Musikerin oder Musiker zu sein – damit assoziieren die meisten Menschen eine Tätigkeit, in der das Hobby zum Beruf wird. Persönliche Neigungen stehen im Vordergrund, und ihnen nachzugehen, scheint eine vielversprechende Herausforderung und ein großes Glück. Leider sieht die Lebensrealität für Musikerinnen und Musiker in unserer Gesellschaft jedoch oft anders aus. Viele von ihnen haben ein geringes Einkommen. Die Arbeitsbedingungen dieser Berufsgruppe haben sich im Allgemeinen kaum verbessert, vielleicht sogar verschlechtert. Wegen der zurückgehenden Planstellen im Musikbereich und trotz des Engagements unter anderem von unisono (ehemals DOV), des Deutschen Tonkünstlerverbands für freischaffende Musiker und der Mindestlohnempfehlungen ist die vielgepriesene Freiberuflichkeit für viele Musikerinnen und Musiker eher Fluch als Segen. Hinzu kommt, dass nach zwei Jahren pandemiebedingter Einschränkungen und des Stillstands des regulären Musikbetriebs ernsthafter Grund zur Sorge um das soziale Durchhaltevermögen von Künstlerinnen und Künstlern besteht, die mehr und mehr unter Druck geraten und den Musikberuf mitunter aufgeben. Für viele Musiker:innen gehen die Belastungen ihres Berufs, für den sie meist seit ihrer frühen Kindheit eine Instrumental- oder Gesangsausbildung verfolgen, mit Identitätskrisen einher. Die mittlerweile üblich gewordenen Mitschnitte und Onlineausstrahlungen nahezu jeder Veranstaltung verstärken den mit dem Beruf verbundenen Perfektionsdruck und die Ängste vor Fehlern sowie ein erbarmungsloses Konkurrenzverhalten. So können selbst kleine physische wie psychische Einschränkungen enorme Auswirkungen auf das Musizieren und letztlich auch auf die Karriere haben, die höher sind als in anderen Berufen. Der Arbeitsmarkt verlangt eine permanente Verfügbarkeit ohne Rücksicht auf die eigene Gesundheit. Das perfekte Verkaufs- und Bewerbungsmanagement und die persönliche Vernetzung sind dabei mindestens so wichtig wie fehlerloses Spiel und charismatische Ausstrahlung. Analog zur gesamtgesellschaftlichen Entwicklung wächst auch unter Musiker:innen die Kluft zwischen wenigen sehr gut verdienenden Stars oder Orchestermusiker:innen in Festanstellungen einerseits und einer großen Gruppe, die am Existenzminimum lebt, andererseits.

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Gerade bei der Begegnung mit professionellen Musikerinnen und Musikern in der ärztlichen und psychotherapeutischen Praxis treten die Schattenseiten dieses Berufs deutlich hervor. Die Berichte von alltäglichen Erfahrungen körperlicher Belastungen sowie schmerz- und arbeitsbedingter psychischer Störungen sind bei diesen Patientinnen und Patienten der psychotherapeutischen Musikersprechstunde leider nicht die Seltenheit, vielmehr die Regel. Musikermedizinische Studien bestätigen den Eindruck aus den Praxisgesprächen, dass die gesundheitlichen Risiken für Musiker:innen in direktem Zusammenhang mit der Ausbildung, mit den Strategien des Übens und Lernens, dem Ethos der Lehrpersonen, mit dem Arbeitsmarkt sowie mit Geschlecht und Alter stehen. Wichtige Themen der Auseinandersetzung sind hier vor allem die sozialen Formen und Kommunikationsbedingungen, der Umgang mit Fehlern, Stress, Angst, Konkurrenz, Perfektionsstreben mit negativen und entwertenden Äußerungen und nicht zuletzt übermäßiger Selbstkritik. Diese Aspekte sind nicht ausschließlich auf die persönlichen Schwächen und Empfindlichkeiten der Beteiligten zurückzuführen. Überwiegend beruhen sie auf den in der Musikkultur gängigen und tradierten Umgangs- und Denkmodellen, die die Musikästhetik über die Produktionsbedingungen, das heißt über die Gesundheit der Musikausübenden setzt. Das situative Erleben lässt die Muster dieser Erfahrungen überwiegend im Unbewussten der Betroffenen. Sie zeichnen sich allzu oft durch mangelhaftes Wissen im Umgang mit Stressbelastungen, Ängsten vor Auftritten und Perfektionismus aus.

