John Adams ist seit dieser Saison Artist in Residence bei den Berliner Philharmonikern. Bereits im Vorfeld habe ich mit ihm am Telefon gesprochen. Ich dachte, ich könnte ihm vielleicht ungefragt ein paar Tipps zur örtlichen Techno-Szene geben. Hört er denn Techno? »Manchmal.«

Berlin hat den Ruf, ein Paradies für Dissidenten zu sein, vor allem für Hacker. Adams’ Name erschien, genau wie der der Filmemacherin Laura Poitras, die bis vor kurzem hier in Berlin lebte, eine Zeit lang auf einer Beobachtungsliste des amerikanischen Heimatschutzministeriums. Adams spielt die Angelegenheit etwas herunter und sagt mir: »Da waren auch einige Senatoren drauf. Das Ganze war eine ziemlich merkwürdige und letztlich unerklärliche Sache. Ein paar Journalisten haben das aufgebauscht.«

»Manchmal werde ich gefragt, ob ich ein politischer Komponist bin«, fährt er fort. »Das ist die falsche Frage. Das Wort ›Politik‹ kommt vom griechischen politikos, was schlichtweg ›Menschen‹ bedeutet. Atombomben, Terrorismus – das sind alles Geschehnisse und Dinge, die sich in der Psyche von Individuen niederschlagen. Opern sind eine Möglichkeit, die Mythologie unserer eigenen Zeit zu erkunden.«

Wenn man einen Blick auf die Stücke wirft, die Adams für seinen Aufenthalt bei den Berliner Philharmonikern komponiert hat, scheint er darin einen bewussten Schwerpunkt auf diesen mythologischen Aspekt seines Werkes gelegt zu haben. Harmonielehre befasst sich ironisch mit der fast schon monolithischen Bedeutung, die der Zwölftonmusik nach dem zweiten Weltkrieg zugesprochen wurde. Aus der Sicht von Adams besteht dieser Mythos heute noch fort: Komponisten, die sich im Umfeld der europäischen Neue Musik-Szene bewegen, etwa Georg Friedrich Haas oder Helmut Lachenmann, gälten immer noch als besonders prestigeträchtig, obwohl ihre Stücke sich nur »quantitativ, nicht qualitativ« von serialistischen Kompositionen, etwa von Pierre Boulez, unterschieden.

miniatur der maria magdalena (1450) • bild NYPL
Miniatur der Maria Magdalena (1450) • Foto NYPL

Adams’ Kantate The Gospel According to the Other Mary (2013) verknüpft Texte aus biblischen Quellen mit moderner Literatur von Autoren wie Dorothy Day oder Primo Levi. Scheherazade No. 2 für Violine und Orchester widmet sich dem Archetyp der Geschichtenerzählerin und reflektiert gleichzeitig die aktuelle Situation von Frauen, die »von religiösen Fanatikern in ein paar Ländern immer wieder angegriffen und teilweise sogar hingerichtet werden.« Eine frühe englische Übersetzung von Tausendundeine Nacht stellt Scheherazades Notlage in einem flachen, repetitiven Stil dar – diese Form eines frühen literarischen Minimalismus’ soll die exotische, mythische Natur der Geschichten wiederspiegeln. Adams’ Komposition dagegen ist virtuos und diskursiv. Er selbst charakterisierte einmal den frühen musikalischen Minimalismus als »keusch und rein«. Genau diesen Eindruck scheint er in seiner Komposition zu vermeiden – aus Zuneigung zum Feminismus?

