Der Hangar I auf dem Flughafen Berlin Tempelhof ist fast so groß wie ein Fußballfeld. Durchs Nadelöhr einer kleinen Seitentür, barbierosa ausgeleuchtet, sickert das Publikum ein, was einen gut gelaunten, kleinen Stau erzeugt. »Viel Spaß!« wünschen die  Kartenabreißerinnen jedem, den sie passieren lassen. Was in keinem Verhältnis zu dem steht, was der Programmzettel verspricht.

Dort steht zu lesen, dass »4 Tote« und »13 Sterbende« mitspielen. Die Hauptfiguren heißen »La Mort« und »Charon«. Zwar werden auch »14 Lebende« namentlich aufgeführt, wohl, weil sie, als Chormitglieder, ein kleines Solo zu singen haben. Aber auch sie setzen später auf die andere Seite über, ins Totenreich. Alles tot am Ende in Hans Werner Henzes politischem Oratorium. Denn sein Floß der Medusa ist ein Schocker, ein Schreckensstück. Es erzählt die wahre Geschichte einer fahrlässigen, freilich auch systemimmanenten Tragödie oder vielmehr Massenhinrichtung, die sich 1816 ereignete, zu einer Zeit, als der Bourbonenkönig Louis XVIII, Bruder des guillotinierten Louis Capet, gerade für kurze Zeit auf den französischen Thron zurückgekehrt war. 

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Vier französische Militärschiffe waren unterwegs, um den neuen Gouverneur der Kolonie im Senegal zu begleiten, der samt Familie, Gefolge, Gold und etlichen Soldaten und Kanonen an Bord des größten Schiffs reiste. Diese Fregatte namens Méduse verirrte sich und lief auf eine Sandbank auf, was der Unfähigkeit des adligen Kapitäns geschuldet war, der jahrzehntelang kein Schiff mehr geführt hatte. Die Personen von Stand bestiegen die sechs Rettungsboote und machten sich davon.

1. Teil, VII. Die Ausschiffung, Aufnahme aus dem Hangar I

Die restliche Besatzung, Soldaten und Schiffsleute, zwischen 147 und 152 Menschen, versuchte ihr Glück mit dem Bau eines Floßes, aus den Medusa-Planken und -Masten. Als das 12 Tage später auf offenem Meer von der Brigg Argus entdeckt und geborgen wurde, waren nur noch 10 Überlebende nebst 5 Sterbenden übrig. Alle anderen waren ertrunken, verdurstet, wahnsinnig geworden oder hatten einander umgebracht. Es kam auf dem Floß nachweislich auch zu Kannibalismus. 

Foto © Jaro Suffner

Ins kulturelle Gedächtnis hat sich all das eingebrannt dank eines Ölschinkens von Theódore Géricault, Le Radeau de la Méduse von 1819, auf dem sich so pittoresk und realistisch Leichen türmen, dass man einfach nicht weggucken kann. Dieses Horror-Bild hängt heute im Louvre, im gleichen Saal wie La Liberté Guidant le Peuple von Delacroix von 1830. Auf beiden blähen sich heroisch die Fahnen unter stürmischem Wolkenhimmel, und beides gehört zusammen, denn der Skandal, den der gerichtsnotorische Fall der Medusa-Schiffbrüchigen verursachte, war nur der erste Nagel im Sarg des Premier Empire, von den Zeitgenossen aufgefasst als eine »allégorie reelle« auf das marode, zum Untergang bestimmte Staatsschiff.

Le Radeau de la Méduse und La Liberté Guidant le Peuple • Beide Bilder Public Domain

Die Frage, ob sich das Grauen der Realität durch Ästhetisierung bannen lässt, ist damit nicht beantwortet. Géricaults grandioses Bild steht nach wie vor unter Kitschverdacht. Und das gilt auch für die faszinierend großformatige, zwölftönige Musik, die Henze für sein Floß der Medusa schrieb: für die gewaltigen Turbachöre mit eingeflochtenem Bach-Zitat, für die pianissimo geraunten, streicherwattierten Kantilenen derer, die bereits gestorben sind, und für die kämpferisch blechgepanzerten Diskurse derer, die sich wehren und nicht sterben wollen. Erst recht gilt es für die mit Zitaten von Dante bis Blaise Pascal ausstaffierten Texte seines Librettisten Ernst Schnabel. Einerseits hielten sich beide eng an die historische Quelle, jenem detaillierten Bericht, den zwei der zehn Überlebenden der Tragödie, ein Arzt und ein Geograph, verfasst hatten.
Andererseits nannten sie ihr Stück »eine Parabel«, um es zu schützen vor dem Vorwurf eines allzu platten Realismus. 

