Vor fünf Jahren hat der Pianist Martin Helmchen gemacht, was viele planen ohne es dann umzusetzen: Er ist mit seiner sechsköpfigen Familie nach Brandenburg in die Nähe von Luckau gezogen, auf halber Strecke zwischen Berlin und Dresden, wo Helmchens Frau, die Cellistin Marie-Elisabeth Hecker, eine Professur an der Musikhochschule Carl Maria von Weber innehat. Er konzentriere sich in diesen Jahren auf die Familie und aufs Üben, den Klassikzirkus verfolge er eher aus der Entfernung, erzählt er im Gespräch. Das passt auch ganz gut zu Helmchens Verortung im Klassikbetrieb – als einer der besten und international gefragtesten Pianisten seiner Generation, der gleichzeitig einige Eitelkeiten der Szene locker auslässt. Gesucht ist Helmchen als Kammermusikpartner wie als Solist: Mit Frank Peter Zimmermann nimmt er derzeit alle Violinsonaten Beethovens auf, die zweite CD mit den Sonaten 5 bis 7 ist gerade erschienen. Mit Andrew Manze und dem Deutschen-Symphonieorchester Berlin hat er letztes Jahr die Aufnahme aller Klavierkonzerte Beethovens abgeschlossen. Hartmut Welscher hat Helmchen per Videoanruf in der Niederlausitz erreicht und mit dem 39-Jährigen über Authentizitätsposen, die russische Klavierschule und sein Engagement in Ruanda gesprochen.

VAN: Sind Sie traurig, dass das Beethoven-Jahr 2020 ausgefallen ist?

Martin Helmchen: Nein, ich habe mich ohnehin nicht wahnsinnig drauf gefreut, weil eh immer viel Beethoven gespielt wird und ich auch immer viel Beethoven spiele. Im Moment verfolge ich das Konzertleben sowieso relativ wenig. Wir haben mittlerweile vier Töchter, sind vor fünf Jahren hier aufs Land gezogen. Diese Jahre sind Familienjahre. Aus dem Zirkus, auch als Beobachter und genießender Zuhörer, bin ich gerade noch mehr raus als sonst. Deshalb kann ich nicht sagen, dass mich das emotional irgendwie tangiert hätte. 

Wir haben letztes Jahr ein Ranking mit Beethovens schlechtesten Werken veröffentlicht.

Oh, da gibt es viel Konkurrenz.

Welches würden Sie beisteuern?

Es gibt viele Gebrauchsstücke, bei denen klar ist, dass er damit die Zeit überbrücken wollte. Die Stücke direkt vor und nach der Hammerklaviersonate, Op. 105 und Op. 107, sind auf jeden Fall gute Kandidaten. Die hat er offensichtlich geschrieben, um für die Hammerklaviersonate den Kopf frei zu behalten.

Der Dirigent Franz Welser-Möst hat gerade in einem Interview gesagt, dass ›CDs nichts als PR-Maßnahmen sind, für die jemand anderes bezahlt‹…

… schön wärs, vielleicht wenn man Franz Welser-Möst ist. Das finde ich etwas verkürzt.

Was sind Aufnahmen denn für Sie?

Natürlich sind sie karrieretechnisch wichtig, aber ich würde das nicht auf PR reduzieren. Aufnahmen sind auch künstlerisch ein wertvoller Prozess. Es geht darum, einen Zwischenstand zu dokumentieren: So weit komme ich jetzt bei diesem Werk. Ich kann dem Stück auf eine Weise gerecht werden, dass ich es dokumentieren kann. Ich merke, dass bei Stücken, die ich aufgenommen habe, der Grad der Verinnerlichung ein viel höherer ist. 

Mit CD-Aufnahmen verdient kaum ein Künstler etwas, im Gegenteil, die meisten müssen draufzahlen. Können Sie auf der anderen Seite beziffern, wie viel beim Streaming bisher rumgekommen ist?

Ich glaube nicht, dass dabei in meinem Fall überhaupt was rumkommt.

Aber es gibt zum Beispiel fast 5,8 Millionen Aufrufe einer Aufnahme von Schuberts C-Dur Fantasie mit Julia Fischer

(verwundert) Ah ja?

Irgendwas muss doch davon auf Ihrem Konto landen? Ein paar Cent …?

Ich glaube nicht. Das würde ich mitkriegen, wenn ich davon Einnahmen hätte.

