Der neue Professor für Musizierendengesundheit an der Musikhochschule und der Universität in Lübeck startet gerade in seine zweite Semesterwoche. Daniel Sebastian Scholz (Neurowissenschaftler, Diplom-Psychologe, approbierter psychologischer Verhaltenstherapeut, Gitarrist, Jazz-Komponist und Labelgründer) lehrt, forscht und berät hier fortan mit einer Spezialisierung auf neurologische, psychologische und psychotherapeutische Themen – anders als andere musikmedizinische Einrichtungen in Deutschland, die ihren Schwerpunkt traditionell eher auf physiologische Herausforderungen legen. »Der Bedarf an qualifizierter Beratung ist enorm und in den letzten Jahren auch stark angestiegen«, so Scholz in der Pressemitteilung zur neuen Professur. »Rund 50 Prozent der Musikerinnen und Musiker leidet beispielsweise zeitweise unter Lampenfieber.«

Daniel Sebastian Scholz studierte zunächst Psychologie in Marburg und erst im Anschluss Jazz-Komposition bei Niels Klein in Osnabrück, parallel dazu promovierte er am Zentrum für systemische Neurowissenschaften in Hannover. Von 2011 bis 2022 arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Musikphysiologie und Musiker-Medizin der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover und lehrte zusätzlich 2015 bis 2019 als Dozent in den Bereichen Jazz-Komposition und pädagogische Psychologie. Ich erreiche ihn per Zoom in Hannover, kurz bevor er sich in den Zug nach Lübeck setzt.

Daniel Sebastian Scholz • Foto © Patrick Slesiona

VAN: Ist der Bedarf an Beratung zu mentaler Gesundheit unter Musizierenden gestiegen, weil es mehr Probleme gibt oder weil das Bewusstsein für das Thema gewachsen ist?

Daniel Scholz: Ich hoffe, dass das Bewusstsein gewachsen ist. Früher wurde das totgeschwiegen.

Es gibt aber schon Studien aus den 1980er Jahren, die zeigen, dass das häufigste Problem, das Musiker:innen verbunden mit dem Auftreten nennen, Lampenfieber ist. Ein Lampenfieber, das so stark ist, dass man sich gar nicht traut, aufzutreten. Das kommt noch vor muskuloskelettalen Schmerzen. Es bestand also immer Bedarf, das Thema wurde in den letzten 10 bis 20 Jahren aber etwas enttabuisiert.

Lampenfieber gehört beim Auftritt ja auch einfach dazu. Ab wann wird es wirklich zur Belastung?

Etwas Lampenfieber ist hilfreich. Es kann aber kippen in eine ernstzunehmende Angst, die psychodiagnostisch relevant ist. Nach der Yerkes-Dodson Kurve ist es so: Bis zu einem Grad von Aufregung, die noch leistungssteigernd ist, bei der man fokussierter ist, nennen wir das Lampenfieber. Ab einem gewissen Punkt kippt das aber, die Aufregung wird psychisch beeinträchtigend und dann nennen wir sie Auftrittsangst. In der ICD-Klassifikation psychischer Störungen ist Auftrittsangst als soziale Phobie aufgeführt. Man fokussiert dann nicht mehr auf die Musik, sondern nur noch auf das Bogenzittern, das Zittern der Stimme, oder man denkt: ›Alle sehen, dass ich rot werde oder dass ich schwitze wie sonst was.‹

Wir wollen die Musikstudierenden da auch nicht pathologisieren. Lampenfieber gehört dazu. Ab dem Punkt, an dem es kippt, gibt es eine Diagnose – Auftrittsangst – und da kann man dann auch was machen, damit sie einen nicht ein Leben lang einschränkt.

Wenn wir das therapeutisch angehen, sind diese Themen häufig verquickt mit Selbstwert. Findet man sich so gut und wertvoll, dass man denkt: ›Ich sollte mich hier präsentieren‹? Oder sagt man eher von vornherein: ›Es ist eigentlich eh peinlich, was ich hier mache, alle anderen sind besser als ich und ich sollte hier gar nicht auf der Bühne stehen‹?