Eine Parabel worauf? Auf das Schicksal einer Mehrheit der Armen und Verfolgten, die seit Jahrhunderten von einer Minderheit der Herrschenden ausgebeutet, unterdrückt und abgeschlachtet wird? Darauf, dass der Zivilisation-Lack nichts weiter ist als eine dünne Schicht aus Hybris und Selbstbetrug, die jederzeit abplatzen und nackte Barbarei offenbaren kann? Oder auf die Sterblichkeit allen Lebens, das verdorrt wie Gras und nur ein Staubkorn ist, lost in the stars?

Schnabel bemühte die antike und die christliche Bilderwelt. Henze, in den Sechzigern vorübergehend mit der außerparlamentarischen Opposition sympathisierend, widmete das Werk Ernesto Che Guevara. Sogar einen Kinderchor und ein atemraubend süßes Knabenduett hat er dazu erfunden, aus dem Liebe und Hoffnung spricht, wozu Schnabel ihm entgegendichtete: »Als erstes starben die Kinder« – und das, obgleich sich auf dem historischen Floß kein einziges Kind befand. Aber ist das überhaupt noch wichtig? 

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Henze, der sein Komponieren schon in jungen Jahren als eine Art Protest gegen die schnöde Wirklichkeit betrieben hatte, glaubte fest an die Macht des Schönen. Er war ein Ästhet. Das spricht aus all seinen Werken, auch aus denen, die, anders als das Floß, keine effektvollen Reißer und kein vielgespieltes Repertoirestück sind. Zuletzt war es in Amsterdam inszeniert worden von Romeo Castellucci sowie bei der Ruhrtriennale von Kornél Mundruczó. Beide Regisseure haben es nicht versäumt, die Aktualisierungskarte zu zücken und die Bühne auszustatten mit Filmsequenzen heutiger Mittelmeer-Querungen. Das wirkte wie traurige Hilflosigkeit, angesichts der Tatsache, dass die mehr als zehntausend Migranten, deren Ertrinken billigend in Kauf genommen wurde in den letzten Jahren, in keinem Verhältnis stehen zum »Medusa«-Fall (bei dem den Verantwortlichen jedenfalls noch der Prozeß gemacht wurde). Auch spottet der Zynismus, mit dem heute fast alle politischen Parteien über die Lampedusa-Quote und den Einsatz von Militär diskutieren, jeder Beschreibung. Nicht zuletzt deshalb setzt Tobias Kratzer in seiner Berliner Neuinszenierung auf Phantasie und Intelligenz des Publikums. 

Idunnu Münch als Charon • Foto © Jaro Suffner

Er verzichtet auf Parallelen zu Tagesschau-Bildern. Allenfalls könnte man den ersten Auftritt des Fährmanns Charon in feuerwehrrotem Gummiboot und Rettungs-Uniform so auffassen. Aber der ist ja nur neutraler Erzähler, er greift nicht ein. Vorgesehen ist dafür eine sonore männliche Sprechrolle, für die üblicherweise ein prominenter Schauspieler engagiert wird. Auch Peter Stein hat das schon mal absolviert. Hier ist der Fährmann auf dem Totenfluss weiblich: Idunnu Münch, eine Sängerin.

2. Teil: Die neunte Nacht und der Morgen, XII. Motto, Aufnahme aus dem Hangar I

Sie ergänzt die Deklamation durch raffinierte Sprechgesänge, rhythmisch und melodisch variabel, was nicht immer perfekt matcht mit dem Orchester, jedenfalls im ersten Teil, in dem Charon noch viel herumzupaddeln hat, rund ums überbevölkerte Floß. Möglicherweise spielt auch die ansonsten wirklich unauffällige akustische Verstärkung dabei eine ungute Rolle. Es sind ja technisch enorme Distanzen zu überbrücken. Zwei himmelhoch steil ansteigende Publikumstribünen rahmen ein riesiges Becken ein, mit zweihundertvierzigtausend Liter angewärmtem Wasser darin. 

