Wer sich fürs Musikmachen interessiert, hat statistisch gesehen ein höheres genetisches Risiko für bestimmte psychische Erkrankungen wie Depression oder Angststörungen, so eine im März diesen Jahres erschienene Studie von Wissenschaftler:innen vom Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik. Die Studie legt nahe, dass genetische Varianten, die eine Veranlagung zum Musizieren vererben, und solche, die das Risiko für bestimmte psychische Erkrankung erhöhen, sich zum Teil überschneiden.

Laura Wesseldijk hat die Studie zusammen mit Yi Lu, Robert Karlsson, Fredrik Ullén und Miriam Mosing verfasst. Sie bezeichnet sich selbst als »ehemalige Musikerin«. Zehn Jahre lang nahm sie Posaunenunterricht, ein Jahr sogar als Jungstudentin. »Mit 15 Jahren war das sehr uncool, darum habe ich dann auch noch angefangen, E-Gitarre in einer Rockband zu spielen«, erzählt sie mir, als ich sie in London erreiche, wo sie aktuell remote arbeitet. Wesseldijk entschloss sich schließlich gegen ein Posaunenstudium und arbeitet heute für das Max-Planck-Institut in Verbindung mit dem Psychiatrischen Institut der Universität Amsterdam. 

Laura Wesseldijk • © privat

VAN: Erstmal denkt man ja: Musikmachen ist gut für die psychische Gesundheit. Das zeigen auch viele Studien, auf die Sie in Ihrem aktuellen Paper verweisen. Können Sie deren Ergebnisse kurz zusammenfassen?

Laura Wesseldijk: Ich bin auch Musikerin, oder ich war es mal. Heute spiele ich nur auf Hobby-Niveau Schlagzeug. Ich habe am Anfang auch angenommen: Musik ist gut für die psychische Gesundheit, weil man das als Musikerin oder Musiker eben so erlebt. Und das zeigen Studien auch: Viele legen zum Beispiel nahe, dass Musizieren gut für das Wohlbefinden ist oder für soziale Bindungen, die wiederum gut für die psychische Gesundheit sind. Und es gibt natürlich Musiktherapie … Der Grundgedanke für mich war also: Musik tut gut. Gleichzeitig gibt es schon seit Ewigkeiten viele Selbstmorde unter Musikerinnen und Musikern: Chris Cornell, mein Lieblings-Rockmusiker, Keith Flint von The Prodigy, Kurt Cobain … Aber auch in anderen Szenen außerhalb der Rockszene gibt es ziemlich hohe Selbstmordraten, außerdem vergleichsweise oft Depressionen, Angststörungen und Drogenmissbrauch.

Mich hat also interessiert, was wir sehen, wenn wir uns die Allgemeinbevölkerung angucken. Es ist ja ein großer Unterschied, ob man eine Gruppe von 30 Personen betrachtet und dann soll die Hälfte Musik machen und die andere Hälfte nicht, und dann vergleicht man die beiden – das wäre dann eine Interventionsstudie –, oder ob man sich 10.000 Personen anguckt, um zu sehen, was wir in der allgemeinen Bevölkerung beobachten können, wenn niemand zu einem bestimmten Verhalten gedrängt wird.

Wie lässt sich denn das musikalische Engagement und die psychische Verfassung der Allgemeinbevölkerung analysieren?

In unserer ersten Studie von 2019 konnten wir auf Daten von etwa 10.500 schwedischen Zwillingen zugreifen. In Schweden konnten wir die Daten der Zwillinge – Informationen darüber, wie viel Musik sie machen, mit wieviel Jahren sie angefangen haben, wie oft sie pro Woche üben, auf welchem Niveau sie spielen – mit dem nationalen Patientenregister verknüpfen, so dass wir jeweils wussten, ob mal eine Depression, Angststörung, bipolare Störung oder Schizophrenie diagnostiziert wurde … Und wir hatten noch Selbstauskünfte der Zwillinge über Depressionen, Burnout und schizotype Persönlichkeitsstörungen. Für die registrierten Diagnosen konnte ich keinen signifikanten Zusammenhang feststellen [zwischen musikalischem Engagement und psychischer Gesundheit]. Aber es gab einen Trend: Es gab mehr Angststörungen und mehr Depressionen [bei denen, die Musik machen]. Das hat mich überrascht. Und die selbst berichteten Symptome waren signifikant häufiger. Diejenigen, die Musik machten, berichteten öfter von depressiven Symptomen. In der Allgemeinbevölkerung ließ sich also ein Zusammenhang erkennen, aber nicht in die erwartete Richtung.

