In den Werken des irischen Komponisten Donnacha Dennehy klingen sowohl die Harmonien der französischen Spektralisten als auch die treibenden Rhythmen des amerikanischen Minimalismus an. Aus der Verbindung dieser oft als gegensätzlich verstandenen Genres (deren Akteur:innen der  jeweils anderen Seite für gewöhnlich mit Geringschätzung begegnen) schafft Dennehy ein geradezu hypnotisch fesselndes Ganzes. Ich erreiche den Komponisten zuhause in Princeton, wo er Komposition unterrichtet. Dennehy offenbart sich am Telefon als gleichermaßen einnehmender wie selbstironischer Gesprächspartner.

VAN: Ihr neues Violinkonzert, das Sie für Augustin Hadelich geschrieben haben, wird am 7. September beim Musikfest zu hören sein …

Donnacha Dennehy: Ich freue mich schon sehr drauf! Ich reise extra dafür an. Ich habe mir bisher alle Aufführungen angehört, weil ich nach jeder immer noch kleine Änderungen mache. Aber jetzt denke ich, dass ich fertig bin. Darum komme ich auch vorbei: damit ich sicher sein kann, dass ich fertig bin. [lacht]

Welche Änderungen machen Sie in diesem Stadium denn noch?

Die erste Aufführung war im Herbst 2021 in der Philharmonie Zuidnederland. Der zweite Satz ging in eine Richtung, in der es mehr um das Innere des Klangs ging, um Obertöne, und ich fand, dass das die poetische Aussage irgendwie unterwandert. Ich habe kurz vor der Aufführung einen Teil gestrichen und das Stück dann zu Hause nochmal überarbeitet. Dann habe ich vor allem an der Orchestrierung im dritten Satz gefeilt, damit die Geige deutlicher hervortritt.

Beim Aspen Music Festival wurde es auch gespielt, da habe ich im dritten Satz einen zusätzlichen Takt hinzugefügt. Es gab eine Stelle, an der ein Reel angedeutet war. Ich glaube, ich habe ihn eine Zeit lang versteckt, nach dem Motto ›Sowas sollte ich besser nicht machen‹, und dann habe ich gemerkt, dass es keinen Sinn hat, ihn zu verstecken.

Das klingt nach einer kleinen Änderungen, die aber ganz schön viel ausmachen könnte.  

Ja, das will ich auch nicht verheimlichen. 

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Entdecken Sie immer wieder Neues im Stück, wenn Sie es live hören? Entwickelt es sich immer weiter oder fixieren Sie es irgendwann? 

Es nimmt Gott sei dank mehr und mehr eine endgültige Form an. Aber jedes Mal, wenn ich es höre … In Aspen gab es nur eine Probe und dann das Konzert, aber bei einer Stelle hat Dirigent Markus [Stenz] nur die Streicher spielen lassen und ich dachte: ›Das ist viel besser als das, was ich mit Bläsern hingeschrieben habe.‹ Ich könnte immer wieder neue Sachen entdecken.

Laurie Anderson hat mal gesagt, dass Kompositionen nie fertig werden, man verlässt sie nur. Für mich ist es an der Zeit, das Violinkonzert zu verlassen, denn ich höre immer wieder Neues, das für andere Stücke bestimmt ist. Ich glaube, die Stücke sprechen miteinander. Manchmal, wenn ich mit einem Stück nicht mehr weiter weiß, höre ich, wie ein anderes Stück zu mir spricht und mir einen Weg vorschlägt.

Ich möchte das Violinkonzert wirklich gerne abschließen. Aber es gibt noch mehr Sachen, die ich höre. Und seltsamerweise begreift man den Sinn eines Stücks oft nicht nur bei der Probe, sondern vor allem im Konzert – egal, wie lange man beim Komponieren herumgetüftelt hat. Solange mein Kopf das noch zulässt, möchte ich versuchen, den Sinn so gut wie möglich herauszuschälen.

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Als ich durch die Partitur geblättert habe, ist mir aufgefallen, dass das Notenbild erstmal recht traditionell aussieht: viele schnelle Töne in der Solo-Geige, langsamere im Orchester, drei Sätze … 

Augustin musste mich zu dieser Struktur mit den drei Sätzen überreden. Da gab es ziemlich viel Hin und Her. Ich musste einen Weg finden, dass die Sätze miteinander sprechen. Das Stück spielt definitiv mit diesem traditionellen Gerüst. 

