Seine liebste Beschäftigung: dem Hören und Sehen, dem Denken und Fühlen Flügel verleihen. Die gewaltigen Räume der inneren Bilder vermessen. Das, was wir Realität nennen, in assoziativen Text-, Bild- und Klang-Collagen beschreiben. Verborgene Verwandtschaften und Vernetzung aufspüren. Die Fülle des Möglichen sondieren. Als Schriftsteller (Lebensläufe) und Filmemacher (Abschied von gestern) wird Alexander Kluge in den 1960er-Jahren bekannt. Schon damals prägt eine unorthodoxe, um die Spuren des Subjektiven in der Geschichte kreisende Haltung die unvergleichlich vielstimmige Produktivität dieses uomo universale. Sein kontinuierlich erweitertes Projekt einer «Chronik der Gefühle» beruht auf der durch genaue Beobachtung, enzyklopädische Bildung und gelebte Erfahrung gespeisten Überzeugung, dass Sinn stiftende Erkenntnis nicht allein vom Verstand, sondern maßgeblich von den Sinnen gesteuert wird. In den imaginativen Dokumentationen, die er für seine 1987 initiierte Produktionsfirma dctp herstellt, hat das Musikalische, zumal die Oper als »Kraftwerk der Gefühle«, leitmotivisches Gewicht. Am 14. Februar feiert Alexander Kluge seinen 90. Geburtstag. Eine Hommage.

VAN: Unter dem Motto ›Macht der Musik‹ haben Sie eine Ausstellung über die Relevanz der Oper konzipiert, die 2019/20 in Ulm zu sehen war. Was bedeutet die Formel für Sie?

Alexander Kluge: Ich beziehe mich beim Ausdruck ›Die Macht der Musik‹ auf eine Erzählung Heinrich von Kleists: Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik. Sie spielt zur Zeit des reformatorischen Bildersturms in den Niederlanden, also um die Mitte des 16. Jahrhunderts. Radikale Calvinisten zogen damals durch die Kirchen, um Bilder und die Musik zu vernichten. In einem Dom singen Nonnen eine Motette, die seit hunderten Jahren die Menschen friedlich hält. Ohne ihre todkranke Kantorin. Da springt die heilige Cäcilie oder ein anderes Lebewesen aus dem Jenseits ein – und dirigiert. Der Gesang ist so schön, dass die Attentäter still werden, sie können nicht mehr zerstören. Später findet die Mutter eines der Bilderstürmer die aufrührerische Rotte friedlich in einer Irrenanstalt, wo sie vergnügt und fröhlich vor sich hin summen. Die Musik hat gewirkt. Unsere Vorfahren haben einst die Höhlen bemalt, getanzt und gesungen, bevor sie eine Sprache und Grammatik ausbildeten – Prima la musica e poi le parole. Natürlich ist auch die Sprache ein Wunder, durch alle Völker und Kulturen hinweg finden wir höchst differenzierte Ausdrucksmöglichkeiten, es gibt keine primitiven Sprachen. Aber alldem liegt etwas zugrunde, was in unserem Alltag oder in der politischen Öffentlichkeit ausgeblendet bleibt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass in einer Kabinettssitzung oder der «Tagesschau» gesungen wird.

In Kirchen, Synagogen oder Moscheen hat das gesungene Wort große Bedeutung …

Man braucht dafür offenbar besondere Gebäude, besondere Anlässe …

… ein rituelles, liturgisches Ambiente?

Es geht um ein Ambiente der Ernsthaftigkeit, das muss nicht unbedingt religiös konnotiert sein. Die französischen Revolutionäre haben Notre Dame zu einem Tempel der Vernunft erklärt …

… und sich damit sehr wohl in eine spirituelle, metaphysische Sphäre begeben, die über das Begriffliche, den Logos, hinausweist.

Ernsthaftigkeit heißt: Ich setze mich bewusst dem aus, was ich fürchte und was ich liebe. Wenn ich zum Beispiel an den Tod denke, kann Musik tröstend wirken.

Besteht darin die Macht der Musik?

