Titelbild © Michael Kerstan

Vorletzte Woche machte die Nachricht die Runde, dass Hans Werner Henzes Villa »La Leprara« bei Marino am Albaner See in der Nähe von Rom verkauft wird. Henze lebte und arbeitete dort von 1966 bis 2012. Hier entstanden nicht nur die meisten seine Werke, die Villa war auch eine Begegnungsstätte Bildender Künstler, Musiker und Schriftstellerinnen. Rudi Dutschke fand hier 1968 kurzzeitig Asyl und kurierte die Folgen seiner Attentatsverletzungen aus. Nach Henzes Tod ging das Gebäude zunächst in den Besitz der Henze-Stiftung über. Weil kein Träger gefunden werden konnte und der Unterhalt des Hauses erhebliche Kosten verursachte – die Wohnfläche beträgt über 500 Quadratmeter, dazu kommt ein über ein Hektar großes Grundstück mit Tennisplatz, Schwimmbad und 80 Olivenbäumen –, steht ein Verkauf des Hauses seit Jahren im Raum. Hartmut Welscher hat mit Michael Kerstan, dem letzten Lebensgefährten von Hans Werner Henze und Geschäftsführer der Hans-Werner-Henze-Stiftung, über das schwierige Erbe, Henzes Arbeitsalltag und Inspirationsquellen und die Gründe für dessen Auswandern nach Italien gesprochen. 

Hans Werner Henze und Michael Kerstan, Essen, Dezember 2008 • Foto © Ursula Kaufmann

VAN: Vor zwei Wochen machte die Nachricht die Runde, dass ›La Leprara‹ verkauft wird. Wie ist der Stand heute?

Michael Kerstan: Das Haus ist gerade verkauft worden, Montag war der Notartermin. Jetzt warte ich auf die Überweisung des Geldes und dann ist das Kapitel abgeschlossen.

Wer ist der Käufer, eine Privatperson?

Ja, ein Italiener, der das Haus auch öffnen möchte für kulturelle Veranstaltungen. Das Arbeitszimmer von Hans Werner Henze möchte er zu einem kleinen Museum umgestalten und das Wohnzimmer, ein Salon mit 120 Quadratmetern, für Konzerte nutzen, auch für unsere Stiftung. Immerhin ist dann noch ein bisschen von dem, was Henze sich gewünscht hat, übrig.

Was hat er sich gewünscht?

Seine Stiftung soll sich laut Satzung der Förderung junger Komponistinnen und Komponisten und der Sicherung und Verbreitung seines Werks widmen. Henze schwebte eine kleine Villa Massimo vor. Das war vielleicht ein bisschen blauäugig, aber es war sein Traum. Und er hat selber ja auch so gearbeitet. Vor der Uraufführung von El Cimarrón (1970) hatte er eine Art Künstler-WG eingerichtet: Er hat alle Beteiligten am Stück eingeladen, in seiner Villa zu wohnen, dort zu proben und das Stück zu erarbeiten. So in der Art hat er sich das vorgestellt. Aber über die Kosten hat er sich keine Gedanken gemacht. Implizit steht in der Satzung, dass die Villa hätte verkauft werden müssen…

… weil ein Unterhalt des Hauses aus dem Stiftungsvermögen dem Stiftungszweck zuwiderläuft?

Genau, denn um die Villa ordentlich zu erhalten, muss man um die 150.000 Euro im Jahr aufwenden. Ich habe dann, um die Stiftung nicht zu sehr zu belasten, von meinem eigenen Geld viel reingebuttert, so dass es vor der Stiftungsaufsichtsbehörde darstellbar war. Aber letztlich war es zu teuer, es stehen ja auch Renovierungen an. Da muss man viel Geld in die Hand nehmen.

Garten und Olivenbäume von ›La Leprara‹ • Fotos © Dominik Mattner (links), © Michael Kerstan (rechts)

Wie haben Sie das die letzten sieben Jahre gemacht?

Wir haben uns den Unterhalt des Hauses geteilt, die Stiftung hat die Hälfte gezahlt, ich die andere. Ich habe dort gelebt, überwiegend. Es gab auch noch Vermögen von Hans Werner Henze, das haben wir verwendet, und Einnahmen aus Tantiemen, die fallen aber seit anderthalb Jahren alle weg. Sieben Opern- und Ballettpremieren sind wegen Corona abgesagt worden, mit den Aufführungen zusammen sind das schnell 140.000 Euro. Das hat den finanziellen Engpass noch verstärkt. 

Sie haben sich jahrelang vergeblich darum bemüht, einen Träger für das Haus zu finden. Warum hat das nicht geklappt?