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JOHN ADAMS, THE GOSPEL ACCORDING TO THE OTHER MARY ; AkT I, SzENE 2: EN UN DÍA DE AMOR YO BAJÉ HASTA LA TIERRA; LOS ANGELES PHILHARMONIC, LOS ANGELES MASTER CHORALE, GUSTAVO DUDAMEL (musikalische leitung)

Seine neue Oper The Girls of the Golden West (Premiere im Herbst an der San Francisco Opera), handelt von der Geschichte des kalifornischen Goldrauschs. Als Adams sich in Bücher zum Thema vertiefte – wie er es für jede seiner Opern getan hat – stieß er mal wieder auf das Thema der Rassenkonflikte. In einer historischen Darstellung von 1924, schreibt der Autor und Journalist Henry K. Norton über das »Übel« des Glückspiels, das unter den chinesischen Arbeitern zu Zeiten des Goldrauschs in Kalifornien grassierte. Adams hält dem entgegen, dass amerikanische Arbeiter noch in viel extremerem Umfang gespielt hätten. Eine Fotosammlung in der New York Public Library trägt den schlichten Titel »Die Verlockung des Grenzlands. Die Geschichte eines Rassenkonflikts«. Adams: »Es ist doch irgendwie ironisch und auf seine eigene Weise perfekt, dass ich diese Oper gerade jetzt schreibe, mit Trump, dem Brexit und dem, was aktuell eine Renaissance des Rassismus zu sein scheint.« Es fühlt sich manchmal so an, als ob die Welt eine zu schnell laufende Maschine ist, die sich in ihre Einzelteile zerlegt, während sie durch Raum und Zeit rast.

Im Zusammenhang mit Adams’ Vorstellung, dass sich Opern den universalen, historischen Mythologien widmen, fragte ich mich, ob sich der Diskurs nicht mittlerweile verändert hat. Nach einem bestimmten Ereignis entstehen oft tausende von miteinander konkurrierenden Mythologien, was letztlich dazu führt, dass Kunst, die sich mit diesen Ereignissen beschäftigt, ihre universelle Aussage verliert. Folgt man einem politischen Ereignis auf sozialen Netzwerken, bekommt man den Eindruck, dass sich Meinungen wie Kristalle bilden: Sie verhärten sich schnell und pressen sich aneinander, so dass sie am Ende starre, etwas merkwürdige Formen bekommen. Einmal geformt sind diese Aggregate in sich abgeschlossen, ganz wie einzelne Gruppen in den sozialen Netzwerken.

LÉON BAKST, ODALISQUE IN SCHeHeRAZADE (Kostümdesign, 1910–1916) • Bild NYPL
Léon Bakst, Odalisque in Scheherazade (Kostümdesign, 1910–1916) • Bild NYPL

Im Buch The John Adams Reader: Essential Writings on an American Composer fällt der 50-seitige Abschnitt ins Auge, der sich der Kontroverse um die 1991 entstandene Oper The Death of Klinghoffer widmet. Der Streit um die Oper entwickelte sich über mehrere Akte: Zunächst die Premiere, dann die Kontroverse um die Streichung einiger Chorpassagen durch das Boston Symphony Orchestra im November 2001 und zuletzt eine Reihe von Protesten gegen die Inszenierung an der New Yorker Met im Jahr 2014. Der Tenor der Debatten war oft energisch, teilweise sogar harsch, aber immer professionell. Wie Alex Ross schreibt: Die Oper »inspirierte eine kernige Debatte unter Kritikern und in akademischen Kreisen«.

Mit der Inszenierung von 2014 machte sich aber ein sich veränderndes Medienumfeld bemerkbar. Ein YouTube-Video, das schmierkampagnenhaft an die Angelegenheit herangeht, trägt den Titel »The Death of Klinghoffer – eine unangemessene ›Oper‹«. Da wird behauptet, dass das Libretto »antiisraelische Propaganda ausspeit« und »Juden generell in ein schlechtes Licht stellt« – das Ganze untermalt von dramatischer Musik, einem Screenshot von Ross’ Artikel (der eigentlich für die Oper argumentiert) und einem Foto des Schulmassakers von Newtown, Connecticut. Im Vergleich dazu kommen die Texte aus dem oben genannten Buch ziemlich harmlos daher. (Genauso wie die Vorstellung, dass ein Kunstwerk heutzutage eine informierte Debatte über die in ihm auftretenden Charaktere hervorruft, ohne das dabei umfassendere politische Fragen eine Rolle spielen. )

Ich frage Adams, ob er plant, noch einmal ein Werk einer gesellschaftlichen Tragödie zu widmen, etwa dem Massaker in einem Schwulenclub in Orlando von 2016. »Ich gehöre nicht zu der Sorte Komponisten, die die Zeitung nach Geschehnissen durchsuchen, zu denen sie Werke schreiben könnten.«  Das schien mir eine fast schon bewundernswerte Antwort zu sein. In meinem Facebook-Feed haben viele Komponisten im Kontext des Massakers ihre eigenen Werke geteilt, was sich trotz des medialen Abstands fast wie physischer Missbrauch anfühlte.