Obwohl es inzwischen an verschiedenen Orten in Deutschland etliche Professuren, Mittelbaustellen und umfangreiche Lehraufträge für Ärztinnen und Ärzte an Musikhochschulen und anderen Institutionen gibt und sich hierdurch die Sensibilität für gesundheitliche Fragestellungen erhöht hat, erhalten an anderen Institutionen (Nachwuchs-) immer noch zu wenig wissenschaftlich fundierte und vor allem präventive Unterstützung, durch die sie lernen könnten, mit den sie betreffenden alltäglichen Belastungen besser umzugehen – in allen Lebensphasen.

Foto Rick Shinozaki (CC BY-NC-ND 2.0)

Kindheit: Zwischen eigenem Willen und »erfülle unsere Erwartungen!«

Musikerinnen und Musiker erinnern sich rückblickend sehr oft an Schlüsselerlebnisse aus der eigenen Kindheit. Einerseits sind das positive Erfahrungen und Erfolge, andererseits etwa Zwang zum Üben, den die Eltern aufbauen. Beim Vorspielen kann sich förderliches Lampenfieber durch kränkende Äußerungen der Lehrer:innen oder aus dem Publikum zu Angst entwickeln. Besonders wenn Eltern, Mitschüler:innen oder eine Jury, wie dies bei Konzertwettbewerben oder im Rahmen von Bewerbungen nicht selten geschieht, nur mit Kritik reagieren. Wird beim Musizieren früh die Erfahrung gemacht, dass selbst kleine Fehler geahndet werden, werden Angstgefühle stark begünstigt. Diese werden im limbischen System des Gehirns abgelegt und bleiben so oft viele Jahre und Jahrzehnte gespeichert. Hirnforscher sprechen von der Unauslöschlichkeit der Erfahrungen dieser emotionalen Ereignisse. Unter den Angstgefühlen, die im Kindesalter erlebt werden, leiden viele Musikerinnen und Musiker ihr Leben lang. Wegen derartiger Angsterfahrungen geben zahlreiche junge Musiker:innen das Musizieren frühzeitig auf.

»Als ich fünf Jahre alt war, begann ich mit dem ersten Klavierunterricht. Mein Vater war ein mäßiger Geiger. Er ging mit zu meiner Lehrerin und kritisierte sie. Von mir verlangte er rasche Fortschritte. Schon vor Beginn der Schule musste ich täglich eine Stunde üben. Als ich 9 Jahre alt war, entschied mein Vater, dass ich nicht weiter zur Schule gehen sollte, um mich vollkommen der Laufbahn als Pianist zu widmen. Ich begann täglich 7–9 Stunden zu üben. Wenn ich ein Musikstück beherrschte, musste ich dies dem Vater zehnmal vorspielen. Er wollte aus mir den weltbesten Pianisten machen.«

Erinnerungen eines 23-jährigen Pianisten, der 2017 in die Sprechstunde kam

Inzwischen ist der Ansatz, Kinder fremdbestimmt zum Objekt elterlicher beziehungsweise musikpädagogischer Erwartungen zu machen, weniger verbreitet. Anweisungen von Erziehungsberechtigten und Lehrenden, wie »Mach es so, wie ich es dir sage!«, dürften heute eher die Ausnahme sein. Geblieben ist aber der bei einigen jugendlichen Musiker:innen zwanghafte Wunsch, perfekt sein zu wollen, der weniger Ausdruck selbstgewählten Anspruchs, sondern vor allem ein Resultat der Erlebnisse während der Kindheit, Jugend und Berufsausbildung ist. Aus der Sorge, den Kontakt, die Liebe der Eltern und die Anerkennung der Lehrpersonen zu verlieren, bemühen sich Kinder und Jugendliche so immer wieder von Neuem um Perfektion. Distanz zu den eigenen Wünschen und Bedürfnissen, ein unausgewogenes Selbstwertgefühl, Angstgefühle und ein Mangel an Selbstvertrauen sind oftmals die Folgen.

Eine wesentliche Förderung bestünde also darin, die Musizierenden aufzubauen und in ihrem Selbstwerterleben positiv zu unterstützen, indem Fortschritte aufmerksam beobachtet und als Prozess ganzheitlich anerkannt und offen artikuliert werden. Eine wertschätzende Kommunikation ist die Grundlage, um das Musizieren und die Freude daran zu fördern.