Sie haben kürzlich in einem Interview gesagt: ›Ich versuche, nicht das zu machen, was Eindruck schindet, sondern was wahr ist.‹ Was meinen Sie denn mit ›wahr‹? 

Dass man Sachen macht – in der Musik, als Interpret – um ihrer selbst willen, als Selbstzweck, nicht um eigentlich was Anderes zu machen. Ich sehe das sehr viel und es stört mich wahnsinnig, schon mein Leben lang, wenn Leute Dinge tun, um damit eigentlich etwas Anderes zu tun. Ich merke, wie ich immer wieder drauf anspringe, gar nicht idealistisch sondern emotional. Meine Konzerterlebnisse teilen sich hauptsächlich in diese beiden Kategorien: Habe ich das Gefühl, da berührt mich jemand als Mensch, mit etwas, das er vermitteln will in dem Moment, oder möchte jemand etwas abziehen, beweisen, wieder eingeladen werden, mich beeindrucken, oder seinen Lehrer, der im Publikum sitzt?

Woran merken Sie das?

Ich könnte das gar nicht verbalisieren oder objektive Kriterien dafür benennen, das ist eher so eine Art sechster Sinn, den wir als Künstler alle irgendwie brauchen. Ich bin mir auch sicher, dass mein Gefühl nicht immer stimmt. 

Gleichzeitig ist ›Authentizität‹ ja gerade in der Klassik ein inflationär affirmierter Begriff. Jeder nimmt für sich in Anspruch, besonders authentisch zu sein. 

Ich fand den Begriff authentisch eigentlich gut, bis Harald Schmidt den einmal so überzeugend gebashed hat, dass ich mich jetzt immer schlecht fühle, wenn ich ihn benutze … 

Nervt es sie, dass der Mensch an sich – der Musikrezipient, vielleicht auch die Musikkritikerin – relativ verführbar ist von Authentizitätsposen?

Ja, natürlich, es ist sehr oft frustrierend. Aber andererseits kann es ein beglückendes, sehr verbindendes Erlebnis sein, wenn zum Beispiel jemand in einer unspektakulären Interpretation etwas hört, was man auch gehört hat, was sich wirklich nicht aufdrängt. 

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Haben Sie sich zu Anfang Ihrer Karriere viel damit beschäftigt, welche Körpersprache wie rüberkommt?

Höchstens in dem Sinne, dass ich mir manchmal überlegt habe, was optisch eine Unterstützung dessen sein könnte, was ich gerade tue: Ist diese Armbewegung für einen Oktavsprung nötig? Welche Sachen gewöhne ich mir an, die einfach für mich als ganzheitliches Körpergefühl schön sind, die ein Minimalist vielleicht schon als Pose empfinden könnte? Gerade als Pianist macht man viele Bewegungen, die nicht nötig sind. Das Klavier ist so einfach zu spielen, dass man sich allerlei Bewegungen angewöhnt, die nicht direkt der Tonerzeugung dienen. Man kann auf sehr viele unterschiedliche Arten Klavier spielen, während man zum Beispiel als Cellistin viel fokussierter und effizienter in seinen Bewegungen sein muss. 

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Sie entstammen der so genannten ›russischen Klavierschule‹, Ihre Lehrerin Galina Iwanzowa hat selbst noch bei Heinrich Neuhaus studiert. Gibt’s die eigentlich heute noch, oder lösen sich solche Schulen immer mehr auf? 

Schwierig zu sagen, natürlich durchmischt und globalisiert sich vieles. Aber ich habe schon vor 20 Jahren gedacht, dass es sich auflöst. Auch im Studium wurde damals schon gesagt: ›Schön, wenn man hier und da noch merkt, dass es eine russische Schule gibt.‹ Letztes Jahr war ich dann das erste Mal in der Jury eines Wettbewerbs. Da habe ich gemerkt, dass ich das bei vielen junge Pianisten aus dem osteuropäischen Raum erkenne, das fand ich toll: Diese körperlich ganzheitliche Herangehensweise an Klangproduktion, dass es nicht nur als Gedanke im Kopf entsteht, sondern der Körper lernt, es von sich aus zu machen und voll in diesen Musikmachprozess eingebunden ist, auch dieses klischeehafte Kreisen der Armen, was eine tatsächliche Wirkung auf ›den Apparat‹ hat … Das sehe ich immer noch, und auch, dass es immer noch wahnsinnig gut funktioniert. Junge Pianisten, die ihre erste Ausbildung als Kinder oder Teenager in Osteuropa oder Russland gekriegt haben, haben auch technisch ein unglaublich viel höheres Niveau als hier im Westen. Ich freue mich drüber, dass ich das weiterhin beobachten kann.