Vielleicht war der Terroranschlag vom 11. September 2001 eines der letzten derartigen Ereignisse, die einen großen Teil der Menschheit so sehr berührt haben. (Das ist natürlich nicht nur positiv – in einem Interview mit Daniel Colvard aus dem Jahr 2004 spricht Adams von der »ekelerregenden«, betäubenden und übersättigten Berichterstattung in der Folgezeit). Adams’ Werk On the Transmigration of Souls für Chor und Orchester ist der Versuch, einen fast schon physischen Raum zu evozieren, die »vielen, vielen Seelen« erscheinen zu lassen, die er beim Besuch der Notre Dame Kathedrale in Paris wahrgenommen hat. Das Stück reflektiert ziemlich buchstäblich über den Tod: das eine Ereignis, über das jedes Individuum irgendwann nachdenkt.

Adams sagt mir, dass er sich manchmal daran stört, dass klassische Musik als Genre global betrachtet keine wirkliche Bedeutung hat. »Ist es überhaupt relevant, was wir tun? Mitarbeiter von YouTube, Softwareentwickler, die in meiner Nähe wohnen, hören meine Musik jedenfalls nicht«, sagt er mir.

Goldsucher Auf dem Kamm des CHILKOOT PASSes während des Goldrausches von KLONDIKE • PHOTO NYPL
Goldsucher auf dem Kamm des Chilkoot Passes während des Goldrausches von Klondike • Foto NYPL

Nur weil ein Musikgenre eher randständig ist, heißt es aber noch lange nicht, dass es keine Bedeutung hat. Ein Charakteristikum von Adams’ neueren Kompositionen – denjenigen, die in Berlin gespielt werden, eingeschlossen – ist, dass sie relevante Themen über Metaphern und Analogien aufgreifen, mit Implikationen und Vergleichen arbeiten, Literatur hinzuziehen, aber auch nur mit musikalischer Abstraktion funktionieren. Es ist daher nicht legitim, ein hetzerisches Video verbreiten über eine Oper, deren Handlung in der ferneren Vergangenheit spielt, ohne dass man zunächst einmal die Oper (oder den historischen Hintergrund) selbst näher untersucht. Allein das mag einen dann dazu bringen, gegen die eigene ursprüngliche Intention die enthaltenen Nuancen schätzen zu lernen. Es ist dann im Grunde egal wie viele Menschen sich auf irgendeine Weise mit Kunst auseinandersetzen, allein ist es beruhigend zu wissen, dass es überhaupt jemand tut.

Adams erzählt mir, dass sein Sohn Samuel, der auch Komponist ist, ein »viel aktiverer Hörer ist, als ich es bin. Ich bin nicht so neugierig, suche nicht so viel herum. Er hat einen größeren Bezugsrahmen als ich.« Es ist irgendwie verständlich, dass sich Adams auf sein eigenes Werk konzentriert. Kunst erfordert manchmal einen gesunden ästhetischen Narzissmus. Die Fähigkeit, sich zeitweise von der Gegenwart zu distanzieren ist möglicherweise eines der wichtigsten Werkzeuge, die einem Künstler zur Verfügung stehen.

»Ich bin jetzt siebzig und es scheint mir, dass meine Musik irgendwie altmodisch ist, wenn man sie mit der von Jüngeren vergleicht«, sagt er mir. Zu Beginn unserer Unterhaltung hatten wir etwas Probleme uns gegenseitig zu verstehen, weil der Handy-Empfang schlecht war. Er machte gleich zu Beginn deutlich, dass er bald wieder zurück an die Arbeit müsse. ¶