Als am letzten Freitag zur Eröffnung der Olympischen Winterspiele die Sportler:innen im Pekinger Olympiastadion einliefen, tönte aus den Lautsprechern ein Potpourri von neunzehn Klassikhits: das »Trinklied« aus Verdis La Traviata, der Frühlingsstimmen-Walzer von Johann Strauss (Sohn), Brahms’ Ungarische Tänze, Beethovens Fünfte… Dieser Soundtrack war nicht der kleinste musikalische Nenner einer globalen Moderne oder Zeichen einer feindlichen kulturellen Übernahme. Westliche klassische Musik hat in China einen langen Marsch hinter sich, seit sie von Jesuiten im 17. Jahrhundert erstmals am Kaiserhof eingeführt wurde. Der Vorgänger des Shanghai Symphony Orchestra gründete sich bereits 1879 und ist damit das älteste Orchester Asiens (und älter als die Berliner Philharmoniker). Schon im späten 19. Jahrhundert findet die Aneignung und Integration europäischer Instrumente, Melodien und musikalischer Stilmittel nicht nur in den Handelshäfen, sondern auch in der Breite statt, erklärt die Heidelberger Sinologin Barbara Mittler. Zunächst über Kirchenmusik und Militärkapellen, später auch im Schulfach Musik. »›Klassische Musik‹ gehört heute zum kulturellen Gedächtnis Chinas und ist genauso ›chinesisch‹ wie die ›Peking Oper‹.«

Mit der Ping-Pong-Diplomatie, der wirtschaftlichen Neuorientierung, der Ein-Kind-Politik und dem »Kulturfieber« wird westliche klassische Musik ab den späten 1970er Jahren außerdem zu einem festen Bestandteil der chinesischen Fortschritts- und Modernisierungserzählung. »In einem Land, in dem Bildung eine wahnsinnig wichtige Rolle spielt, gibt es nun eine Konzentration auf die absolute Bildung dieses einen Kindes«, so Mittler. Dabei gewann die erst seit den 1950er Jahren so genannte ›westliche klassische Musik‹ einen hohen Stellenwert. »Es ist prestigiöser, wenn das Kind Geige lernt als die Erhu. Lang Langs Vater, der selbst ein Erhu-Spieler ist, kauft seinem Sohn natürlich ein Klavier, weil es als höherwertig angesehen wird, obwohl er es sich eigentlich gar nicht leisten kann.« 

Xu Zhen (*1977) In Just a Blink of an Eye (2005) • Foto joey zanotti (CC BY 2.0)

Aus Sicht der aufstrebenden Mittelschichten in China sei westliche klassische Musik heute ein Distinktionsmerkmal, meint der Würzburger Sinologe Björn Alpermann. »Es ist total en vogue, Kinder in den entsprechenden Instrumenten ausbilden zu lassen. Da ist schon so eine Welle durch China gegangen.« Im kompetitiven chinesischen Bildungs- und Prüfungssystem kann die Beherrschung eines klassisches Instruments laut Mittler außerdem den Zugang zu Top-Highschools erleichtern. »Schüler können schlechte Noten zum Beispiel in Mathe ausgleichen, wenn sie einen Musikwettbewerb gewonnen haben. Deswegen nehmen viele Familien heute große Opfer auf sich, damit die Kinder hervorragenden Instrumentalunterricht bekommen.«

Architektonische Zeugen des Klassik-Booms in China sind die oft spektakulären Konzertsäle, die in den Megastädten aus dem Boden sprießen. Mussten die Berliner Philharmoniker und Herbert von Karajan bei ihrer ersten China-Reise 1979 mangels einer Konzerthalle noch in einem Pekinger Sportstadion spielen, gibt es heute im ganzen Land über 200 Konzertsäle. Weitere sind in Planung. Es gibt Klassikfestivals wie das Bejing Music Festival, zu dem alljährlich der internationale Klassik-Jet-Set einfliegt. Chinesische Klavierstars wie Lang Lang und Yuja Wang spielen auf internationalen Konzertbühnen und sind zu nationalen Rollenmodellen geworden, denen Millionen von Klavierschüler:innen nacheifern. Chinesische Talente stehen regelmäßig in den Finalrunden der großen Musikwettbewerbe, immer mehr finden Jobs in internationalen Orchestern und Ensembles. 