Wie hat Hadelich Sie überzeugt? 

Er schickte mir eine ganze Playlist mit Solokonzerten zum Anhören und meinte: ›Kannst du dir die als einsätzige Werke vorstellen?‹ Weißt du, ein Teil von mir wollte das … Ich will nicht großspurig klingen, gerade wenn ich als Ire von dieser Tradition spreche, denn wir sind ja nicht wirklich Teil davon. Und ich habe keinen richtigen Klassik-Background. Aber ich wollte diese Tradition aufgreifen. Das ist so in mir gereift. 

Bei mir ist es ein ständiger Kampf zwischen Poetischem und Strukturellem. Ich habe eine Art sentimentale Seite, ich habe oft Angst, dass es zu sentimental wird. Ich brauche Prozesse, um das zu verhindern. Es gibt diese Art von Reibung zwischen dem strukturellen Blick auf Musik und dem poetischen.

Eine Rolle hat auch gespielt, dass ich diese Grundformen, diese Schablonen, übernehmen und was mit ihnen machen wollte.

Was für Prozesse sind das, die verhindern, dass es zu sentimental wird? 

Ich habe auch eine obsessive Seite. Ich bin besessen von Details. Ein Teil von mir ist besessen von Harmonien, von der Interaktion zwischen der Harmonie in den Bewegungen und der Harmonie im Klang selbst. Und dann gibt es Prozesse wie zum Beispiel Palindrome. Aber es gibt auch einen Teil von mir, der immerzu etwas Schönes ausdrücken will. Es gibt dieses Zitat von Yeats, über den Osteraufstand von 1916: ›Eine schreckliche Schönheit ist geboren.‹ Das geht mir oft durch den Kopf. Ich interpretiere ihn da natürlich in vielerlei Hinsicht falsch, aber ich verstehe das als gebrochene Schönheit. Sie muss durch ein Sieb oder  irgendwas anderes gedrückt werden, damit sie eine rauere Oberfläche bekommt. Das treibt mich bei vielem, was ich mache, an. 

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Sie haben mal den Komponisten James Tenney interviewt und er sagte da, dass ihm der Spektralismus zu ›europäisch‹ vorkomme: Die Formen der Stücke seien von der Dramaturgie her zu traditionell. Auch Ihre Musik klingt nicht gerade nach dem, was wir uns unter Spektralismus vorstellen. Sind Sie derselben Meinung wie Tenney?

Als Teenager habe ich mich sehr für den amerikanischen Minimalismus interessiert. In meinem Kopf höre ich sogar eine Art proto-spektralen Ansatz in John AdamsCommon Tones in Simple Time. Gegen Ende bleibt Adams bei diesen Harmonien, und dann gibt es quasi auch noch diese metrischen Modulationen. Er beschäftigt sich mit der Liminalität; er spielt mit ihr, zwischen den Geschwindigkeiten und der Harmonie. Dieser spektrale Einfluss ist bei mir in gewisser Weise stärker als Griseys Les espaces acoustique. Ich habe mal gesagt, dass ich mich sehr für das interessiere, was die französischen Spektralisten – vor allem Grisey – mit Obertönen machen, aber nicht so sehr für die apologetische modernistische Oberfläche, und das meinte ich auch so. Heute sehe ich das anders: Ich glaube, sie haben das wirklich so empfunden. Aber das war nichts für mich.

Die Spektralisten haben gegen eine Art von Modernismus rebelliert, und ich glaube, eine Bewegung, die gegen eine andere rebelliert, übernimmt auch das, wogegen sie rebelliert. In Irland gab es erst die roten britischen Briefkästen, und sie wurden einfach grün angemalt.

Bei Tenney ging es darum, sich gar nicht erst auf die reine Form einzulassen, sondern sie sich selbst zeigen zu lassen. Ich kann nicht so cool sein wie er. Das bin nicht ich. Ich muss das schreiben, was ich für wahr halte, und er hat das geschrieben, was er für wahr hielt, und das bewundere ich wirklich.