Musik setzt in Bewegung, versteinertes Inneres kann wieder flüssig werden. Wenn eine Mutter mit ihrem gerade geborenen Kind kommuniziert, registriert es schon feinste Unterschiede des Tons, als höre es Musik. Das Ohr nimmt 360 einzelne Nuancen pro Sekunde wahr, das Auge nur 16 Bilder, alles, was darüber liegt, wird Film. Das Ohr versteht nicht nur Musik und Sprache, sondern ist zugleich unser Gleichgewichtsorgan. Es hat keine Lider, keinen Verschluss, ist immer den Tönen, Klängen, Geräuschen ausgesetzt, die uns umgeben. Es ist ein primäres Sinnesorgan und entscheidet über Vertrauensverhältnisse, weil es Nähe, Distanz, Horizonte besser wahrnimmt als alle anderen Sinne. Ob jemand vertrauenswürdig ist, erkenne ich eher an der Stimme, am Tonfall als am Gesagten. Nicht zufällig wird zwischen richtigen und falschen Tönen unterschieden.

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Mit einem differenzierenden Hörvermögen sind nicht nur Menschen, sondern auch Tiere ausgestattet …

Selbstverständlich. Was meinen Sie, was Schlangen alles hören können! Sie ›hören‹ den Schall mit dem Unterkiefer. Bei uns Menschen sind diese Hörknochen ins Ohr gewandert. Eine Reise durch den Körper. Solche Metamorphosen und Wanderungen finde ich spannend. Und zwar vor allem dort, wo Nahtstellen sichtbar werden. In Wolfgang Rihms Musiktheater Die Eroberung von Mexico kommen in der letzten Szene die Stimmen von Montezuma und Cortez, des Besiegten und des Eroberers, noch einmal kurz zusammen – wie mehrere Jahrhunderte zuvor die Stimmen Neros und Poppeas im Finale von Monteverdis L’incoronazione di Poppea. Da stößt man auf so eine Nahtstelle: Hier berühren sich eine ganz frühe und eine zeitgenössische Oper, nicht in den Tönen, aber in ihrer strukturellen Dichte. Das gefällt mir sehr. Michael Gielen hat mal gesagt, eigentlich seien alle Partituren miteinander verwandt. Deshalb hat er in Konzerten immer wieder Werke aus verschiedenen Epochen und Genres aufeinanderprallen lassen.

Über die den musikalischen Werken oder Schulen zugrunde liegende Ästhetik wurde zum Teil heftig gestritten. Die tönende Überwältigungsstrategie Wagners etwa, zumal in ihren bis zum Ende der NS-Herrschaft national-ideologisch wuchernden Auswüchsen, schreckt bis heute viele Menschen ab. Selbst Nietzsche, der Wagner in der ›Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik‹ als Prophet einer neuen Zeit feierte, ist später in geradezu schäumendem Furor von ihm abgerückt. Wie halten Sie es mit dem ›Fall Wagner‹?

Ich mag Überwältigung nicht, weder in der Musik noch im Denken noch sonst. Man muss Wagner aufsplittern, den Blick auf die Einzelteile, die feine, präzise Struktur, die seiner Musik innewohnt, richten. Das habe ich von Luigi Nono gelernt. Er war vor Ort, als Michael Gielen mit Ruth Berghaus von 1985 bis 1987 an der Oper Frankfurt den Ring des Nibelungen herausbrachte. Ich habe die Arbeit an diesem «Ring» mit meinem Kamerateam beobachtet. Nono bekam das mit und wunderte sich, dass wir zwar die Bildeinstellungen variierten – Großaufnahme, Halbtotale, Totale usw. –, den Ton aber aus einer Einheitsperspektive aufzeichneten. Er hatte Recht. Auf das Genie des Kammermusikers Wagner stößt man erst, wenn man ihn auf das Gerüst, auf seine Grundelemente zurückführt, auf die ›Orchesterperspektiven‹, die großartigen Einzelheiten. An der Berliner Volksbühne hat mich vor Jahren eine Aufführung der Meistersinger tief beeindruckt: Die Besetzung war auf wenige Stimmen und Instrumente reduziert. Ähnlich wie in der Theaterbude Offenbachs in Paris, in der die Gewerbeaufsicht nur jeweils sechs Sänger und sieben Musiker erlaubte. In Berlin wurden alle Rollen bis auf eine von Schauspielern ›gesungen‹. Jede Note aber genau. In dieser Kargheit hatte ich dieses Stück, in dem sonst bis zu 196 Orchestermitglieder spielen, noch nie gehört. Es lohnt sich, Komponisten gegen ihre Absichten zu lesen: die Einzelheit gegen die Gewalt des Ganzen zu verteidigen. Auf Wagner gemünzt: Wenn man in seinen Opern die Besonderheiten sucht, ist er genial; wenn man seine Musik mit Pomp und großem Gefolge zelebriert, taugt sie für Reichsparteitage.