All dies hatte wohl Simon Rattle im Blick, als er 2005 im Rahmen einer Ostasien-Tournee der Berliner Philharmoniker prophezeite, die Zukunft der klassischen Musik liege in China. Angesichts einbrechender Absatzmärkte und der chronifizierten Angst vor dem eigenen Aussterben mutierte der Boom in China zum Hoffnungsschimmer für eine gesamte Branche. Heute reisen auch kleinere europäische Orchester wie das Göttinger Symphonie Orchester, die Nürnberger Symphoniker oder das Berner Symphonieorchester nach China. Gastspiele westlicher Klangkörper und Künstler:innen sind nicht zuletzt auch gute Sponsoring-Anlässe für westliche Unternehmen, die in China aktiv sind. Und auch wenn Corona dem Tourneezirkus vorübergehend ein Ende bereitet hat, deutet nichts daraufhin, dass das Land seinen Reiz als Gastspielort verlieren wird. Die Berliner Philharmoniker wollen diesen Sommer ein mehrjähriges Residenzprojekt in Shanghai starten, ähnliche Partnerschaften gibt es bereits zwischen chinesischen Kulturinstitutionen und dem New York Philharmonic, dem Orchestre Philharmonique de Radio France oder dem Philadelphia Orchestra. Die New Yorker Juilliard School betreibt in Tianjin einen Übersee-Campus, die englische Yehudi Menuhin School will in Qingdao nachziehen. Die Deutsche Grammophon feierte 2018 ihren 120. Geburtstag mit einem Galakonzert vor dem Kaiserlichen Ahnentempel in Peking, wenige hundert Meter entfernt vom Tian’anmen Platz, der 1989 zum Symbol für die gewaltsame Niederschlagung der studentischen Protestbewegung wurde. 

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Dass klassische Musik sich mit der Inszenierung von Macht und repräsentativer Fassade gut verträgt, wurde auch von der chinesischen Staatsführung verstanden. Sie steht für Disziplin, Leistungsbereitschaft und technische Perfektion, ohne sich dabei »in innere Angelegenheiten« einzumischen. Das hat sie mit dem Spitzensport gemein. Bei Gastspielen westlicher Theatergruppen in China müssen die Stücktexte vorher übersetzt und vorgelegt werden. (Die Inszenierung kollidiert dann unter Umständen trotzdem mit der chinesischen Zensur, wie 2018 beim abgebrochenen Gastspiel der Berliner Schaubühne.) In einer Beethoven-Sinfonie ist hingegen für alle und vieles Platz. Auftrittsgenehmigungen für klassische Musik seien kein Problem, erzählt der chinesische Konzertveranstalter Jiatong Wu. 

Gleichzeitig signalisieren internationale Orchestergastspiele den aufstrebenden Mittelschichten, dass es in China an nichts mangelt, weder am technischen noch am kulturellen Highend-Produkt. Und sie lassen sich gut verkaufen als Beleg dafür, dass China nicht nur Kulturmacht ist, sondern im globalen System-Wettstreit womöglich die Nase vorn hat. So sieht ein Kommentator der Staatszeitung China Daily in der kommenden Residenz der Berliner Philharmoniker einen Beweis »für das große Vertrauen, dass die Live-Show-Branche auf der ganzen Welt in Chinas Erfolge bei der Pandemiebekämpfung hat«. Das passt gut in die Staatsdoktrin von der Überlegenheit des chinesischen No-Covid-Sonderwegs.