Allerdings spielen Sie relativ wenig russisches Repertoire. Woran liegt das?

Ich bin da so reingerutscht. Das russische Repertoire habe ich sehr intensiv gelernt und unheimlich viel gespielt in den Teenager-Jahren. Da dachte ich irgendwann, ich wüsste, wie es geht. Bei der Wiener Klassik, auch bei Bach, habe ich das Gefühl, dass es eine Reise ist, für die ein Leben gar nicht ausreicht, um da durchzukommen, dass es dauernd stilistische Entwicklungen gibt, auch bei mir selber, neue Lösungen. Bei Bachs Sechs Partiten, meinem nächsten Aufnahmeprojekt, stelle ich jetzt gerade zum Beispiel wieder alles, was ich jemals gemacht habe, komplett auf den Kopf. Ich lerne es wie jemand, der das erste Mal das Buch aufmacht. Ich habe aufgehört, mit Pedal zu spielen, was auch technisch viele Anpassungen nötig macht, tausche mich viel mit Cembalisten aus, habe mir die gleiche Musik in verschiedenen Besetzungen angehört, wenn es sie gibt, schaue, wo die Unterschiede sind. Das ist ein Fass ohne Boden. Ich finde das eine tolle Reihenfolge, erstmal mit diesem Apparatus, wie die Russen sagen, völlig umgehen zu lernen, um es dann auf alles mögliche anwenden zu können. Auf jeden Fall sehr viel besser als umgekehrt.

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Sie haben ein Musikprojekt in Ruanda mitinitiiert. Warum dort, und nicht in der Niederlausitz oder Berlin-Tempelhof? 

Das fing an mit einer Konzertkrise meiner Frau, die den starken Wunsch verspürte, irgendwo hinzugehen, wo Musik viel grundlegender verstanden wird als in der Hochkulturblase, in der wir sind. Es war also von Anfang an auch ein Projekt für uns. Freunde von uns hatten Kontakte zu einer Musikschule in Ruanda, die von Leuten vor Ort geleitet wird. Das war uns wichtig, dass nicht weiße westliche Menschen dort hinkommen und erstmal sagen, was ›anständige Musik‹ ist, und danach, wie man so eine Musikschule aufbaut, sondern dass es Leute aus dem Ort sind, die die Schule leiten und dort sowohl europäische klassische Musik als auch afrikanische Musik und Tanz im gleichen Gebäude unterrichten.

Ruanda gehörte zur deutschen Kolonie Deutsch-Ostafrika. Dort fand unter anderem von 1905 bis 1907 der Maji-Maji-Krieg im heutigen Tansania statt, in dem mehrere Hunderttausend Afrikaner ermordet wurden oder verhungerten. Klassischer Musik kam in der Mission, im Bildungswesen und im Militär tragende Bedeutung zu. Damit sollten ›die Völker zivilisiert‹ und auf eine ›höhere Entwicklungsstufe‹ gehoben werden. Wie problematisch ist es da, als Deutscher heute nach Ruanda zu kommen und unter anderem westliche Kirchenmusik zu lehren?

Weil die Initiative der Leute vor Ort so stark ist, können wir dort hingehen und aufnehmen, was an Begeisterung und Interesse da ist. Wir müssen nichts von oben missionarisch reinbringen, was nicht schon da wäre. Das ist das Tolle. Das ist eine gewachsene Institution, die die Leute vor Ort weitertragen. Das Überlegene, hochkulturell und kolonialistisch Missbrauchte nehmen wir – und wir versuchen da, sehr sensibel zu sein – eigentlich nicht wahr. Das hat sich sehr natürlich angefühlt. Auch der Aspekt, dass gleichzeitig die traditionelle Musik zusammen in denselben Veranstaltungen im gleichen Gebäude praktiziert wird. Die ist zum Teil fast ausgestorben, weil viele der Leute, die das konnten, im Genozid ermordet wurden und die jungen Leute andere Probleme hatten und sich dafür nicht besonders interessiert haben. Dadurch kommt das Gefälle unserem Empfinden nach nicht auf. 