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Heißt das, Wagners Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten ist in seiner Musik angelegt? Eine seiner wichtigsten Inspirationsquellen war die Belcanto-Oper, sein Ideal ein eher schlanker Klang, straffe Tempi …

In den frühen Opern bis zum Fliegenden Holländer liegt der italienische und französische Einfluss auf der Hand. Selbst der Grand Opéra verdankt Wagner viel, ohne dass er das eingestanden hätte – die Heftigkeit seiner Ausfälle gegen Meyerbeer haben viel mit der Verdrängung dieses Einflusses zu tun. Wagners Musik hat viele Gesichter, ich würde sogar sagen, sie ist überkomplex. Man muss sich in ihn versenken als treibe man einen Schacht ins Erdreich. Ich wollte das gemeinsam mit Christoph Schlingensief tun. Wir hatten vor, den Ring in der Reihenfolge aufzuführen, in der Wagner die Handlung der vier Teile geschrieben hat, also von der Götterdämmerung mit dem Untergang Walhalls rückwärts bis zum Rheingold-Vorspiel. Wir hätten eine ›Umkehr des Zeitpfeils‹. Am Ende des Werkes stünde sein Anfang. Die Zukunft wäre offen. Besonders lieb ist mir die Szene am Anfang des Dritten Aufzugs der Götterdämmerung, in der die Rheintöchter mit Siegfried über die Rückgabe des Rings verhandeln. Hätte er generös den Ring in den Rhein geworfen, wäre Walhall nicht in Flammen aufgegangen.

Womit wir bei Loriot angekommen sind, der einmal süffisant bemerkte, dass Wagner, wären die neckischen Rheintöchter gegenüber Alberich ein bisschen offenherziger gewesen, sich drei Opern hätte sparen können.

Ich liebe Loriot, aber hier ist er leichtsinnig. So etwas würden Rheintöchter nie tun. Sich einem neureichen, überheblichen Schleimer hinzugeben, das wäre Verrat an der Natur. Die Szene mit Siegfried und den Rheintöchtern in der Götterdämmerung ist etwas anderes. Da stecken wir längst tief im Drama. In einem solchen Stadium das Drama zu sabotieren, die Kette der Verstrickungen zu brechen, heißt nach Aristoteles: die höchste Form des Tragischen erreichen. Das wäre der Fall, wenn Siegfried den Ring zurückgegeben hätte. Oder nehmen wir die Geschichte von Tristan und Isolde. Tristan kam zunächst als Aggressor, mit dem Auftrag, Irland, Isoldes Heimatland, zu unterwerfen und brachte ihren Verlobten um. Dann gerät er, verwundet, in die Hand dieser Königstochter. Sie könnte ihn vernichten. Da trifft ihr Auge auf seines, Hass schlägt in Liebe um, die Blutfehde ist angehalten. Darum geht es: die Logik der Gewalt, des Blutvergießens zu unterbrechen. Die Logik eines Tantalos, der die Götter versuchte, als er ihnen den eigenen Sohn zum Mahl servierte, und verurteilt wird, ewige Qualen zu erleiden. Die Logik eines Agamemnon, der seine Tochter Iphigenie zu opfern bereit ist, damit die Beutefahrt nach Troja gelingt, und sich so einen Fluch einhandelt, der Generationen übergreift. In Richard Strauss’ Oper Elektra wird das nächste Kapitel dieses Verhängnisses mit der fürchterlich-schönsten Musik, die ich mir vorstellen kann, erzählt: Orest, der Sohn, rächt die Ermordung des Vaters durch die Mutter und deren Geliebten, indem er Klytämnestra und Aegisth tötet. Erst Iphigenie kehrt den Zeitpfeil des Unheils um seine Achse.

Einen Komponisten wie Wagner gegen den Strich lesen, was bedeutet das konkret?