Westliche Orchester framen Gastspiele in China meist als Kulturaustausch. Allerdings muss man gar nicht allzu genau hinschauen um festzustellen, dass es sich dabei eher um eine legitimatorische Floskel handelt. Es sei wichtig, nicht-politische Kanäle des Austausches offenzuhalten, um China in seiner Vielschichtigkeit und Multidimensionalität weiter kennenzulernen und nicht immer nur das gleiche Chinabild hierhin zurück zu transportieren, meint Sinologe Alpermann. Den Gefallen tun ihm die meisten deutschsprachigen Orchester nicht. Was man in den gleichförmigen Tourneeblogs und Videotagebüchern zu sehen bekommt, erinnert eher an den Ferienkatalog von Schauinsland Reisen. (Einige ausgewählte Beispiel hier, hier, hier und hier. Die Reihe ließe sich beliebig erweitern.) Das Chinabild changiert dabei oft zwischen Ethnozentrismus und Exotismus. Entweder wird das China des unbegrenzten Wachstums gespiegelt, das auch chinesische Staatsmedien gerne verbreiten: begeisterte, jugendliche Fans, futuristische Konzertbauten, staunende Musiker:innen vor Wolkenkratzern, exotische Kulinarik, ein Land der Superlative. Oder man bemüht ewig gestrige Stereotype vom rohen, unkultivierten China, dessen Zuhörer während des Konzerts laut sind und auf Handys schauen. Auch wenn klassische Musik in China schon lange nicht mehr nur ›das Andere‹ ist, das man sich aneignen möchte, werden die Gastspiele als Aufbauhilfe für ein musikalisches Entwicklungsland verstanden. (Bei allem Gerede über den Klassik-Boom in China und dessen Chancen, wird der sich hartnäckig haltende anti-asiatische Rassismus in der Klassikbranche oft unter den Teppich gekehrt.)

Xu Zhen (*1977) Play (2013) • Foto See-ming Lee (CC BY-NC 2.0)

»Kanäle des Austauschs« sind da meist Einbahnstraßen: Autogrammstunden, Preisverleihungen, Pressekonferenzen. Oder Treffen mit den Parteikadern. Statt vor Ort mit der (zeitgenössischen) Musikszene Kontakt zu suchen, besteht die einzige musikalische Begegnung meist darin, ein lokales Solist:innen-Zugpferd auf Tour mitzunehmen, das dann Tchaikovsky oder Beethoven spielen darf. Man verbarrikadiert sich hinter den sinfonischen Schlachtrössern des 19. Jahrhunderts, chinesische Musik findet wenn überhaupt meist als folkloristische Zugabe statt. So kann man aus sicherer Entfernung Bestätigung in den eigenen Klischees finden. Dieses Arrangement garantiert für beide Seiten den ökonomischen und politischen Nutzen, den man sich wünscht, nur dazwischen wird nichts in Kontakt gebracht. So erklärt sich auch, warum klassische Musik wahrscheinlich die letzte (Kultur-)Branche ist, in der »Austausch« mit China stattfindet, ohne dass es jemals geknallt hätte. Kritik an der Menschenrechts- oder Umweltschutzsituation, wie sie einige Sportler:innen vor oder während der Olympischen Spiele geäußert haben, sind von klassischen Musiker:innen nicht bekannt. Einen Zwischenfall wie bei der isländischen Sängerin Björk, die 2008 bei einem Konzert in Shanghai als Zugabe ›Free Tibet‹ gesungen hat, habe er bei klassischen Musiker:innen Gottseidank noch nie erlebt, so Konzertveranstalter Wu. Nach Auskunft einiger Quellen verpflichten sich einige Orchester vertraglich, sich bei Gastspielen in China nicht oder nur neutral zu politischen und religiösen Fragen zu äußern. 