Wie kann man therapeutische Ansätze in größeren Gruppen wie einem Seminar vermitteln?

Das steigert sich graduell über das Semester. Am Anfang ist es noch relativ einfach. Da machen wir zum Beispiel Expositionsübungen – so nennt sich das in der Verhaltenstherapie –, bei denen sich die Leute zeigen müssen: In der ersten oder zweiten Sitzung müssen alle ein Gedicht aufsagen. Ohne Instrument ist das ein sehr ungewohntes Setting und da merkt man schon, für wen es schwierig ist, sich so zu präsentieren. Im Laufe des Semesters wird es dann fast eine ›Psychotherapie light‹. Es geht zum Beispiel darum: Welche Bewertungen nehmen wir vor für bestimmte Situationen? Auf was attribuieren wir? Sagen wir bei einem musikalischen Misserfolg zum Beispiel: ›Ich bin daran schuld, weil ich nichts kann‹? Oder waren die Umstände unglücklich, war vielleicht das Stück zu schwer? Daran kann man relativ viel sehen. Je nachdem, wie bereit, offen und reflektiert die Musiker:innen sind, können wir fast in eine Gruppentherapiesession gehen, aber das natürlich immer in Absprache.

Wenn ich die Selbstwert-Thematik anschneide in Seminaren, wird es häufig erstmal relativ still – betretenes Schweigen. Das ist natürlich ein Grad von persönlichen Dingen, der immer mitschwingt beim Musikmachen, der aber trotzdem nicht direkt thematisiert wird.

In Interviews mit Musiker:innen ging es in VAN schon öfter darum, dass der Selbstwert sehr stark vom Musikmachen geprägt ist. Ist das grundsätzlich ungesund?

Leider ja. Bei Musiker:innen ist häufig das Problem, dass die Musik die einzige Selbstwertquelle ist. Man sieht nicht, dass man auch eine liebenswerte Person ist, die Freund:innen hat und noch ganz andere Sachen kann. Und wenn man dann nicht mehr Musik machen kann oder nicht mehr so gut, fällt die einzige Selbstwertquelle weg.

Bei längerfristigen Therapien – das sind oft Musiker:innen, die aufgrund von körperlichen Beschwerden nicht mehr spielen können – zeige ich häufig auf: Musiker:innen und Musikstudierende haben wahnsinnig viele Ressourcen. Das sind in der Regel sehr smarte, sehr begabte Menschen, die noch ganz viele andere Sachen können, nur werden sie von Kindheit an extrem darauf eingenordet, dass es für sie nur die Musik gibt. Und es gibt leider noch immer diese alte Garde der Professor:innen, die sagen: ›Wenn du nicht ausschließlich Musik machst, wird es sowieso nichts.‹ Da bin ich sehr dagegen.

Wenn man mit 30 merkt, dass es vielleicht mit der Konzertpianistinnenkarriere nichts wird und man auch noch Schmerzen hat beim Spielen und sich dann die Frage stellt, ob man noch etwas anderes studiert, wird es oft schwierig. Die geistige Flexibilität, zu sehen, welche anderen Möglichkeiten es noch gibt – daran müssen wir oft sehr lange arbeiten.

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Die anderen etwa zehn Einrichtungen für Musizierendengesundheit in Deutschland legen den Schwerpunkt auf physiologische Probleme, Ihre neue Professur schaut jetzt stärker auf mentale Gesundheit. Verändert sich die Disziplin gerade mehr in diese Richtung?

Muskuloskelettale Schmerzen sind nach wie vor vorherrschend in der Disziplin. Es ist wichtig, den Bewegungsapparat am Laufen zu halten. Aber natürlich nutzt ein funktionierender Bewegungsapparat nichts, wenn man eine Depression hat.