Pubertät: Zwischen Ablehnung und ästhetischer Euphorie

Der Beginn der Adoleszenz läutet für viele Jugendliche eine längere Phase der Unsicherheit ein. Das Gehirn ist eine Großbaustelle, Hormone verändern den Körper. Jungen Musiker:innen in dieser Lebensphase zum Übergang ins Erwachsenenleben fällt es meist schwer, ihre Gefühle zu äußern. Der intensive Musikunterricht kann diesen Prozess positiv begleiten, aber auch die Zweifel verstärken: »Ist der Weg mit meinem Instrument der richtige? Sollte ich den Unterricht beenden, weil meine Freunde es uncool finden, was ich mache und ich weniger Zeit mit ihnen verbringen kann?« Einerseits zur Gruppe gehören und hier Anerkennung und Lob bekommen zu wollen, andererseits aber beim Üben allein zu sein, Ablehnung oder auch Neid zu erfahren, ist ein ständiger Konflikt in dieser Lebensphase. Musikpädagog:innen, die Jugendliche in der Pubertät unterstützen wollen, sind gefordert, die individuellen Grenzen dessen zu erkennen, was ihre Schüler lernen und auffassen können. Um Ängste und Zweifel beherrschen zu lernen, brauchen die Jugendlichen in dieser Sozialisationsphase viel Verständnis. Die Fragen »Wer bin ich? Wohin will ich? Was ist möglich?« erzeugen Unsicherheit, die stets in der Praxis mitgedacht werden müssen. Um diese sensible Zeit unbeschadet durchzustehen und den Weg musizierend weitergehen zu können, ist eine einfühlsame und ermutigende Akzeptanz und Förderung durch die Lehrenden unabdingbar.

»Im Alter von fünf Jahren begann ich mit dem Cellounterricht. Ich machte rasch Fortschritte. Bis dahin war die Welt für mich als Kind einfach und in Ordnung. Mit 15 Jahren stellte ich alles in Frage. Vom Vater fühlte ich mich ständig beobachtet und bewertet, vom Lehrer kontrolliert und bevormundet. Alle wollten mich in eine Form pressen. Zu meinen Klassenkameraden hatte ich kaum Kontakt. Beim Sport wurde ich als Letzter gewählt. Es war, als sei ich geistig auf einem anderen Stern. Ich hatte das Gefühl, von niemandem verstanden zu werden. Wut, Angst, Enttäuschung, Aggression folgten in schnellem Wechsel. Ich fühlte mich verstoßen, ich fühlte mich anders als die anderen. An meinem Instrument fühlte ich mich am sichersten und zu Hause. Das Cello hielt meine Gefühlswelt aufrecht.«

Bericht eines 25-jährigen Cellisten

In dieser Phase spielt der kritische Blick auf die eigenen musikalischen Fähigkeiten und der soziale Vergleich mit anderen Musizierenden eine große Rolle. Der Einfluss elterlichen Zuspruchs und Unterstützung nimmt gleichzeitig ab. Der bewertende Vergleich mit anderen rückt Schamgefühle und Angst in den Mittelpunkt: die Angst zu versagen und vor Abwertung. Deshalb ist es wichtig, diese Warnsignale früh zu erkennen und offen über die Konflikte und Ängste zu sprechen. Hier sind vor allem Musikpädagogen gefragt, ihre Schüler beim Lernen zu unterstützen, Freiräume wertzuschätzen und eine positive Fehlerkultur zu vermitteln.

Musikhochschule: Zwischen Beruf und Berufung

Die weitere Entwicklung zum Musiker bedeutet eine kompetitive, fortwährende Auseinandersetzung mit Anforderungen. Um zur Hochschule zugelassen zu werden, muss man viel üben und schließlich besser sein als alle anderen. Dabei muss ein Scheitern nicht bedeuten, dass die eigenen Fähigkeiten für ein Studium nicht ausreichen. Häufig berichten Bewerberinnen und Bewerber über ein distanziertes und narzisstisches Verhalten, das Hochschullehrende bei Aufnahmeprüfungen zeigten. Manche äußern sich dabei nur mit abwertenden Kommentaren. Auch erfahren Bewerber:innen in vielen Fällen nicht einmal die Gründe, die zu einer Ablehnung führten. Für jeden Studienplatz gibt es unzählige Anwärter:innen, und das Niveau der Aufnahmeprüfungen für den Bachelor sei »wahnsinnig hochgeschraubt worden«, nachdem es einen immer größeren Andrang von Bewerbern gibt, sagt eine Studentin.