Ich hatte gedacht, es müsste doch verstanden werden, dass die Villa von Hans Werner Henze ein Kulturdenkmal erster Güte ist und zwar aus deutscher und europäischer Sicht. Die Villa hat in ihrer Geschichte unglaublich viele Künstler aus der ganzen Welt beherbergt, Komponist:innen wie Luciano Berio, Tania León, Mark-Anthony Turnage, zuletzt war auch Helmut Lachenmann zu Gast; Musiker:innen wie Leo Brouwer, Simone Young oder Kurt Masur, Theaterleute wie Judith Malina, Schriftsteller:innen wie Ingeborg Bachmann oder Edward Bond. Das Haus war voller Gemälde und Skulpturen von Künstlerinnen und Künstlern der ganzen Welt, wie Hans Arp, Yoichi Ohira, Renzo Vespignani, Eduardo Arroyo, Titina Maselli, Bice Brighetto, Manuel Mendive, Hector Escobar, Carl Timner oder Bernhard Lehmann – viele von ihnen waren zu Gast auf ›La Leprara‹ und haben ihre Spuren hinterlassen, insgesamt weit über 230 Objekte, die ich nun eingelagert habe für eine mögliche Dauerausstellung in einem Museum. Das Haus war ein Ausdruck von gelebter internationaler Freundschaft. Ich habe mir eingebildet, das sei als kulturelles Denkmal von Interesse, aber da habe ich mich geirrt. 

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Wie liefen denn Ihre Gespräche diesbezüglich?

Ich war vorstellig im Bundeskanzleramt, beim damaligen Kulturstaatsminister Neumann. Da hat mich Günter Winands empfangen, Neumanns Mann fürs Grobe, der meinte, es gibt kein Interesse, es gäbe ja schließlich schon die Bibliotheca Hertziana in Rom, die man unterhalten müsse und das genüge. Ich konnte nicht vermitteln, dass die Hertziana wichtig ist, aber ein kunsthistorisches Institut, das sich mit Renaissance und Barock beschäftigt, während es im Falle von Hans Werner Henzes Villa um zeitgenössische Musik geht. Das war nicht vermittelbar. Seine Nachfolgerin Monika Grütters hat mir geschrieben, sie kenne den Vorgang und habe dem nichts hinzuzufügen. Die hat überhaupt kein Interesse gehabt, sich mit dem Thema zu beschäftigen, was inhaltlich und psychisch eigentlich ein Offenbarungseid ist. Ich habe mich dann in Italien ans Kultusministerium gewandt, das mich wiederum an die Fondo Ambiente Italiano verwiesen hat, eine Stiftung für Denkmalpflege. Die hätten die Villa sogar genommen, allerdings nur gratis. Ich kann aber aus der Stiftung keine Häuser verschenken. Dann gibt es Privatstiftungen wie die Siemens-Stiftung oder die Paul-Sacher-Stiftung in Basel, wo die ganzen Manuskripte von Hans Werner Henze liegen. Die dürfen aber laut Stiftungssatzung keine Immobilien erwerben. Ich war in Südkorea bei der Kumho Asiana Kulturstiftung. Die suchen sogar Immobilien in Europa, wo junge koreanische Studentinnen und Studenten europäische Kultur kennenlernen können. Die sagten mir, sie würden überall in Europa suchen, aber an Italien hätten sie kein Interesse, das sei ihnen politisch zu instabil. Hans-Joachim Wagner, der bei der Kulturstiftung NRW Leiter der Musikabteilung war, hat sogar einen Bericht ans Außenministerium geschrieben, ebenso Susanne Wasum-Rainer, die ehemalige deutsche Botschafterin in Rom, dass es unbedingt zu erhalten sei. Aber offenbar sitzt dort an entscheidender Stelle ein Herr, der zeitgenössische Musik für Gequietsche hält. Damit war auch dieser Weg blockiert.

Wie und warum ist Henze nach Italien gekommen? Er selbst hat es mal als ›Nachhausekommen‹ bezeichnet, mal als Flucht vor der restaurativen Adenauer-Zeit und den Anfeindungen der Darmstädter Schule. 