Dass der psychische Einfluss ein gravierender ist, ist natürlich auch allen somatisch arbeitenden Mediziner:innen schon lange klar. Er lief nur lange unterm Radar und jetzt wird, sagen wir mal: das Tüchlein gelüftet. Wir enttabuisieren das jetzt, institutionalisieren diese Komponenten, zeigen den Musiker:innen auch: Es ist handhabbar, wenn man psychische Probleme hat. Es ist sehr wichtig, diesen Musiker:innen die Selbstwirksamkeitsüberzeugung zurückzugeben. Man ist diesen Problemen nicht ausgeliefert, man kann etwas dagegen machen.

Psychische Gesundheit wird immer mehr thematisiert, da gibt es eine positive Entwicklung. Gerade junge Menschen haben das mehr auf dem Schirm. Aber das muss noch weitergehen. Dieses alte ›Da musst du nur die Zähne zusammenbeißen und dann wird das schon wieder!‹ ist hochgradig unverantwortlich.

Es gab lange eine Angst der Institutionen, dass wir die Musiker:innen pathologisieren, quasi ›psychisch krank machen‹. Diese komische alte Sichtweise kennt man ja auch vom Schulamt: ›Wenn wir es nicht thematisieren, dann gibt es das auch nicht.‹

Ist es immer noch so, dass man als Lehrkraft an Schulen nicht verbeamtet wird, wenn man mal in psychotherapeutischer Behandlung war?

Es hängt davon ab, an wen man gerät. Aber ich kann Ihnen sagen: Ich habe schon Gutachten geschrieben, in denen ich versichert habe, dass die Person XY von mir ›psychisch geheilt‹ entlassen worden ist und da auch nie wieder irgendwas kommen wird, einer Verbeamtung stünde nichts im Wege … Das ist politisch immer noch ein Skandal. Zu sagen: ›Leute, verschweigt eure Angststörung und sauft euch meinetwegen zu, aber geht nicht in Behandlung‹, das geht einfach nicht.

Spielen Suchterkrankungen in der Musiker:innengesundheit auch eine besondere Rolle?

Unbestreitbar sind Suchterkrankungen in der Welt der Musik ein Thema, aber auch in Kunst und Theater, generell im Performance- und Medienbereich. Das fällt unter das Maladaptive Coping: nicht-hilfreiche Bewältigungsstrategien. Es ist kompliziert: Alkohol, Betablockern, leider auch Benzodiazepinen – also Beruhigungsmittel, die richtig hart abhängig machen –, wird eine wichtige Rolle zugeschrieben in der Beruhigung vor und nach dem Konzert. Es wird dann schnell ein Kreislauf, man erfindet immer Anlässe zu konsumieren: als Belohnung, als Motivation, zum Fit Machen, zum Beruhigen.

Die Frage in der Therapie ist dann immer: Wird die Substanz eingesetzt, um Ängste zu deckeln oder um depressiven Phasen entgegenzuwirken? Trinken ist zum Beispiel häufig eine Bewältigungsstrategie für soziale Ängstlichkeit. Da wäre es dann wichtig, einen Entzug zu schaffen, soziale Ängste abzubauen und im Anschluss zu versuchen, soziale Kompetenz und Offenheit ohne Alkohol oder andere Substanzen aufzubauen.

Wie reagieren die Kolleg:innen an der Musikhochschule auf Ihre Arbeit?

Ich wurde in Lübeck wirklich extrem freundlich und wertschätzend begrüßt. Schon an meiner vorherigen Wirkungsstätte haben wir versucht, den psychotherapeutischen Aspekt im Institut für Musikphysiologie und Musiker-Medizin zu etablieren und da war das nicht nur von Hurra-Schreien seitens der Musikhochschule begleitet. Da gab es wahrscheinlich die Angst, dass wir die Studierenden psycho-pathologisieren. In Hannover gab es aber auch viele, die total froh waren, dass sie sich an mich wenden können an Punkten, an denen sie nicht mehr weiterkamen mit ihren Studierenden. Es ist ja auch eine sehr besondere, enge Bindung im Einzelunterricht, bei der es gut ist, sie immer wieder mit jemandem Externen zu entlasten.