»In meiner Schulzeit war ich immer eine gute und selbstbewusste Schülerin und Klassensprecherin. Mit Beginn des Studiums begannen meine Zweifel, meine Unsicherheit und die Angst, den Ansprüchen meines Lehrers nicht genügen zu können. Ich habe im ersten Jahr 10 Kilo abgenommen und manchmal habe ich aus Angst nur noch gefressen. Mein Lehrer galt als hervorragender Klarinettist. Die Übungsstunden waren durch Rituale geprägt. Man durfte in das Zimmer nur eintreten, wenn die Tür geöffnet war. Die Stunde gliederte sich in 20 Minuten Einspielen, 20 Minuten Etüden und 20 Minuten Literatur. Mein Lehrer hatte das Interpretationsmonopol. Ich sollte nur abnicken. Auf seine Forderungen reagierte ich manchmal mit Trotz. Er reagierte darauf gekränkt: ›Werden Sie doch Fensterputzerin, da können Sie wenig falsch machen.‹«

Bericht einer 28-jährigen Klarinettistin

Fehler können auch aus Trotz gegen zu viele Vorgaben und Erwartungen entstehen. Der Umgang mit und die Kommunikation über Fehler ist eine schwierige Angelegenheit. Eine negative Fehlerkultur kann das Musizieren extrem belasten und letztlich sogar zum Abbruch der Musikausbildung oder des Studiums führen. Eine positive Fehlerkultur hingegen ermöglicht es, Fehler produktiv zu verwenden und Fortschritte zu machen. Damit im Unterricht das Reden über Fehler nicht als persönliche Niederlage erlebt wird und sich dieses Gefühl beim Üben nicht gar noch verstärkt, ist der Mut, Fehler zu machen und mit diesen konstruktiv umzugehen, unabdingbar – doch das will gelernt sein. Die Angst- und Schamgefühle wandeln sich schnell in körperliche oder psychische Symptome. Gute Lehrerinnen und Lehrer bemerken diese und gehen hierauf ein, auch wenn sich die Probleme reflektierend nur schwer bearbeiten lassen.

Foto Dumas Temu (CC BY-NC-ND 2.0)

Berufsmusiker: Zwischen Freiheit und Beamtentum

An der Oberfläche – an den Muskeln, Sehnen und am Skelettsystem – zeigen sich die bei Musiker:innen auftretenden Erkrankungen und Beeinträchtigungen zuerst. Die eigentlichen Ursachen liegen jedoch in den außerordentlich komplizierten Wechselwirkungen zwischen den aus instrumentenspezifischen Besonderheiten resultierenden körperlichen Belastungen und den psychomentalen Anforderungen.

Das Arbeitsfeld professioneller Musiker:innen ist kompliziert. Auch fertig ausgebildete und graduierte Berufsmusiker:innen berichten in Besorgnis erregendem Ausmaß von Erfahrungen, die zu einem Gemisch aus unbefriedigtem Selbstwertgefühl und Angst führen. Das Ausleben der freien und kreativen Persönlichkeit im Akt des Musizierens ist bei der Orchesterarbeit oft nur in begrenztem Maße möglich. Eine Hörigkeit gegenüber dem jeweils vorgesetzten Stimmführer bis hin zum Dirigenten regelt dann die Arbeitsweise. In speziellen Situationen werden andererseits höchste Anforderungen an die Kreativität und den Körper gestellt. Es ist bekannt, dass der Musikberuf in diesem Spannungszustand zwischen lebenslanger Routine und kreativen Sofortleistungen in Millisekunden steht. Gleichzeitig unterliegt die Dynamik der Gefühle dabei ständigen Schwankungen, sie wechselt zwischen euphorischen Glücksmomenten und Frustration. Berufsmusiker:innen sind Teil einer Gruppe, in der Individualität und persönliche Erfolge teils mit Neid quittiert und daher nur versteckt oder abgeschwächt erlebt werden können.

