Der Juni des Jahres 2021 startet gut für die damals 26-jährige Josephine Bastian. Gerade hat sie eine Stelle an der Paul-Hindemith-Orchesterakademie des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters gewonnen und erfolgreich ihren Master an der Jacobs School of Music Bloomington beendet. Als Solistin ist sie unter anderem schon mit Musiker:innen vom Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (wo sie auch zwei Jahre lang Akademistin war) und dem Konzerthausorchester Berlin (mit dem sie Tschaikowskys Rokoko-Variationen eingespielt hat) aufgetreten, ist Teil zweier Kammermusikformationen und spielt bei zahlreichen Festivals. Dann stürzen ihr in der Nacht des 5. Juni 800 Kilogramm Ziegelsteine auf den Oberkörper.

Mit zwei Freunden wollte die Cellistin auf einem Berliner Hausdach den Sonnenuntergang anschauen und die laue Nacht genießen. Außerhalb der Dachterrasse war auf dem Flachdach an einem Schornstein eine Hängematte angebracht. »Die hing dort schon, seit ich denken kann«, erinnert sich Josephine. »Wir haben da viele Abende verbracht, ich kann gar nicht zählen, wie oft.« An diesem Abend war es dann unglücklicherweise soweit, dass die in der Hängematte sitzenden Freund:innen zu schwer waren für den zwischenzeitlich maroden Mörtel des Schornsteins. »Ich habe nur wahrgenommen, dass sich etwas komisch verdreht. In dem Moment, in dem ich die Bewegung gespürt habe, ist der Schornstein links von mir an der Basis abgebrochen und im ganzen Stück auf meinen Oberkörper gefallen.« Die beiden anderen bleiben völlig unverletzt, während Josephines Wirbelsäule mehrfach gebrochen ist und außerdem ihr Sternum sowie ihr linkes Schlüsselbein und Schulterblatt. Vor allem aber kann sie unter den schweren Ziegeln nicht atmen. Ihre beiden Freunde können den Schornstein beim ersten Versuch, sie zu befreien, nur einen Zentimeter anheben. »Dann haben sie noch einen Versuch gemacht, bis drei gezählt und diesen riesigen Schornstein von mir heruntergehoben. Wie Mütter, die ein Auto heben, weil ihr Baby darunter liegt. Es ist uns allen bis heute ein Rätsel, wie sie das geschafft haben.« Die Freunde wählen sofort den Notruf, es dauert aber noch ganze zwei Stunden, bis Josephine vom Dach transportiert werden kann: Die Straße ist komplett zugeparkt, auch von Falschparkern, der Einsatzwagen der Feuerwehr kommt nicht durch. »Man denkt ja immer, dass Falschparken niemandem schadet, aber das kann über Leben und Tod entscheiden«, sagt Josephine heute. »Die Zeit bis zur Bergung schrie ich in Todesqualen durchgehend wie am Spieß trotz schnell verabreichter Betäubungsmittel, krallte mich an die Hand und in den Blick eines meiner Freunde und rang mit Nahtoderfahrungen. Auch für meine Freunde war die Situation unfassbar traumatisch, auch weil ich immer wieder gesagt habe, dass ich sterben will, weil die Schmerzmittel nicht gewirkt haben.« Gefühlte endlose zwei Stunden später kann Josephine, eingepackt in eine Evakuierungsmatratze (zur Stabilisierung ihrer schweren Rückenverletzungen) über die Feuerwehrleiter an der Vorderseite des fünfstöckigen Hauses heruntergelassen werden. 

In zwei Operationen werden Josephines Frakturen mit Titanplatten und fingerlangen Schrauben fixiert (seit April sind diese wieder entfernt, Josephine hat sie aber aufgehoben und zeigt sie bei unserem Zoom-Call in die Kamera). »Mein Oberkörper war quasi auseinandergebrochen, die komplette Statik war durcheinandergeraten.« Nach über einem Jahr Reha, Therapien und dem Einleben in den »neuen« Körper tritt Josephine Bastian jetzt am 10. September ihre Stelle in Frankfurt an. 

VAN: Inwiefern hast du für deine Akademistinnenstelle wieder üben können?

Josephine Bastian: Ich habe das Repertoire schon sehr zeitig gewusst und Noten zugeschickt bekommen zum Üben. Die Herausforderung Nummer eins wird für mich aber das lange Sitzen. Um das Spielen an sich mache ich mir nicht so viele Sorgen, ich habe viele Jahre Orchestererfahrung und meine, mein Instrument zu beherrschen. Ich denke kaum darüber nach, was passiert, wenn ich mal eine falsche Note spiele, sondern: Halte ich das körperlich durch, eine ganze Probe zu sitzen? Wie fühle ich mich nach ein paar Tagen, wie fühle ich mich nach ein paar Wochen? Kann ich das überhaupt schaffen?

Kannst du das Sitzen gezielt trainieren?

Seit dem Unfall mache ich sehr regelmäßig Physiotherapie und Osteopathie. Mein Alltag besteht im Moment zum großen Teil aus Fitnessübungen, Dehnübungen und Sport, das Celloüben ist der kleinere Teil, der erst langsam wieder mehr und mehr dazukommt. Trainieren lässt sich das lange Sitzen aber nur durch langes Sitzen – und das ist nicht die größte Freude für mich.

Inwiefern konntest du im letzten Jahr überhaupt üben oder spielen?  