Nun führt ein Haudrauf-Aktivismus wie im Falle Björks oft eher zu einer Verhärtung – und in China selbst womöglich zu einer Verhaftung. Die Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, hat ihren eigenen Athlet:innen gerade dazu geraten, während der Olympischen Spiele die eigene Meinung besser für sich zu behalten, weil man sich sonst möglicherweise nach chinesischen Gesetzen strafbar mache. »Während ich mich in China aufhalte, gibt es bestimmte Tabuthemen, die ich nicht oder nur in bestimmter Weise ansprechen kann«, so Sinologe Alpermann. »Es gibt keine Narrenfreiheit sich alles zu erlauben, wenn man als Ausländer:in nach China fährt.«

Den Kontakt einzustellen ist aber auch keine Lösung, vor allem nicht angesichts der wachsenden kulturellen und politischen Eiszeit zwischen China und dem Westen. »Abbrechen ist so doof wie verbieten. Sehr weit weg von Aufklärung«, schrieb der Schriftsteller und Sinologe Tilman Spengler, dem selbst 2011 kurz vor der Eröffnung der Ausstellung zur Kunst der Aufklärung in Peking die Einreise verweigert worden war. Aber der Wunsch, Differenzen um jeden Preis zu vermeiden oder mit dekorativer Freundschaftsrhetorik zuzukleistern, steht Austausch eher im Wege, als dass er ihn fördert. 

Xu Zhen (*1977) The Sausage Voice (2015) • Foto Universalmuseum Joanneum (CC BY-NC 2.0)

Von einem öffentlich finanzierten Orchester, das nach China fährt, sollte man mehr erwarten können als selbstreferentielles Marketing und die Reise ins bekannte Klischee. Umso mehr, wenn man an die Klimabilanz denkt. Dazu gehört, dass man sich schon im Vorfeld mit Chancen und Risiken von Kulturaustausch auseinandersetzt. Wie funktioniert der in einem Land, in dem sich die Zensur gerade wieder verschärft, das in Tibet und Xinjiang kulturellen Genozid begeht, in dem Künstlerinnen und Künstler die »Liebe zur Partei« verordnet wird, und jene moralisch diskreditiert werden, die der Parteilinie nicht folgen? Wie kann man dies nicht verdrängen, ohne in moralische Überlegenheitsgesten zu verfallen? Aber auch: Wie geht Kulturaustausch, wenn man versucht, die eigenen Scheuklappen über Bord zu werfen und vor Ort zum Beispiel Kontakt mit einer Kunstszene sucht, die sperriger und widerständiger ist, als manch einer glauben mag? 

Allerdings müsste man dann auch jenseits der eigenen mumifizierten Konzertprogramme etwas Lebendigeres über »Kultur« zu sagen haben. Von welcher ist da überhaupt die Rede? Es müssten im durchgetakteten Tourneeplan Dialog- und Kontakträume für einen »Ortswechsel des Denkens« gefunden werden, in denen man sich François Julliens Denkfigur öffnet, dass jede Kultur für die anderen eine Ressource für weitere Möglichkeiten darstellt, statt in Unterschieden zu denken, die vermeintliche Identitäten fixieren. Der Austausch müsste auf Langfristigkeit und Reziprozität ausgelegt sein und auch die Möglichkeit des Scheiterns enthalten. Statt ›embedded journalists‹, die gefällige Geschichten für die Lieben daheim erzählen, sollte im Flugzeug besser ein Platz für Sinolog:innen oder Anthropol:innogen freigehalten werden, die vor Ort kulturelle Übersetzungsarbeit leisten.

Vielleicht bemisst sich der Wert einer Reise an der Anzahl guter Geschichten, die man danach erzählen kann. Orchestermusiker:innen plaudern nach Tourneen oft aus dem Nähkästchen: Wer mit wem unter der Decke war, wer wieder über den Durst getrunken hat. Das ist gut und wichtig für das Betriebsklima, aber dafür könnte man auch ins Sauerland fahren oder an die Ostsee. Als Bilanz einer China-Reise ist das etwas dürftig. Und eine vertane Chance. ¶

... ist Herausgeber von VAN. Er studierte Development Studies, Ethnologie und Asienwissenschaften in Berlin, Seoul, Edinburgh und an der London School of Economics und arbeitete im Anschluss zehn Jahre als Berater in Projekten der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. 2014 gründete er mit Ingmar Bornholz den VAN Verlag, wo er auch als Geschäftsführer fungiert. hartmut@van-verlag.com

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