Vorgesetzte, wie beispielsweise die Orchesterdirektion beziehungsweise Intendanz, können den Zusammenhalt von Orchestermusiker:innen entweder negativ beeinflussen oder nachhaltig fördern. Oft fehlen ihnen aber pädagogische und kommunikative Fähigkeiten oder die Zeit, der Raum und die Gelegenheiten, um den Musikern ihre Auffassungen klar und nachvollziehbar zu vermitteln. Gereizte Auseinandersetzungen während der Proben oder nach einem Konzert werden häufig berichtet, aber kaum laut oder öffentlich ausgetragen beziehungsweise entschärft.

Für die oben skizzierten Konflikte gibt es inzwischen Kommunikationstrainings. Es werden etwa betreute Lösungsansätze von Mediator:innen angeboten, um die Häufigkeit, Intensität und Destruktivität von Kränkungen zwischen Dirigent:in und Orchestermitgliedern zu verringern, beziehungsweise sie dort, wo sie schon zum unausweichlichen Dauerzustand geworden sind, aufzulösen, so dass die Musiker:innen gestärkt aus der Zusammenarbeit hervorgehen können. Viele Einrichtungen haben daher für ihre Musiker:innen bereits ein Kommunikationstraining eingeführt und neutrale Ansprechpersonen einbezogen. In zahlreichen Institutionen fehlen sie jedoch weiterhin und bei der Lösungssuche sind die vielen freischaffenden Musiker ebenfalls oft ausgeschlossen.

»Im Orchester sitze ich als Bratscher vor den Trompeten. Ich habe aufgrund der Lautstärke dieser Instrumente bereits meinen zweiten Hörsturz erlebt. Die Anregung, die Orchesterplätze für Instrumentalisten zu wechseln, so dass die Belastungen durch die Bläser auch von anderen Musikern mitgetragen werden, wurde abgelehnt. Die Kommunikation innerhalb einer Orchestergruppe wird meistens von dem ersten Solisten oder der ersten Solistin bestimmt, beziehungsweise von der Stellvertretung. Und das geschieht oft in diktatorischer und aggressiver Form. Damit ist eine positive Kommunikation der Instrumentalgruppe häufig nicht möglich. Der Dirigent schätzt auch besonders die Orchestermitglieder, die ihn bewundern beziehunsgweise die eine herausragende Stellung innerhalb des Orchesters haben. In diesem Zusammenhang fühlt man sich sehr oft herabgesetzt, entwertet, als würde man sein Instrument nicht beherrschen oder sei Musiker zweiter Wahl.«

Ein 43-jähriger Orchestermusiker berichtet

Gesundheit und Krankheit sind Themen, die tabuisiert werden, über die Künstler:innen häufig nur hinter vorgehaltener Hand sprechen. Es gibt kaum einen anderen Beruf, bei dem die Qualität der Leistung so unmittelbar erkannt und überprüft wird und Fehler nachträglich nicht korrigiert werden können. Nicht zuletzt erhöht dieser Fakt die psychomentale und physiologische Dauerbelastung auf Musiker:innen, was sich wiederum negativ auf die Leistung auswirkt und so Status und die Karrieremöglichkeiten weiter gefährdet. Je größer der musikalische Ehrgeiz und je länger die täglichen Übezeiten, desto stärker werden die Belastungen als solche erlebt. Aufgrund des hohen Konkurrenzdrucks finden sich Musiker:innen aber oft nicht in einer Lage, über diese Probleme zu sprechen. Daraus folgt, dass sie gesundheitliche Beschwerden und Einschränkungen verschweigen, was wiederum leicht zu einer chronischen gesundheitlichen Überforderung bis hin zum umfassenden Scheitern führen kann. Selbst gewöhnliche altersbedingte Veränderungen werden im Arbeitsalltag nur selten diskutiert. Oft ist zu hören, dass ältere Musiker:innen über sich sagen: »Wenn ich mich heute um eine Stelle bewerben würde, so hätte ich keine Chance.« Dabei verändert der Alterungsprozess zwar die technischen Fähigkeiten, dafür bringen ältere Musiker:innen aber ihre reichen Erfahrungen in die Orchestergemeinschaft ein.