Ich suche nach verborgenen Beziehungen, die seinen verlautbarten Intentionen widersprechen. Weil die Musik klüger, vielfältiger ist als ihr Schöpfer. Denken Sie an den Liebestod in Tristan und Isolde. Es gibt mit gleichem Uraufführungsjahr einen zweiten Liebestod, den Weltabschied Sélikas in Meyerbeers L’Africaine. Acht Minuten dauert er bei Wagner, 23 Minuten bei Meyerbeer. Beide Opern wurden 1865 im Abstand von nicht einmal zwei Monaten uraufgeführt. Wagner tritt auf als Erzfeind Meyerbeers. Aber während er noch rivalisiert, kooperiert er.

Im Untertitel der zitierten Ausstellung bezeichnen Sie die Oper als ›Tempel der Ernsthaftigkeit‹. Für eine englischsprachige Publikation ist daraus ein ›Temple of the Scapegoat‹ geworden. Musiktheater – Tummelplatz für Sündenböcke?

Sind all die Soprane, die im Lauf der Operngeschichte auf der Strecke bleiben, etwa keine Sündenböcke? Eine chinesische Doktorandin hat ermittelt, dass es rund 86.000 Opern gibt, 64.000 davon enden für Soprane tödlich. Nur gut 1100 Tenöre müssen sterben, während die Bässe sich ihrer Rivalen meist gewaltsam entledigen. Ist das gerecht? Aber ernsthaft: In der Oper ist mit den Sopranen meist das Liebste – ob Mutter, Schwester, Priesterin oder Geliebte – existenziell bedroht, sozusagen rituell in die Opferrolle gedrängt. Wie Jesus, der nur tot als Heiliger verehrt werden kann. Das ist der emotionale Kern der Geschichten.

Glauben Sie mit Aristoteles, Schiller, Lessing an die aufklärerisch-kathartische Kraft des Theaters? Und wie steht es dabei um die Rolle des Komischen? Die oft totgesagte Operette erlebt derzeit eine erstaunliche Renaissance …

Solange wir spielen, töten wir nicht. Und vom Schmerz zum Spass ist es nicht weit, weder im Spiel noch im Leben. Die Mitglieder der Osttiroler Musicbanda Franui berichten, dass ihre Vorfahren im Dorf morgens eine Beerdigung und nachmittags eine Hochzeit begleitet haben; am Morgen zu Tode betrübt, am Nachmittag rauschen die Witze. Das Trauern und das Feiern, beides gehört zur menschlichen Seele. Ein Grund für das neue Interesse an der Operette ist wohl eben die Verschränkung von Komik und Tragik. Historisch ist sie mit Krisen verbunden, bei ihren besten Exemplaren bleibt einem das Lachen eigentlich im Halse stecken. Als 1855 Offenbachs «Ba-ta-clan» herauskommt, blühen überall imperiale Gelüste. Die Farce über einen französischen Hochstapler, der es in China zum Kaiser bringt und zwei Landsleute irrtümlich zum Tode verurteilt, ist auch wegen der Beziehung zu den «Hugenotten» interessant. Am Ende stimmen die Delinquenten das Luther-Lied «Ein feste Burg» an, ein Zitat aus Meyerbeers tragischer Grand Opéra. Und die Verflechtungen gehen weiter. Zehn Jahre nach der Uraufführung öffnet in Paris der Vergnügungstempel Bataclan, der 2015 zum Schauplatz eines furchtbaren Massakers wird. 

Seit jeher ist Ihre Arbeit interdisziplinär angelegt, sie schleifen mit Freude die Grenzen zwischen Literatur, Historiografie, Film, Fernsehen, digitalen Räumen. Betrachten Sie das, was Sie da in Jahrzehnten geschaffen haben, als eine Art ›Gesamtkunstwerk‹?

Nein. Ich liebe das Besondere, das Einzelne, das Detail. Ich bin ein Sammler, der bewahrt. Der Irrtümer genauso achtet wie Wahrheiten. Meine Methode ist das Fragmentieren. Ein Ton bedeutet mir mehr als die Totalität der Töne, zumal bei Wagner. Pierre Boulez würde mir da zustimmen.