Hat Sie das überrascht?

Ja. Aber: Ich bin sicher, Sie wissen auch, dass Korrelation nicht gleich Kausalität ist. Es kann also viele Gründe geben, die erklären, warum wir bei den Musikerinnen und Musikern mehr depressive Symptome beobachten konnten. Es gibt unter anderem die sogenannten familiären Faktoren: die Genetik und das familiäre Umfeld. Die Gene haben einen Einfluss auf psychische Erkrankungen, aber auch das Musizieren ist teilweise genetisch vererbbar.

Ich muss aber betonen, dass die Gene mit der Umwelt interagieren. Wenn etwas genetisch vererbbar ist, heißt das nicht, dass das deterministisch ist. Die Umwelt kann dem entgegenwirken, sie kann die Veranlagung aushebeln oder durchkommen lassen.

Aber wir dachten: Es könnte auch sein, dass sich die Gene teilweise überschneiden, so dass die, die das Musizieren beeinflussen, auch psychische Probleme beeinflussen. Das Gleiche gilt für andere familiäre Faktoren. Zum Beispiel könnte das Aufwachsen in einer Familie, in der viele Instrumente zur Verfügung stehen, damit einhergehen, dass viel über psychische Probleme gesprochen wird, dass man mehr Erfahrungen damit macht … Sowas kann dann dazu führen, dass unter Musiker:innen mehr Depressionen diagnostiziert werden.

Menschliche Chromosomen

Wie haben Sie herausgefunden, dass das nicht die Erklärung für die stärkere Verbreitung psychischer Krankheiten unter Musiker:innen ist?

Das haben wir anhand der Zwillinge kontrolliert. Wir haben für gemeinsame Gene oder gemeinsame familiäre Faktoren kontrolliert und so habe ich festgestellt, dass es keinen Zusammenhang mehr gab. Es gab keinen Trend mehr zu mehr psychischen Problemen.

Was bedeutet dieses ›Kontrollieren‹?

Eineiige Zwillinge haben eine identische DNA und ein identisches familiäres Umfeld: die gleichen Eltern, sie leben im gleichen Haushalt, in der gleichen Nachbarschaft … Wenn wir also prüfen wollen, ob Musizieren Depressionen verursacht, dann betrachten wir eineiige Zwillinge, die beim Musikmachen nicht übereinstimmen: Die eine macht Musik, die andere nicht.

Wegen derselben DNA und desselben Umfeldes konnten wir durch die Betrachtung der eineiigen Zwillinge ausschließen, dass Unterschiede bei Depressionen auf das Musikmachen zurückzuführen sind: Wenn das Musikmachen das Risiko erhöhen würde, eine Depression diagnostiziert zu bekommen, müssten wir ja sehen, dass die Zwillinge, die Musik machen, statistisch gesehen ein höheres Risiko für eine Diagnose haben. 

Weil wir aber keine Unterschiede zwischen den musizierenden und den nicht musizierenden Zwillingen festgestellt haben, konnten wir daraus schließen, dass der Grund für die den Zusammenhang von Depressionen und Musikmachen, den wir in der Allgemeinbevölkerung beobachtet haben, in erster Linie in der Genetik zu suchen ist oder in familiären Umwelteinflüssen, die sowohl Depressionen als auch das Musikmachen beeinflussen.
Ein ähnliches Studiendesign wurde auch verwendet, um nachzuweisen, dass Rauchen Lungenkrebs verursacht, nur quasi andersherum. Die Tabakindustrie hat nämlich behauptet, dass Menschen mit einer genetischen Veranlagung zum Rauchen auch eine genetische Veranlagung  für Lungenkrebs hätten und dass es nicht am Rauchen läge … Aber dann zeigte sich, dass bei eineiigen Zwillingen, von denen nur eine oder einer rauchte, diejenigen, die rauchten, tatsächlich ein höheres Risiko für Lungenkrebs hatten. So konnten man das nicht mehr auf ›familiäre Faktoren‹ zurückführen.

Wir haben anhand der eineiigen, nicht übereinstimmenden Zwillinge zeigen können: Bei eineiigen Zwillingen gibt es, wenn eine oder einer Musik spielt und die oder der andere nicht, keinen Unterschied bei Depressionen. Also konnten wir schlussfolgern, dass der Zusammenhang, den wir in der gesamten Allgemeinbevölkerung ja gesehen haben, wahrscheinlich auf Gene oder familiäre Umwelteinflüsse zurückzuführen ist. 

Und das haben Sie dann in einem zweiten Paper von 2023 geprüft, richtig?