Sie haben 1997 das Crash Ensemble gegründet und es geleitet bis 2014, als Sie in die USA gezogen sind, um an der Princeton University Komposition zu unterrichten. Fehlt Ihnen die tägliche Arbeit mit dem Ensemble?

Oh, ja, ich vermisse sie total. Sie haben an all meinen Opern mitgewirkt, also gibt es diese praktische Verbindung. Sie kommt und geht. Die administrative Seite vermisse ich nicht, obwohl es auch beim Unterrichten eine administrative Seite gibt. Aber ich vermisse die Planung von Konzerten. Ich habe viel Murail, Grisey und den frühen amerikanischen Minimalismus programmiert, als es das alles noch nicht gab. Man entdeckt ständig neue Sachen, das macht Spaß.

Neulich habe ich gedacht: Komme ich ihnen vielleicht plötzlich einfach abhanden? Es macht mich ein bisschen traurig. Da gab es dieses Gefühl wie in einer Band, verstehen Sie? Aber Kate [Ellis] ist seit 10 Jahren eine gute neue Leiterin. Und ich werde zu einem Einsiedler unter den Bäumen von Princeton. [lacht]

In anderen Interviews sprechen Sie oft über Ihre Auseinandersetzung mit dem Tod, das hat mich überrascht. In einem meinten Sie: ›Ich glaube, dass es in der Kunst darum geht, die Grenzen dieser Welt zu überwinden, insbesondere die Grenzen, die uns der Tod auferlegt.‹ Spielt das auch in Ihrer Musik eine Rolle?

Naja, es ist in mir. Ich glaube, das hat mich dazu gebracht, Komponist zu werden, um ehrlich zu sein. Ich erinnere mich, dass ich schon als Kind Angst vor dem Tod hatte. Es war fast so eine Art Besessenheit: Ich hatte ein bestimmtes Datum im Kopf, von dem ich dachte, dass ich an diesem Tag sterben könnte, und dann hatte ich jedes Mal Angst, wenn dieses Datum kam. Das Datum schwirrt mir immer noch durch den Kopf, darum sage ich es nicht.

Meine Musik war schon immer von der Erfahrung der verrinnenden Zeit geprägt. Strukturell gesehen ist die lineare Zeit für mich eine Obsession. Es geht um diese Art von Fortschritt, obwohl man nie weiß, wann er eintreten wird. Ich habe eine kleine Tochter, und sie denkt darüber nach – wissen Sie: Kinder denken sehr ernsthaft über den Tod und die Grenzen nach, die uns gesetzt sind.

Da ich hier in Princeton von Bäumen umgeben bin, interessiere ich mich jetzt mehr für die Jahreszeiten, für die stete Wiederholung und dafür, wie sie Leben spenden. Ich habe gerade ein großes Stück für Alarm Will Sound geschrieben – es heißt Land of Winter, was der klassische Name für Irland war, und ich bin sehr stolz darauf. Es ist ein einstündiges Stück, das die 12 Monate durchläuft. Es geht um das Leben, das sich im Laufe des Jahres verändert.

Aber den größten Einfluss hat auf mich sicher die Idee, dem Tod zu trotzen, sich ihm nicht zu ergeben.

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Überraschend viele Spektralisten – Grisey, Claude Vivier, sogar der Schriftsteller Bob Gilmore, der über Harry Partch und Vivier geschrieben hat – sind jung gestorben…

Bob Gilmore war ein guter Freund von mir. Als er starb, war ich gebrochen. Mein neues Studio hat nur weiße Wände, aber in meinem alten Studio hatte ich ein Bild von Bob, der auf mich herab schaute, um sicherzugehen, dass ich hart arbeite. Er liebte die Musik so sehr und investierte so viel in seine Art, ihr zuzuhören. Ich dachte, ich hänge sein Bild auf, um sicherzugehen, dass ich meine Arbeit so gut wie möglich mache, weil immer jemand dabei ist, der Musik liebte. ¶

... ist seit 2015 Redakteur bei VAN. Sein erstes Buch, The Life and Music of Gérard Grisey: Delirium and Form, erschien 2023. Seine Texte wurden in der New York Times und anderen Medien veröffentlicht.

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