Aber gerade Boulez war Konstrukteur komplizierter Klang-Architekturen …

… aber auch ein großer De-Konstrukteur. Als Künstler sollte man eine gewisse Passivität, die Haltung eines Sammlers haben, seine Ich-Schranke senken. Mein Vorbild ist nicht der verschlingende Löwe, die Wappentiere der Aufklärung sind für mich die echolotende Fledermaus und der grabende Maulwurf, der unterirdische Verbindungen schafft. Die Fledermaus sendet ein Signal und lernt aus dem, was zurückkommt. Dieses Verfahren setzt voraus, dass man grundsätzlich von Einzelheiten ausgeht. Wenn Kunstwerke in den Details stimmen, sind sie auch im Ganzen stimmig.

Verstehen Sie Film als eine musikalische Kunst?

Natürlich gibt es eine Musikalität der Bilder. Viele Filme bezeugen das. Hans Richters Studie Rhythmus 21 ist das Werk eines visuellen Komponisten…

… der sich wie ein Musiker am Metrum des Herzschlags orientiert?

 Im Film gibt die Trägheit des Auges den Takt vor. Bei 24 Frames pro Sekunde gehen die Einzelbilder in einem fließenden Strom auf. Aber, und jetzt wird es spannend: Dazwischen, während der Transportphase, geht die Projektor-Lampe für eine achtundvierzigstel Sekunde aus, da ist es im Kino dunkel. Unser Auge und Bewusstsein merkt das nicht. Aber unser Hirn registriert dieses Dunkel sehr wohl. Die Synapsen finden nichts schöner als Dunkelheit, da können sie treiben, was sie wollen. Da ist eine ikonoklastische Energie in uns, wir fangen an zu träumen. Stellen Sie sich vor, es laufen 90 Millionen Einzelbilder; da können sie in 45 Millionen Dunkelphasen spinnen. Ohne dass man es merkt, ist man im Kino hochaktiv. Diese achtundvierzigstel Sekunde Dunkelheit prägt den Rhythmus ebenso wie das ›bewegte Bild‹. Mit beidem, dem Nicht-Bild und dem Bild, mit starken und schwachen Bildern ›musiziert‹ der Film.

Ich habe Ihre Filme immer auch als Versuche verstanden, die Mechanismen der Wahrnehmung zum Thema zu machen – die Art und Weise, wie wir fokussieren, ausblenden usw. Ihre Methode war über viele Jahre hinweg die Montagetechnik. Schon vor der Jahrtausendwende haben Sie diese Technik aufgegeben, unter dem Eindruck, dass sie nicht mehr funktioniere. Seitdem arbeiten Sie mit Split-Screen- Formaten. Jeder kommerzielle TV-Anbieter tut das heute, ist diese Ästhetik nicht längst stumpf?

Diese Sender montieren Bilder mit Infobändern, die keine Beziehung zueinander haben. Mit einer ästhetischen Gestaltung hat das nichts zu tun. Ich arbeite mit Triptychen, also dreistimmigen Formen. Ich hebe immer eine Bild-Stimme heraus, die anderen bilden eine Art Kontrapunkt; das können Motive sein, der Rhythmus oder anderes. Wenn ich zum Beispiel eine bestimmte historische Szene wie die Belagerung von Mainz durch preußische und österreichische Truppen während der Befreiungskriege – Goethe hat sie beschrieben, Thomas Mann wollte daraus eine Novelle machen – beleuchte, muss ich die Polyphonie der Ereignisse deutlich machen: Die französischen Soldaten ziehen aus der Stadt und spielen dabei die Marseillaise, aber als Trauermarsch, zwölfmal langsamer als üblich.

Sind es vor allem musikalische Parameter und Kategorien – Polyphonie, Kontrapunkt, Spiegel, Krebs und so weiter –, die das formale Profil Ihrer Filmarbeit leiten, ungeachtet der Themen?