Ja. Wir können nicht ignorieren, dass es mehr psychische Probleme gibt bei Menschen, die Musikinstrumente spielen oder als Musiker:innen arbeiten. Aber liegt es daran, dass sie Musik machen, oder daran, dass sie mit einem Paket aus Veranlagungen fürs Musikmachen und einem höheren Risiko für psychische Probleme geboren wurden? Das wollten wir untersuchen.

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Wie kann man denn herausfinden, ob jemand die genetische Veranlagung zum Musikmachen oder für psychische Erkrankungen hat?

DNA enthält 4 bis 5 Millionen Einzelnukleotid-Polymorphismen (SNPs). Wir haben auf bestehende genomweite Assoziationsstudien (GWAS) zurückgegriffen. Bei einer GWAS nimmt man eine Gruppe von zum Beispiel depressiven Menschen und eine Gruppe von nicht depressiven und vergleicht all deren Einzelnukleotid-Polymorphismen und überprüft: Gibt es in der Gruppe mit Depressionen bestimmte genetische Varianten, die häufiger vorkommen als in der anderen Gruppe? Als Ergebnis kann man dann für alle Chromosomen zum Beispiel sagen: ›Auf Chromosom 18 an der und der Stelle kommt diese bestimmte genetische Variante in der Gruppe mit Depression häufiger vor und auf Chromosom 21 diese …‹ Und wir haben die Ergebnisse aus einer GWAS zu Depressionen verwendet.

Die schwedischen Zwillinge wurden genotypisiert [ihre DNA wurde analysiert], darum kann ich für jede Person berechnen, wie ihr genetisches Risiko für psychische Probleme ist. Wir haben alle ihre 4 bis 5 Millionen Einzelnukleotid-Polymorphismen geprüft und verglichen mit der GWAS. Wir verwenden also die DNA einer Person, um abzuwägen, wie viele dieser genetischen Varianten sie hat, die ein Risiko für die Entwicklung einer Depression nahelegen. Ich könnte da beispielsweise einen Wert von .80 haben, Sie einen Wert von .40 und mein Nachbar einen Wert von .20, und das würde bedeuten, dass ich von uns dreien das höchste genetische Risiko für die Entwicklung einer Depression habe. Jede:r hat also einen individuellen Wert für die genetische Veranlagung zu Depressionen.

Gibt es auch eine GWAS für Musikalität oder musikalisches Engagement?

Nein. Für eine GWAS braucht man extrem große Stichproben, Hunderttausende von Menschen, die genotypisiert werden müssen, und die wir dann auch noch zum Musikmachen befragen müssten. GWAS wurden bereits für Schizophrenie, Depressionen und bipolare Störungen durchgeführt, also für eine ganze Reihe von psychischen Krankheiten. Aber Musikalität hat da keine Priorität, weil sie nicht lebensgefährlich werden kann. Aber es wird daran gearbeitet. Es gibt eine GWAS zur Fähigkeit, im Takt zu klatschen. Die haben wir in unserer Studie verwendet: Rhythmusgefühl, die Fähigkeit zur Synchronisation auf einen Takt. Es geht dabei nicht wirklich um Musikmachen, aber die GWAS zeigt die genetischen Varianten, die damit zusammenhängen, ob man im Takt klatschen kann oder nicht. Wie Sie vielleicht erkennen, ist dies kein perfektes Maß, aber es ist das Einzige, das wir haben. Wir haben es also in unserer Studie verwendet, um zu sehen, ob Menschen, die eine genetische Veranlagung für diese Form der Musikalität haben, auch ein höheres Risiko für die Diagnose einer psychischen Erkrankung haben, und wir haben es gefunden: Ja, bei ihnen wurde häufiger eine Depression diagnostiziert.

Vor fünf Jahren wurde in einer Studie gezeigt, dass Menschen mit einem genetischen Risiko für bipolare Störungen und Schizophrenie häufiger in kreativen Berufen arbeiten, also dachte ich: Es könnte eine genetische Pleiotropie sein, also dass dieselben genetischen Varianten für Kreativität und Schizophrenie und bipolare Störungen und vielleicht auch für Musik und Depression verantwortlich sind.

Gab  es einen Unterschied zwischen Profi- und Amateurmusiker:innen?

Ich habe Profis mit Amateur:innen verglichen und mit denen, die gar nicht Musik machen. Bei Profis ist es nicht schlimmer als bei Amateur:innen. Man sieht nur einen Unterschied zwischen denen, die Musik machen, und denen, die gar keine machen. Erst dachte ich: Der Musikerberuf ist hart, es liegt an den Profis, dass wir einen Zusammenhang sehen zwischen Musikmachen und psychischen Erkrankungen. Aber bei den Amateur:innen war es das gleiche.