Sie haben das Wort ›missionarisch‹ gebraucht. Sie arbeiten in ihrem Projekt zusammen mit der christlichen Missionsbewegung ›Campus für Christus‹. Kolonialismus und Mission war eine in vielerlei Hinsicht symbiotische Beziehung. Die Missionsgesellschaften hatten auch einen wichtigen Anteil an der Verbreitung rassistischer Darstellungen, die den Kolonisierungsprozess maßgeblich legitimierten. 

Das christliche Künstlernetzwerk Crescendo, dem wir persönlich verbunden sind, und das unsere Schweizer Freunde und Ruanda-Partner leiten, steht formell unter diesem ›Campus für Christus‹-Dach. Ich stehe dieser Organisation durchaus kritisch gegenüber. Davon abgesehen sind wir dankbar, dass es neben der Musik eine gemeinsame Sprache auch im christlichen Vokabular gibt. Fast alle dort haben eine Kirchenanbindung. Das empfinden wir überhaupt nicht als hinderlich, sondern eher förderlich. Von Anfang an war klar: Wir lernen genau so viel von dort, wie die von uns. Man geht  ein Stück gemeinsamen Weg und teilt musikalische Begeisterung. Wenn dann noch Begeisterung für christliche Ausdrucksformen dazu kommt, ist das auch schön. Mein Wunsch wäre eher, irgendwie zu vermitteln, dass alles, was jahrhundertelang falsch gelaufen ist mit Mission, sich in eine andere Richtung entwickeln kann. 

Kann man Missionierung, erst Recht in einem postkolonialen Kontext, nicht ganz sein lassen, weil die Grundhaltung des Missionierenden, man selbst habe ›die Wahrheit‹ gefunden und will andere dazu bekehren, immer auch eine gewalttätige ist?  

Ein solches Verständnis von Mission und Missionierung sollte man auf jeden Fall ganz sein lassen, jetzt und am besten für alle Zeiten. Das hat in der Geschichte an vielen verschiedenen Orten zu vielen verschiedenen Zeiten viel kaputt gemacht. Man kann allerdings Mission auch völlig anders verstehen, nämlich als das Teilen einer wunderbaren Sache, jemand anders teilhaben lassen an etwas, wovon man inspiriert und vielleicht getragen ist, ohne den geringsten Anspruch auf Überlegenheit. Wenn ich inzwischen Mission höre, denke ich eher an die Missionare, über die Navid Kermani in seiner Friedenspreisrede gesprochen hat, für die er dort gebetet hat, und die die großen Helden dieser Rede waren. Und nicht an das, was leider in unserer unrühmlichen Kirchengeschichte oft als Mission verstanden wurde, was aber weder irgendwas mit dem Christentum zu tun hat – nicht nur, wenn die Grenze zur Gewalt überschritten wird, schon weit vorher –, noch irgendetwas zu Kultur und Völkerverständigung beigetragen hat. 

Als Sie noch in Berlin wohnten, waren Sie aktiv im Berlinprojekt, in dem ›die alten Grundlagen des christlichen Glaubens in den Berliner Alltag übersetzt werden sollen‹: die Auflösung gottesdienstlicher Rituale, die Betonung von Erlebnis und Emotionalität, Gottesdienst im Kino statt in der Kirche, eine betont lockere Ansprache, zeitgeistige Ästhetik. Würden Sie das gerne auf die Klassikkultur übertragen?

Es spricht überhaupt nichts dagegen, solange man nicht in die Oberflächlichkeit abdriftet und nur noch kleine Ausschnitte von dem, worum es geht, vermittelt, sondern wenn man es schafft, dass sich Leute in einer gewissen Tiefe auf etwas einlassen. Ich finde es kurios, dass es Kirchen gibt, die da kreativere Lösungen finden als der Klassikbetrieb. Was spricht denn dagegen, viel radikaler andere Konzertformen zu finden? Ich fände es eher beschämend, wenn man sagt, selbst die Kirchen sind weiter, moderner, kreativer als die Klassikkultur.  

Und als Musiker blutet Ihnen nicht das Herz, wenn Sie Bibelpop hören?

Doch, ein bisschen. Aber selbst den kann man auf ein Niveau bringen, dass es ein bisschen weniger schmerzt.

... ist Herausgeber von VAN. Er studierte Development Studies, Ethnologie und Asienwissenschaften in Berlin, Seoul, Edinburgh und an der London School of Economics und arbeitete im Anschluss zehn Jahre als Berater in Projekten der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. 2014 gründete er mit Ingmar Bornholz den VAN Verlag, wo er auch als Geschäftsführer fungiert. hartmut@van-verlag.com