Streng genommen, gibt es bei mir gar keine Themen. Es geht eher um die Echos von Themen. Wenn Sie die einsame Figur in Caspar David Friedrichs Gemälde ›Der Chasseur im Walde‹ aus dem Jahr 1814 betrachten, liegt die Vermutung nahe, dass der sich fürchtet. Was mich nun interessiert, ist die Obertonreihe, die das Bild mitführt. Und die liegt in der Zeit. Mir fällt dazu das Jahr 1941 ein, der Russlandfeldzug der Wehrmacht, Panzermajor Fred Meier, im Zivilberuf Lehrer, fürchtet sich vor der grenzenlosen Weite der Steppenlandschaft. Ein anderer dieser Obertöne ist der Flughafen Kabul im Sommer 2021, die Panik vor dem Start der letzten Flugzeuge aus der Stadt. Situationen, die nichts zu verbinden scheint und die doch verknüpft sind. Diese Assoziationen beherrsche ich so wenig wie das Raunen des deutschen Waldes. Aber ich gehe mit ihnen um, wie ein Komponist, der die Tonalität erweitert. Ich setze den hochmütigen Tonfall eines Donald Trump in Beziehung zur Kakophonie des Sturms auf das Kapitol am 6. Januar 2021 und dem Ton der Strafverfolger, suche weiter und finde heraus, dass es 1954 schon einmal zu einem Angriff auf das Kapitol gekommen ist, ausgeführt von vier aus Puerto Rico stammenden Rebellen, die im Repräsentantenhaus fünf Abgeordnete durch Schüsse verletzten; Kopf der Unabhängigkeit fordernden Rebellengruppe war eine Frau: Lolita Lébron. Der gemeinsame Nenner dieser verschiedenen Töne ist das Kapitol, ihre Differenz mein Arbeitsmittel. Ich könnte weitere Töne assoziieren, etwa die auf römische Bauformen zurückgehende Architektur des Kapitols usw. Aber ich muss darauf achten, dass es stimmig bleibt, nicht beliebig wird. Ich habe immer zu viel Material, mehr als für ein großes Orchester …

… das ist ja immer so bei Ihnen …

Das kann ich nicht ändern. Es liegt an den Verhältnissen, die sind schon ziemlich alt. Wenn ich 40.000 Jahre zurückginge, könnte ich vereinfachen.

Der Horizont der Gegenstände, mit denen Sie sich beschäftigen, kennt keine Grenzen. Gleichwohl präferieren Sie nicht epische, sondern kurze Formen. Welche Hoffnung verbinden Sie mit dem Erzählen?

Letztlich sind meine Arbeiten nicht kurz. Sie bestehen aus Fragmenten, die sich zu größeren Einheiten fügen. Wenn ich mich verständlich machen möchte, muss ich Rücksicht nehmen auf diejenigen, denen ich etwas mitteile. Deshalb muss ich mich kurz, knapp, konzise halten, fragmentieren. Sie können mir fünf Zeilen aus einem Text von Friederike Mayröcker oder Benjamin Lerner oder James Joyce geben – und ich schreibe Ihnen eine Geschichte dazu. Meine grundlegende Methode ist, die Dinge fortzuschreiben, in einen Dialog zu treten. Von Robert Musil zum Beispiel gibt es einen Band, der nicht ausgeführte Skizzen und Entwürfe enthält. Da hole ich mir eine Zeile und spinne sie weiter. Im Grunde arbeite ich immer kooperativ, mit Lebenden und mit Toten. Es ist doch wunderbar, was da entstehen kann! Nehmen Sie den berühmten Satz ›Three quarks for Muster Mark!‹ aus Joyces Finnegans Wake. Ein Physiker, der nach subatomaren Elementarteilchen fahndet, Murray Gell-Mann, nennt seine Entdeckung scherzhaft ›Quarks‹; dann werden sechs Varianten nach so genannten «flavours» unterschieden und ihnen bestimmte «Farbladungen» und Anti-Farben zugeschrieben, die kein menschliches Auge je gesehen hat. Die Künstlerin Katharina Grosse wiederum erforscht die Nahtstellen von einander ausschließenden Farben. Da gibt es direkte Beziehungen zwischen Joyce, der Quantenphysik und einer zeitgenössischen Künstlerin. Das ist eine faszinierende Polyphonie. Ich erzähle davon, und weil ich das mit Einbildungskraft tue, bin ich mehr als ein Protokollant. Sinnlichkeit ist der eine Stamm der Erkenntnis, der sortierende Verstand der andere, die Imagination bringt beides zusammen.