Es sind viele Faktoren – die, die Sie ansprechen, stimmen alle. Er hatte 1952 mit seiner ersten Oper Boulevard Solitude so einen Erfolg, dass er jeden festen Arbeitsplatz aufgeben konnte und die Freiheit hatte, hinzugehen wo er wollte. Er ist durch die Vermittlung des Malers Werner Gilles nach Ischia gekommen, und hat dort spontan drei Jahre gelebt, teilweise mit Ingeborg Bachmann zusammen, ist dann nach Neapel gezogen. Er hat überlegt, ob er nochmal zurückkehrt nach Deutschland. Aber er blieb fünf Jahre in Neapel, ist dann nach Rom umgezogen, dann nach Castel Gandolfo, und dann war klar, dass er in Italien bleiben will. Er war fasziniert von dem Land, dem Licht, der Kultur, das ist die eine Seite. Die andere ist, dass damals in der Restaurationszeit der Adenauer-Ära Homosexualität in Deutschland kriminalisiert wurde. In Italien zwar auch, aber in Neapel zum Beispiel nicht. Neapel war damals in den 50er Jahren die kosmopolitischste Stadt Italiens, Ischia war Zufluchtsort für viele schwule Künstler aus der ganzen Welt, Auden lebte dort, Visconti, Capote, Schriftsteller, Komponisten, Filmleute, Choreographen. Ein anderer Grund war, dass 1955 die Bundeswehr gegründet wurde, und Hans Werner Henzes Jahrgang 1926 wäre der erste Jahrgang gewesen, der im Zweiten Weltkrieg noch zum Kriegsdienst eingezogen worden war und dann noch hätte Wehrdienst ableisten müssen. Er war aber Pazifist, er wollte nie wieder Dienst an der Waffe leisten. Dann die Sache mit der Darmstädter Schule, mit dem neuen Dogma nach dem Krieg. Er sagte immer: ›Wir haben uns nicht vom Faschismus befreien lassen, um wieder anderen Leuten zu gehorchen und zu unterwerfen.‹ Er hat ja für kurze Zeit streng seriell komponiert, aber es hat ihm nicht gereicht, es fehlte ihm noch etwas. Das hat er in Italien gefunden. Die Suche nach Schönheit, die nicht rückwärts gewandt, sondern offen nach vorne gerichtet war.

Fotos © Dominik Mattner

Wie hat er in seinem Haus gearbeitet, wie sah sein Tagesablauf aus?  Gibt es diesbezüglich eine typische Szene, die Sie besonders in Erinnerung behalten werden?

Hans Werner Henze hat das Haus gemeinsam mit einem Architekten so entworfen, dass er seine Vorstellungen von Arbeiten und Entspannen, von Rückzug und Geselligkeit darin ausleben konnte. Das bedeutete, er benötigte einen großen, zentralen Raum, in dem sich alle begegneten, die in dem Haus ständig oder zeitweilig wohnten, und der hoch genug sein musste, um als perfekter Konzertsaal dienen zu können. Wichtig waren die Apartments für seinen Lebensgefährten Fausto Moroni, für einen Gast, mit einem kleinen Studio, damit der Gast dort auch für längere Zeit arbeiten konnte, für einen Assistenten und für sich selber. Sein eigenes Studio hat er nach Nordwesten ausgerichtet, so dass er während der Arbeit nie direkter Sonnenstrahlung ausgesetzt war, vom Fenster aus aber einen Blick über ganz Rom und bis in die Sabiner Berge hatte. Dort sind ab 1966, also nach den Bassariden, alle seine Werke entstanden. Er stand üblicherweise um 6:00 Uhr früh auf und hatte bis zum Frühstück um 9:00 Uhr schon drei Stunden komponiert. Diese frühen Morgenstunden waren für ihn die wichtigste Arbeitszeit am Tag. Von 11:00 bis 13:00 Uhr komponierte er ebenfalls, und nach einer langen Mittagspause erledigte er von 17:00 bis 20:00 Uhr Korrespondenz oder Telefongespräche. Die im engen Sinne ›musikalischen Inventionen‹ entstanden, besonders in den späteren Jahren, überwiegend bei zunehmendem Mond, und in dieser Zeitspanne war er kaum gesprächig. Bei abnehmendem Mond instrumentierte er dann idealerweise das Entstandene und war am Abend gesellig, zugewandt und neugierig. Manchmal sah man ihn im Garten spazieren gehen, und er dirigierte vor sich hin – da war gerade im Kopf etwas Neues im Entstehen begriffen, und gelegentlich hatte er es dann eilig, an den Schreibtisch zu gelangen. Ich erinnere mich auch an eine Ferienreise mit ihm, wir hatten ein Hotel bezogen, und er hatte nichts Eiligeres zu tun, als die Fensterläden zu schließen, die Lampen anzuschalten und sofort zu notieren, was ihm während der Reise ›zugeflogen‹ war.

Bei welchen Stücken von Hans Werner Henze würden Sie sich wünschen, dass sie öfter aufgeführt würden, weil sie unterschätzt oder immer noch falsch verstanden werden?