Ich kenne aus meinem Musikstudium zum Teil auch merkwürdige küchenpsychologische Tipps von Lehrenden, gerade aus dem Einzelunterricht. Eine Gesangslehrerin meinte zum Beispiel mal, es wäre gut für meine Haltung und Technik, wenn ich patriotischer wäre. Begegnet Ihnen sowas auch?

Künstler:innen, Musiker:innen sind mental oft sehr offen. Das ist natürlich erstmal eine schöne Sache, aber es öffnet auch alternativen Heilversprechen Tür und Tor. Gerade bei Dingen, die so kompliziert sind wie Singen – diese Räume [zeigt auf die Nebenhöhlen und Stirnhöhlen] öffnen und dort reinsingen  … Physiologisch-medizinisch ist das oft gar nicht überprüfbar. Auch wieviel Kraft man in den Bogendruck beim Cellospielen legen muss zum Beispiel. Da habe ich letztens eine spannende Untersuchung gesehen. Das ist überhaupt nicht messbar. Man spricht darum eher in Bildern, die oft von Generation zu Generation weitergegeben werden, aber wissenschaftlich kein Fundament haben.

Es ist, glaube ich, wichtig zu verstehen, dass das Versuche sind, sehr komplexe Sachverhalte oder Fragen wie ›warum funktioniert Singen manchmal und manchmal nicht?‹ irgendwie zu erklären. Musik ist aber in erster Linie Imitationslernen. Das ist gar nicht so rational und kognitiv, da geht es darum, etwas gut zu imitieren und das Körpergefühl, das sich ganz schwer verorten lässt, zu den eigenen Gunsten zu nutzen.

An Musikhochschulen bleibt meiner Erfahrung nach neben all dem Üben oft wenig oder gar keine Zeit für Veranstaltungen, die nicht verpflichtend sind. Die fallen dann hinten runter, selbst wenn es eigentlich wichtige Angebote gibt. Sind Veranstaltungen zur mentalen Gesundheit in Zukunft Pflicht an der Musikhochschule in Lübeck?

Die Grundlagenvorlesung ist Pflicht für alle, im Bachelor wie im Master. Da geht es wirklich um Basics: Haltung, Gehör, Gehirn, ein kleiner Ausflug in Sachen Lampenfieber. Das Lampenfieber-Seminar ist ein Wahlfach.

Was würden Sie außerdem gerne noch anbieten an der Musikhochschule?

Ich würde den Studierenden vor allem gerne sagen – auch, wenn das vielen an der Hochschule wahrscheinlich nicht gefällt: ›Leute, kommt raus aus den Übezellen. Mehr als drei Stunden am Tag kann man sowieso nicht konzentriert üben. Guckt mal, dass ihr ein bisschen rausgeht in die Welt der Kunst und Kultur, lernt eure Kommiliton:innen kennen.‹ Breiter schauen, was man machen kann, weg von diesem Elitendenken. Wir brauchen einfach nicht so viele, die nur wahnsinnig toll Klavier spielen können. Musikstudierende sind unglaublich begabt und smart. Da sollte man was draus machen und sich nicht den ganzen Tag nur einpferchen.

Welchen Einfluss hätte das dann auf die mentale Gesundheit?

Meine Hoffnung wäre, dass dadurch diese Haltung ›Ich bin nur was wert, wenn ich fantastisch Geige spiele‹ nicht so ausgeprägt wäre. Dass man merkt, dass man auch andere Fähigkeiten hat, beim Yoga oder Unterrichten oder was auch immer. Dass die Persönlichkeit nicht mehr so eindimensional erzählt wird, sondern eher im Sinne von Carl Rogers’ Fully functioning person – man kann alle Potenziale nutzen. Und darf das auch, und hat nicht jemanden neben sich stehen, der sagt, dass man nur Musik machen soll. ¶

... machte in Köln eine Ausbildung zur Tontechnikerin und arbeitete unter anderem für WDR3 und die Sendung mit der Maus. Es folgten ein Schulmusik- und Geschichtsstudium in Berlin und Bukarest. Heute lehrt sie Musikwissenschaft an der Universität der Künste Berlin und ist Redakteurin bei VAN. merle@van-verlag.com

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