Im öffentlichen Bewusstsein und in der institutionellen Praxis agieren Künste und Wissenschaften getrennt. Obwohl in beiden Sphären die Intuition, die plötzliche, unkalkulierbare Eingebung eine entscheidende Triebkraft ist …

Kant nennt diese Triebkraft den zärtlichen Keim der Vernunft. Es ist eine leise Kraft, die meist übersehen oder überhört wird. Walter Benjamin hat von einer messianischen Kraft gesprochen, die in der Geschichte wirke und mit Logik nicht zu fassen ist. Niemand ist allein schlau genug, weder die Wissenschaften noch die Künste. Die Zwischenräume, Berührungspunkte, Verbindungen sind interessant. Um sie zu entdecken, muss man Zufälle zulassen, die Freiheit einüben, das Ich zurückzunehmen und es aus sich sprechen lassen.

Einer der wenigen nachhaltig wirkenden Dialoge zwischen einem Musiker und einem Naturwissenschaftler ist im Jahr 2000 am Berliner Wissenschaftskolleg zustande gekommen: Der Komponist György Ligeti und der Zoologe Gerhard Neuweiler erkundeten gemeinsam das Thema ›motorische Intelligenz‹.

In dieser Begegnung zeigt sich, wie produktiv das Arbeiten an Nahtstellen sein kann. Ein mit komplexen Rhythmen experimentierender Komponist und ein Experte für die komplexe Kommunikation von Fledermäusen stellen eine große Schnittmenge zwischen ihren Fachgebieten fest und machen ein Buch daraus. Solche versteckten Beziehungen gibt es häufiger als wir glauben. Mir fällt da das historische Beispiel Rudolf II. ein, des einzigen Intellektuellen auf dem Thron des römisch-deutschen Kaiserreichs. Er war ein großer Förderer der Künste und der Wissenschaften. Er unterhielt eine Art geistige Wunderkammer, zu der unter anderen die Astronomen Tycho Brahe und Johannes Kepler gehörten. Kepler konnte unter dem Schutz Rudolfs trotz der Kampagnen des katholischen Klerus gegen das neue heliozentrische Planetenmodell in Ruhe seine Studien zur Bewegung der Himmelskörper betreiben. Was sich da am Himmel abspielte, war für ihn ›Sphärenmusik‹.

Wenn Sie Kepler mit Komponisten verkuppeln könnten, wen würden Sie zum Rendezvous bitten?

Heinrich  Schütz und Jacopo Peri, außerdem John Cage. Ich habe Kepler einen kleinen Film gewidmet, Uranus, in dem es um den Klang der Planeten geht. Was Kepler von Plato abgeleitet und vermutet hat, kann heute gemessen und hörbar gemacht werden – die Schwingungen der Planeten. Auch hier finden sich wieder die spannendsten Beziehungen: Über einen der lautesten Kontrahenten Keplers, den englischen Philosophen Robert Fludd, hat Anselm Kiefer eine Serie von Ölgemälden gemacht. Von Paul Hindemith gibt es eine Kepler-Oper: Die Harmonie der Welt.

Viele Filmemacher – etwa Werner Herzog, Michael Haneke, Werner Schroeter, jüngst Sofia Coppola – haben Oper auf der Bühne inszeniert. Schroeter drehte sogar Opernfilme beziehungsweise Filmopern. War das für Sie nie verlockend?

Nein. Das ist nicht mein Handwerk. Ich begleite das Musiktheater mit der Kamera. Mit Werner Schroeter habe ich oft zusammengearbeitet. Aber wir gehen von entgegengesetzten Prämissen aus. Schroeter liebt das Pathos. Als er 2003 in Düsseldorf Bellinis Norma inszenierte, habe ich mit seiner Hilfe während der  Proben einen Film gemacht. John Fiore, der Dirigent, als Spross italienischer Einwanderer in Seattle aufgewachsen, war mein Verbündeter. Er hat das Stück für mich am Klavier dekonstruiert, bis man auf das Innere der Figur stößt – eine Medea, die ihre Kinder nicht tötet. Schroeters Inszenierung ist die pathetische Version, mein Film die Eulenspiegel-Version dieser Norma. ¶

schreibt seit den frühen 1990ern über Musik und anverwandte Themen. Als Schüler schlug er sich mit Latein und Altgriechisch herum, sonntags saß er auf der Orgelbank. Seine arg limitierten Tastenkünste mutet er heute nur noch sich selber zu. Drei Jahre lebte er in den USA, zwei Jahre in England. An der Freien Universität Berlin und State University of New York at Buffalo studierte er Germanistik, Anglistik, Amerikanistik und Philosophie. Von 1993 bis 2004 war er der für Musik, Medien und Kunst...