Seine Oper L’Upupa und der Triumph der Sohnesliebe, die 2003 in Salzburg uraufgeführt worden ist, hat bisher drei Produktionen erfahren. Das Libretto hat er selbst geschrieben, es ist ein arabisches Märchen. Er hat zehn Jahre lang die Winter auf der Insel Lamu vor der kenianischen Küste verbracht, die arabisch geprägt ist, und vieles vom Inselleben – Charaktere, Tierwelt, Ortsnamen – taucht, wenn auch verwandelt, in der Oper wieder auf.  Die drei Inszenierungen in Salzburg, Hamburg und Dresden haben das Märchenhafte herausgearbeitet, sodass die Leute glauben, es sei ein harmloses Märchen, mit dem er politisch hinter sich selber zurückbleibt. Er preist in dieser Oper den Islam als Religion der Weisheit und Güte, zwei Jahre nach dem 11. September, in einer Zeit, in der Islambashing auf der ganzen Welt populär geworden war. Es hat noch nie jemand auch nur im Traum daran gedacht, diesen politischen Schatz zu bergen und die Explosionskraft, die in dem Stück liegt, herauszuarbeiten. Das wäre dringend nötig, es ist ein komplett unterschätztes Stück. Auch seine Anti-Kriegsoper Wir erreichen den Fluss (1976) wird viel zu selten aufgeführt, weil die sehr aufwendig ist. Ein Repertoirehaus kann die eigentlich nur zum Spielzeitanfang machen, weil sie viele Kräfte bindet. Bei den Sinfonien wird die die Neunte viel zu selten aufgeführt, sein anti-faschistisches Bekenntniswerk von 1997 – als alle Leute schon schrieben: ›Ja, sein Alterswerk, es ist nicht mehr politisch‹, und dann kommt dieses Stück raus, zu einem Text aus Anna Seghers’ Roman Das siebte Kreuz. Aber im Großen und Ganzen werden die Werke gut gespielt. Phaedra hat seit der Uraufführung 2007 mittlerweile zehn Produktion gehabt, Elegie für junge Liebende von 1961 über 80 Inszenierungen, seine Kinderoper Pollicino (1980) weit über 1.000 Aufführungen. 

Wie haben Sie Hans Werner Henze kennengelernt, wie entwickelte sich Ihre Beziehung zu ihm?

Ich war von 1983 bis 1990 sein Assistent. Es war eine ganz enge Freundschaft, die ich zu ihm hatte, sehr liebevoll und sehr empathisch, von seiner und meiner Seite aus. Sein Lebensgefährte Fausto Moroni rief mich dann 2005 an, als Henze zum ersten Mal im Sterben lag: ›Wenn du ihn nochmal lebend sehen willst, dann komm sofort.‹ Ich bin im Oktober 2005 hingeflogen, aber er erholte sich nochmal. Ich habe mich dann um ihn gekümmert. Als Fausto im April 2007 starb, habe ich dem Hans versprochen: ›Okay ich bleibe, ich ziehe mir den Schuh an und kümmere mich um dich, solange du lebst‹, und war dann ab 2007 sein Lebensgefährte. Eine sexuelle Liebesbeziehung war es nicht, ich war nicht der Nachfolger von Fausto. Ich habe mich um ihn gekümmert. Das waren dann noch sieben Jahre, die einerseits sehr anstrengend waren, aber gleichzeitig unglaublich schön. Ich habe nochmal so viel gelernt von ihm über Musik, Theater, das Leben und die Welt, dafür bin ich ewig dankbar. Es war eine Aufgabe, die sieben Tage die Woche jeweils 24 Stunden beansprucht hat. Er hat ja unter Parkinson gelitten und hatte Rückenprobleme, er konnte alleine nicht gehen. Ich habe ihn überall hin begleitet. Dadurch konnte er noch viele Reisen machen, nach London, Stockholm, Berlin, Rom, Florenz, Spoleto, Barcelona… Das hätte er alles nicht gekonnt ohne mich. Er war mir dankbar, und ich war ihm dankbar, und bin es noch. Mit dem Kapitel Marino habe ich abgeschlossen, mit Hans Werner Henze möchte und werde ich nie abschließen. ¶

... ist Herausgeber von VAN. Er studierte Development Studies, Ethnologie und Asienwissenschaften in Berlin, Seoul, Edinburgh und an der London School of Economics und arbeitete im Anschluss zehn Jahre als Berater in Projekten der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. 2014 gründete er mit Ingmar Bornholz den VAN Verlag, wo er auch als Geschäftsführer fungiert. hartmut@van-verlag.com

2 Antworten auf “»Mit dem Kapitel Marino habe ich abgeschlossen, mit Hans Werner Henze möchte ich nie abschließen.«“

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