keine 75 Aufnahmen gehört wie Olivia Giovetti für ihre Winterreise-Playlist, aber doch genug, um unter der Dusche lautstark Ich hab’ im Traum geweinet zu trällern. (Liebe Nachbar:innen: Vielen Dank für Eure Aufmerksamkeit!)
Ein heißer französischer Anwalt und der Autor: Im wunderschönen Monat Mai (2011)
Als ich 23 Jahre alt war und noch Kompositionsstudent, lieh ich kurz vor Weihnachten die Partitur von Dichterliebe aus der Bibliothek aus, um in den Ferien etwas zum Üben zu haben. Am Pariser Flughafen Charles de Gaulle stand ein Klavier bei meinem Gate, und weil ich nichts auswendig konnte, spielte ich ein kleines Stück aus Im wunderschönen Monat Mai.
Nach ein paar Minuten kam ein sehr attraktiver, forscher Mann – Franzose im Anzug, Mitte/Ende 30 – auf mich zu: »Sie können Dichterliebe nicht ohne Gesang spielen!«
»Wollen Sie singen?«, fragte ich.
Und das machte er, wirklich wunderschön. Ich begleitete, sehr viel weniger schön (zu meiner Verteidigung: Ich musste transponieren). Wir wollten eigentlich gleich weitermachen mit Aus meinen Tränen sprießen, aber er musste leider zum Boarding, um seinen Flug nach Hongkong zu erwischen. Ich habe ihn nie wieder gesehen.
Kitsch? Absolut. Aber genau darum geht’s doch in der Dichterliebe, oder?
Honorable Mention: Peter Schreier und András Schiff: Im wunderschönen Monat Mai (2002)
Mein Gekrieche über die Tasten am Flughafen war arg langsam, aber auch viele andere Versionen von Im wunderschönen Monat Mai könnten ein etwas schnelleres Tempo vertragen – so dass es klingt wie auf dieser Aufnahme hier. Wichtig ist dann auch, das Tempo zu halten und nicht zu sehr ins schwärmerische Rubato abzudriften. Außerdem ist es einfach sexy, wie glockenhell Schreier sein Verlangen verkündet.
Josef Protschka und Helmut Deutsch: Aus meinen Tränen sprießen (1988)
Dieses Lied sollte zart sein wie ein Strauß Blumen, der zu welken beginnt, sobald man vergisst, regelmäßig das Wasser zu wechseln (ich spreche da aus Erfahrung). Die Version von Protschka und Deutsch ist so ätherisch, dass man sich fragt, ob sie überhaupt wirklich da ist.
Lotte Lehmann und Bruno Walter: Die Rose, die Lilie, die Taube, die Sonne (1941)
Lotte Lehmanns agiler Opernsopran funktioniert in der Dichterliebe überraschend gut, besonders in der hin und her springenden Reimstruktur dieses Satzes. Ihre leicht atemlose Phrasierung bringt genau die richtige Hysterie in Heines Text. Alles außer der Kleinen, Feinen, Reinen, Einen ist jetzt wirklich absolut egal.
Ian Bostridge und Julius Drake: Wenn ich in deine Augen seh (1997)
Wie Bostridge und Drake die Worte »Ich liebe dich« in kaum hörbarer Lautstärke intonieren, ist genial – die Crux der ganzen Geschichte kommt als Understatement daher, was dem arg romantischen Text guttut. Und so ist auch sofort klar, dass hier nicht alle Herzen heil bleiben.
Christoph Prégardien und Michael Gees: Ich will meine Seele tauchen (2019)
Die seidig glitzernden Farben, die Prégardien und Gees hier heraufbeschwören, passen perfekt zu den eindringlichen Bildern dieses Liedes. Für 56 glückselige Sekunden voll prickelnder Erotik scheint die Zeit stillzustehen. Danach wieder in der harten Realität zu landen, wird nicht leicht.
Charles Panzera und Alfred Cortot: Im Rhein, im heiligen Strome (1962)
Viele Sängerinnen und Sänger drehen in der ersten Strophe von Im Rhein, im heiligen Strome voll auf. Dabei laufen sie Gefahr, zu aufgeblasen zu klingen. Charles Panzera findet, begleitet von Alfred Cortot, eine breite Palette unterschiedlichster Timbres, die in der Lage wären, einen Raum wie den Kölner Dom zu füllen, und gleichzeitig überraschend intim bleiben.
Nina Dorliak und Sviatoslav Richter: Ich grolle nicht (1956)
Ich grolle nicht wird oft einfach so runtergespielt. Dann klingt leider schlicht bockig, was einen in seiner Grausamkeit eigentlich schaudern lassen sollte. Nina Dorliak und ihr Mann machen’s ganz anders: Sie singt auf Russisch und in absolut eisigem Tempo. Die Wut über die verschmähte Liebe lodert nicht mehr, sondern glimmt. Die Flamme ist klein, aber die Glut ist heißer denn je.