Kann es nicht trotzdem einfach sein, dass ich eine Depression habe und darum dazu tendiere, Musik zu machen?

Wir können das nicht mit Sicherheit ausschließen. Denn es könnte immer noch sein, dass es da einen kausalen Zusammenhang mit Umwelteinflüssen gibt oder dass wir Leute mit einbezogen haben, die eine Depression haben, die nicht erkannt wurde. Wichtig ist aber, dass es – abgesehen davon, dass Depressionen vielleicht trotzdem zum Musizieren anregen, ob das stimmt oder nicht, wage ich nicht zu sagen – genetische Varianten gibt, die sowohl Depressionen als auch das Musizieren beeinflussen.

Sie haben herausgefunden, dass der Zusammenhang zwischen dem Musikmachen und der Veranlagung zur psychischen Erkrankung besteht unabhängig davon, ob Menschen wirklich an Depressionen oder bipolaren Störungen erkranken oder ob sie nur die Veranlagung dazu haben. Ist das eine Art Beweis für Ihre Theorie?

Ja, genau. Wir haben also nachgeschaut: Wenn man die allgemeine Bevölkerung betrachtet, machen dann einfach die mit Depressionen mehr Musik? Und dann haben wir überlegt: Was ist, wenn wir die Personen ausschließen, die tatsächlich an Depressionen leiden? Machen dann immer noch die mit der Veranlagung zur Depression häufiger Musik? Und das taten sie. Das zeigt: Es liegt nicht daran, dass ich tatsächlich depressive Symptome erlebe und ich deshalb anfange, ein Instrument zu spielen. Es machen tatsächlich auch die Menschen häufiger Musik, die die genetische Veranlagung zur Depression haben, aber keine entwickeln.

Gibt es auch Kritik an Ihrer Methode?

Ein wichtiger Kritikpunkt an unserem Ansatz ist: Mit diesen polygenen Scores, die wir verwenden, können wir keine Vorhersagen für Individuen machen. Denn wir wissen heute, dass Depressionen oder die Beschäftigung mit Musik nicht von einem einzigen Gen beeinflusst werden, sondern von Tausenden von Genen, die alle nur sehr geringe Auswirkungen haben.

Um all diese genetischen Varianten zu finden, müssen wir GWASs von Millionen von Menschen durchführen. Die haben wir natürlich noch nicht, denn es lassen ja nicht alle ihr Genom entschlüsseln und machen gleichzeitig noch Angaben zum Musikmachen oder zu psychischen Erkrankungen. Jedes Jahr kommen neue GWASs mit größeren Stichproben heraus. Aber wir sind noch nicht am Ziel. Wenn ich einen polygenen Score für Sie berechne, hat er einen Vorhersagewert von fünf oder zehn Prozent, also einen sehr niedrigen.

DNA Darstellung • Foto: Andy Eick (CC BY 2.0)

Was heißt der Vorhersagewert konkret?

Das bedeutet, dass wir nur fünf bis zehn Prozent der Depressionen, die tatsächlich entstehen, über die Gene erklären können. Vielleicht habe ich ein sehr hohes genetisches Risiko für eine Depression, aber ich bin in einer für mich sehr gesunden Umgebung aufgewachsen und werde nie eine Depression entwickeln. Oder ich habe kein genetisches Risiko für Depressionen, aber ein Trauma …

Man muss sich also im Klaren sein, dass dieser Ansatz Grenzen hat. Ich kann nicht sagen, wer letztendlich Depressionen bekommt. Ich kann nur zeigen: Gene, von denen wir wissen, dass sie das Risiko für Depressionen erhöhen, sind bei Musiker:innen häufiger vorhanden. Aber wir sprechen hier von Durchschnittswerten. Es gibt so viele weitere Faktoren, dass wir vorsichtig sein müssen, um irgendwelche Schlussfolgerungen über die Auswirkungen zu ziehen.

Außerdem wird kritisiert, dass unsere Ergebnisse nicht auf individueller Ebene anwendbar sind. Solche Beobachtungen gelten nur als Durchschnittswerte für Populationen von 10.000 Menschen oder so. Man kann sie nicht auf einzelne Personen anwenden. Wenn jetzt jemand kommt und fragt: ›Oh, können Sie mich auch testen?‹ Naja, das kann man, aber es wird einem nicht viel sagen. Nur wenn wir 2.000 Menschen testen, können wir die Wahrscheinlichkeiten einschätzen.