Das Floß, das Rainer Sellmaier erfunden hat, erscheint zwar beeindruckend groß. Wenn es anfangs von allen Seiten gestürmt wird von Chor- und Statistengruppen, entstehen wüste Massenszenen wie in einer Grand Opéra. Aber es setzt sich zusammen aus einzelnen Planken, die verschiebbar und zu Brücken und Stegen formbar sind – was, in der Choreographie von Marguerite Donlon, ebenso atemraubende Einzelaktionen erlaubt. Einmal, als von den Kanarischen Inseln die Rede ist, die von der Méduse passiert werden, feiert die Truppe, unter der hell aus tausend Glühbirnen leuchtenden Himmelssonne, eine jauchzend-bunte Touristenpoolparty.

Foto © Jaro Suffner

Ein andermal kommt es auf einer Mini-Insel zum herzzerreißenden Duett zwischen dem Tod alias »La Mort« und dem Anführer der Floßmannschaft, Jean-Charles. Er (ein heller, gut geführter Bariton: Günter Papendell) ist ihren Loreley-Gesängen so gut wie verfallen, als er aus seinem Fiebertraum gerade noch rechtzeitig erwacht. Sie (eine feine, todsichere Koloratursopranistin: Gloria Rehm) absolviert die schwindelerregenden Königin-der-Nacht-Spitzentöne und ausdrucksstarken Intervallsprünge ihrer Partie, die ursprünglich für Edda Moser komponiert worden war, mit gelassener Eleganz.

Gloria Rehm als »La Mort« und Günter Papendell als Jean-Charles • Foto © Jaro Suffner

Weil »La Mort«, im Glitzerabendkleid, immer nur auf dem Rand des Beckens herumstöckelt, wird sie den Schiffbrüchigen zwar nie wirklich gefährlich. Und doch folgen sie ihr, musikalisch und mental, wie dem Rattenfänger von Hameln. Einer nach der anderen wirft sich ins Wasser, »ertrinkt« und watet »an Land«, wo sie als unsichtbare Tote aus dem Dunkel der Tribünen heraus mitwirken am Sirenengesang, mit italienischen Versen aus dem Purgatorio Dantes. Schließlich, im zweiten Teil des Oratoriums, wenn nur noch wenige auf dem Floß übrig geblieben sind und ein Scheinwerfermond auf den Rängen herumspukt, der immersiv das Publikum ausleuchtet, während selbst Charon sein Boot und den Überblick verloren hat, wird es metaphysisch. Dann wandelt eine Christusgestalt auf den Planken durch das Plantschbecken. 

Der Staats- und Domchor Berlin, erweitert durch das Vocalconsort Berlin, Bewegungs- und Kinderchor, agiert hinreißend präzis. Er wird von Titus Engel souverän geführt, bis hinein in die wild gezackte Schlussfuge. Auch das stark besetzte Orchesterregiment mit all seinen exotischen Farbweiterungen (zwei Harfen, zwei Ophikleiden, Heckelphon, Kuhglocken, Bombardon, Orgel, Wagnertuba) hat Engel sicher und besonnen im Griff. Es grenzt an ein Wunder, dass weder die akustischen Verhältnisse im Hangar noch die Verstärkungstechnik diesen Höreindruck trüben. Am Ende öffnet sich die dem Orchester gegenüber liegende hohe Wand des Hangars, fast geräuschlos. Die große Trommel skandiert den Rhythmus des Ho-Tschi-Minh-Rufs. Der Erzähler erzählt: »Die Überlebenden aber kehrten in die Welt zurück, belehrt von Wirklichkeit, fiebernd, sie umzustürzen.« 

Foto © Jaro Suffner
2. Teil: Die neunte Nacht und der Morgen, XVII. Finale, Aufnahme aus dem Hangar I

Dazu kam es bekanntlich bislang nicht. Und so gehen sie hin, barfuß und folgen dem Flughafen-Fahrzeug, das draußen im Dunkel auf sie wartet. »Follow me« blinkt es. Nur: wohin? Zwar wurde auch tüchtig gejubelt und applaudiert nach der Premiere, minutenlang, wie es sich gehört. Stärker aber war das perplexe Schweigen, davor. Hat nicht lange angehalten, mit diesem Widerspruch muss man leben. ¶

… lernte Geige und Klavier, studierte Musik-, Literatur- und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin, promovierte über frühe Beethoven-Rezeption. Von 1994 bis 1997 Musikredakteurin der Zeit, von 1997 bis 2018 bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Seither wieder freelance unterwegs. Seit 2011 ist Büning Vorsitzende der Jury des Preises der deutschen Schallplattenkritik.