Christoph Prégardien und Andreas Staier: Und wüßten’s die Blumen, die kleinen (1994)
Prégardien und Staier verkörpern die romantische Melancholie und Wehmut dieses Liedes, voller Nachtigallen, Blumen und Sehnsucht. Bis sie zum Wort zerrissen kommen. Dann bricht der Bann, und die Stimmung kippt vom Genießerischen ins Rachsüchtige. Die archetypische Reise des romantischen Helden, auf so wenig Raum.
Fritz Wunderlich und Hubert Giesen: Das ist ein Flöten und Geigen (1965)
Wunderlich gibt in dieser Live-Aufnahme, die viel spannender ist als seine Einspielung mit Giesen bei der Deutschen Grammophon, einen attraktiven, aber viel zu betrunkenen Hochzeitsgast. Wunderlichs Stimme ist schön, aber in den sich wiederholenden Zeilen übersteigt seine Lautstärke die des Klaviers deutlich: Er ist wie einer, dessen Meinung man über mehrere Tische hinweg vernehmen kann, obwohl sie eigentlich niemand hören will. Wunderlich beklagt sich über den Lärm, aber er ist auch der Lärm, der nicht still sein kann, ob all der unerwiderten Liebe.
Christian Gerhaher und Gerold Huber: Hör’ ich das Liedchen klingen (2004)
Gerhahers Intonation ist sauberer als jedes Tafelsilber. Sein Vibrato ist natürlich und so unaufdringlich, dass es kaum auffällt. In Hör‘ ich das Liedchen klingen fügt er dieser strengen Präzision die runde, dunkle Farbe einer gedämpften Bratsche hinzu. Wenn Gerhaher das kleine Motiv, aus dem die Zeile »Löst sich auf in Tränen« besteht, hinaufklettert, wage ich zu bezweifeln, dass irgendein Auge trocken bleibt.
Dietrich Fischer-Dieskau and Jörg Demus: Ein Jüngling liebt ein Mädchen (1957)
Den Schwenk in Richtung Volkslied machen hier eigentlich alle. Aber niemand geht dabei so weit wie Fischer-Dieskau in dieser Version mit Jörg Demus. Fischer-Dieskaus Näseln geht zu Beginn fast in Richtung Helge Schneider, seine Artikulation lässt an Operette denken und Demus stapft dazu staksig über die Tasten.
Mark Padmore und Kristian Bezuidenhout: Am leuchtenden Sommermorgen (2010)
Die Durchsichtigkeit von Padmores Tenor und Bezuidenhouts Fortepiano passt besonders gut zu dem »blassen Mann«, der hier erzählt. Diese Interpretation zeigt, wie zerbrechlich der Erzähler ist, selbst im Vergleich zu den Blumen, die ihn bemitleiden.
Gerhaher und Huber: Ich hab’ im Traum geweinet
Gerhahers und Hubers Einspielung ist die einzige, die in dieser Compilation zweimal auftaucht. Die beiden Künstler dehnen in diesem Lied jede Stille bis an ihre Grenzen aus. Huber spielt die einfachen Kadenzen mit einem Webernesken Pointillismus. Sie scheinen genau das zu sagen, was Joseph Conrad in Herz der Finsternis schreibt: »Wir leben, wie wir träumen – allein…«
Julian Prégardien und Eric Le Sage: Allnächtlich im Traume (2019)
Julian Prégardien, der Sohn des bereits erwähnten Christoph Prégardien, hat in diesem Lied eine bemerkenswerte Artikulation. Jedes Wort ist klar, und fühlt sich doch wie ein Gespräch an – so intim, wie es nur in den Träumen des Erzählers möglich ist. Prégardiens unprätentiöse Phrasierung lässt uns mit der herzzerreißenden Banalität des Verlustes zurück. Das ist viel effektiver als die meisten anderen, vor Pathos triefenden Interpretationen.
Aksel Schiøtz und Gerald Moore: Aus alten Märchen winkt es (1945–1946)
Wenn man ihn heute hört, klingt Schiøtz’ warmer Tenor wie ein Relikt aus einer früheren, goldenen Zeit – aus dem »Zauberland«, von dem der Text spricht. Seine Interpretation von Aus alten Märchen winkt es ist eine, in die man sich einmummeln und aus der man nie wieder hervorkommen möchte.
Matthias Goerne und Daniil Trifonov: Die alten, bösen Lieder (2022)
Nur wenige Darbietungen von Die alten, bösen Lieder sind auf so unheilvolle Weise majestätisch wie die von Goerne und Trifonov – genau richtig für die Beschwörung dunkler Wälder und seltsamer Rituale. Das Duo erkennt, dass dieses vierminütige Stück eigentlich aus zwei Sätzen besteht. Schumann komponiert das Ende des Leidens seines Erzählers in das träumerische Nachspiel der Dichterliebe. Mit Trifonovs gewohnt kristallinem Spiel wird diese Musik zu mehr als einem Ausklang – sie ist eine echte Erlösung. ¶