Wenn die Musiker:innen in die ärztliche Praxis kommen, schildern sie Schmerzen, Bewegungseinschränkungen und Verspannungen. Es gibt dabei die Tendenz in der Medizin, diese Beschwerden allein auf körperlich begründbare Ursachen zurückzuführen, die von Bernard Lown in seinem Buch Die verlorene Kunst des Heilens meisterhaft dargestellt wurden. Aber auch bei Musiker:innen löst die Erweiterung einer psychosozialen Diagnostik oftmals Angstgefühle aus. Das ist nicht überraschend, denn die Einbeziehung von psychosozialen Faktoren bei der Diagnostik kann Gefühle von Nicht-gut-genug-Sein bis hin zur Befürchtung auslösen, selbst seelisch krank zu sein oder Probleme nur fehlerhaft bewältigen zu können.

Für Musiker:innen bestehen die Grundpfeiler des gesunden Älterwerdens in der Etablierung eines Bewusstseins für die gesundheitlichen Aspekte ihrer Arbeit. Dabei ist die Vorbeugung zentral. Günstigere Entwicklungsbedingungen in der Kindheit und Jugend sowie präventive Angebote für den Musikunterricht müssen von Anbeginn entwickelt und einbezogen werden. Nur das kann langfristig die Vorbeugung von Beschwerden und Erkrankungen garantieren.

Im Laufe der Sozialisation bedarf es daher einer kompetenten Anleitung von Bewältigungstechniken für spezifische Herausforderungen beim Musizieren. Eine besondere Verantwortung in der frühen Ausbildungs- und Unterrichtszeit liegt in den Händen von Musikpädagoginnen und -pädagogen. Die hilfreichen Angebote betreffen Körperarbeit, das Üben und Lernen, das Vorspielen, einen respektvollen und toleranten Umgang der Musiker:innen miteinander sowie die Freundlichkeit, Geduld und die Suche nach gemeinsamen produktiven Lösungsansätzen im Rahmen einer offenen Kultur des miteinander Kommunizierens – gerade auch durch Musik. Vor allem während des Studiums ist es enorm wichtig, der Auseinandersetzung mit spezifischen gesundheitlichen Risiken und Problemen einen Raum zu geben. Diese Kommunikation verändert die Arbeitsatmosphäre und das Leben als Musiker:in. Betroffene erfahren so, dass ihre Probleme keine individuellen Schwächen darstellen, dass vielmehr viele Musizierende unter gleichen oder ähnlichen Erlebnissen und deren Folgen leiden.

Die Musikermedizin hat seit ihrer Gründung in den 90er Jahren die Probleme in der Sozialisation zur Musikerin und zum Musiker systematisch erforscht und aufgezeigt. Das bedeutet jedoch nicht automatisch, dass die Ergebnisse auch systematisch angenommen wurden und die Umsetzung in die Praxis von Musikern tatsächlich stattgefunden und sich somit die Musiksozialisation deutlich positiv verändert hat. So sind zum Beispiel die gesellschaftliche Suche nach Perfektion und die Suche nach persönlichen Fehlern immer enger und intensiver geworden. Solange sich die Hochschulen nicht radikal in ihren Unterrichtsverfahren verändern und Musikerinnen und Musiker über Jahre einzelnen Lehrenden ausgesetzt sind, so lange wird sich auch an der Suche nach der Perfektion nichts ändern. Perfektion kann nicht das Ziel beim Musizieren sein. Vielmehr sollte die Suche nach der Gemeinsamkeit und nach Kommunikation im Mittelpunkt der Sozialisation stehen. ¶

… ist Hochschullehrer für Sozialmedizin mit dem Schwerpunkt Musikergesundheit. 2002 gründete er das Kurt-Singer-Institut für Musikergesundheit an der Universität der Künste. Bis 2008 war er Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Musikphysiologie und Musikermedizin. Als Psychoanalytiker arbeitet er in eigener Praxis und widmet sich hier seit 1993 gesundheitlichen Fragestellung in künstlerischen Berufen. Neben seiner langjährigen Forschungs- und Lehrtätigkeit befasst er sich schwerpunktmäßig...

… studierte Gesang/Musiktheater (Hochschule für Musik »Hanns Eisler«) und anschließend Musikwissenschaft, Musikethnologie und Bulgaristik (Humboldt-Universität / Freie Universität), inklusive Promotion. Seit 2004 erforscht und singt sie im Ensemble Polýnushka russische und ukrainische authentische Folklore. Seit 2013 ist sie Teil des Ensemble Extrakte für künstlerisch-schöpferische Musikforschung. Deniza Popova unterrichtet in Kombination aus wissenschaftlicher und künstlerischer Arbeit...