Als Studentin habe ich es an der Musikhochschule nicht erlebt, dass mentale Gesundheit dort Thema gewesen wäre, sie wird aber in den letzten Jahren in Deutschland mehr und mehr Teil der Ausbildung von Musiker:innen. Gibt es bestimmte Formen des Umgangs mit psychischen Problemen oder sogar der Therapie, die Sie nach Ihren beiden Studien für Musiker:innen empfehlen würden?

Ich persönlich bin davon überzeugt, dass es hilft, darüber zu sprechen. Aber ich kann nichts dazu sagen, welche Therapie hilfreich wäre, denn ich bin keine Psychiaterin. Aber ich bin mir sicher, dass Bewusstsein und Offenheit hilfreicher sind, als das Problem zu ignorieren.

Zurzeit arbeiten Sie an einer Studie über Flow beim Musikmachen. Worum geht es dabei?

Dies ist eigentlich hauptsächlich das Forschungsprojekt von Miriam Mosing. Flow ist ein Zustand höchster Konzentration. Wir betrachten Flow im Allgemeinen, bei der Arbeit, bei jeder Freizeitaktivität, nicht nur beim Musizieren. Wir haben herausgefunden, dass Flow eine schützende Wirkung auf die psychische Gesundheit hat. Wir haben in der Stichprobe mit den eineiigen Zwillingen gesehen, dass derjenige, der mehr Flow erlebt, seltener Depressionen hat. Das deutet also darauf hin, dass hier nicht überlappende Gene der Grund sind, sondern dass Flow vor psychischen Problemen schützen kann. Deshalb untersuchen wir jetzt, ob das etwas ist, was man sich für eine Therapie zunutze machen könnte: Könnte es gegen depressive Symptome helfen, wenn man es schafft, häufiger einen Flow zu erleben?

Es gibt ja auch dieses Bild, dass große Kunst eine Art von Krise braucht, dass alle echten Künstler:innen ein bisschen verrückt sein oder irgendwie leiden müssen, um große Kunst schaffen zu können. Kann man die Ergebnisse Ihrer Studie auch auf diese Weise umkehren? Also dass ein höheres genetisches Risiko für psychische Probleme es wahrscheinlicher macht, dass man eine große Künstlerin wird?

Wir sehen, dass die Veranlagungen für psychische Erkrankungen häufiger dazu führen, dass Menschen Musik machen und sich anderweitig künstlerisch betätigen. Ich habe in meiner Studie ebenfalls auch andere kreative Felder untersucht: Theater, Tanz, bildende Kunst und Schreiben. Menschen, die sich damit befassen, haben ein höheres genetisches Risiko für Schizophrenie, für bipolare und auch für depressive Störungen. Für Menschen, die wissenschaftlich tätig sind, haben wir das nicht gesehen. Beim Sport war es genau andersherum. Wenn man ein Risiko für psychische Probleme hat, treibt man seltener Sport. Ich wollte diese Ergebnisse nicht zu ausführlich interpretieren, denn das stand nicht im Fokus der Studie. Ich wollte nur mit denselben Daten zeigen: Es ist nicht so, dass wir den Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen überall sehen. Wir sehen ihn beim Musikmachen, aber nicht beim Sport.

Man kann mit Sicherheit auch ohne psychische Erkrankung eine große Künstlerin sein. Es ist kein notwendiges Übel. Es ist nicht so, dass jeder, der eine schwere depressive Störung hat, ein großer Künstler wird.

Werden Sie noch weiter zu Musik und mentaler Gesundheit forschen?

Ich würde mich gerne noch mehr mit dem Musikhören befassen. In dieser Studie ging es um aktives Musizieren. Aber was ist mit der passiven Beschäftigung mit Musik? Es gibt so viele Menschen, die nicht unbedingt spielen, sich aber sehr für Musik interessieren, und andere, die sich gar nicht für Musik interessieren. Deshalb würde ich gerne eine Folgestudie zum Musikhören machen. ¶

... machte in Köln eine Ausbildung zur Tontechnikerin und arbeitete unter anderem für WDR3 und die Sendung mit der Maus. Es folgten ein Schulmusik- und Geschichtsstudium in Berlin und Bukarest. Heute lehrt sie Musikwissenschaft an der Universität der Künste Berlin und ist Redakteurin bei VAN. merle@van-verlag.com

Eine Antwort auf “»Wir können nicht ignorieren, dass es mehr psychische Probleme gibt bei Menschen, die Musikinstrumente spielen.«”

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