Ich habe fast vier Monate nach dem Unfall im Grunde nicht gespielt. Ich hab ab und zu einen Versuch gemacht, mich ans Cello gesetzt, wenn ich Lust bekommen habe. Die ersten Monate war es dann wie nach einem sehr langen Urlaub: Es war keine Hornhaut mehr da. So extrem hatte ich das noch nie, zumindest nicht seitdem ich mich erinnern kann. Seit ich fünf bin, habe ich immer geübt und höchstens mal ein paar Wochen Pause gemacht. Der Fingerschmerz nur beim Herunterdrücken der Saite war am Anfang so stark, dass der Schmerz erstmal die Zeit vorgegeben hat, wie lange ich üben kann, fünf Minuten, dann zehn, irgendwann fünfzehn. Nach zwei Monaten habe ich es dann geschafft, mal eine halbe Stunde zu spielen. Auch momentan sind meine Überzeiten noch deutlich geringer als vor dem Unfall.

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Hat das Spielen und Üben dich in dieser Zeit eher aufgebaut oder eher gestresst, weil Druck dahinter war, es wieder schaffen zu müssen? 

Eher letzteres. Natürlich wollte ich gerne spielen und als die ersten Töne dann wieder gingen, war das ein riesiges Glücksgefühl. Am Anfang bin ich aber erst durch eine Art Trauerphase gegangen, hatte eine heftige Wut in mir, als ich gesehen habe, was alles nicht mehr geht. Da war das Cellospielen eine zweischneidige Geschichte. Es ist natürlich eine Stütze, die Musik zu haben und eine Leidenschaft zum Beruf. Auf der anderen Seite ist da auch bedenklich viel Identifikation; der wunde Punkt, an dem einem bewusst wird, wie sehr man den eigenen Selbstwert über den künstlerischen Erfolg definiert: Ich bin Cellistin. Und was bin ich noch? Keine Ahnung. Ich glaube, das ist in vielen Berufen so, bei denen man als Kind schon anfängt mit dem Üben oder Trainieren. Vielleicht auch besonders, wenn es sehr von den Eltern induziert ist, man sich gar nicht so bewusst dafür entschieden hat. Irgendwann kommt dann der Punkt, an dem man sich fragt: Will ich das überhaupt selber, oder war das nur die Idee von jemand anderem? Diese Phase hatte ich dann nicht wie viele andere junge Menschen nach dem Schulabschluss, sondern erst nach dem Unfall, als sich die Frage stellte: Werde ich überhaupt je wieder Cello spielen können? Werde ich den Musikerberuf auf dem Niveau wieder machen können? Und wenn ja, wie schwer ist der Weg dorthin und wie sehr bin ich bereit zu leiden, um diesen Weg zu gehen? 

Hattest du einen Plan B?

Ich hatte nie einen Plan B, aber in den letzten Monaten habe ich mich zwangsläufig damit auseinandersetzen müssen, als ich gemerkt habe: Ich kann zwar wieder spielen, aber es ist wahnsinnig hart, ein unfassbarer Kampf. Mir ist das Musizieren sonst nicht schwer gefallen. Ich habe auch nie so wahnsinnig viel geübt, keine fünf oder sechs Stunden, aber mit dem kurzen, effektiven und stetigen Üben, dem ich mich gewidmet habe, war ich im Flow und in meinem Alter vorne mit dran.

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Jetzt, wo es mir seit dem Unfall so viel Mühe bereitet, ist plötzlich ein Widerstand gewachsen und die Frage stellt sich: Nehme ich für meine Liebe zum Cellospielen auch starke körperliche Schmerzen in Kauf? 

In Bezug auf andere Berufszweige habe ich über ein paar Dinge nachgedacht, die ich machen könnte. Ich würde wahrscheinlich nicht noch einmal studieren, weil ich es mir schlichtweg finanziell nicht leisten kann. Also würde ich wahrscheinlich eine Ausbildung wählen im künstlerischen oder sozialen Bereich. Ich würde gerne etwas zur Gesellschaft beitragen und habe das Gefühl, dass ich das als Künstlerin nur sehr bedingt kann, nur indirekt. Ich spiele mit dem Gedanken, eine Art Body-Mind-Coaching für Musiker:innen zu entwickeln, weil ich durch meinen eigenen Heilungsprozess auch auf den Leidensdruck anderer Kolleg:innen aufmerksam geworden bin, was deren körperliche und mentale Achillesfersen angeht. Die entsprechenden physio- und psychotherapeutischen Qualifikationen dafür zu erwerben wird sicher kein Spaziergang, dessen bin ich mir bewusst. Die Idee, dass ich ein glückliches Dasein führen könnte, ohne meine Brötchen mit dem Cellospielen zu verdienen, ist neu und bringt viel Erleichterung.

Welche Arten von Leidensdruck sind das bei deinen Kommiliton:innen? Eher körperliche Probleme oder psychische? 

Ein Instrument zu spielen ist immer untrennbar körperlich und mental. Auch wenn wir mittlerweile Alexandertechnik und einige Bewegungskurse im Musikstudium belegen können – ich glaube, dass das bei weitem nicht ausreicht, wenn man sieht, wie viele Stunden wir handwerklich etwas üben, verglichen damit, wie wenig Zeit wir investieren, uns mit den daraus resultierenden Konsequenzen für Körper und Psyche auseinanderzusetzen und ihnen auch schon vorbeugend etwas entgegenzusetzen. Ich kenne immer noch so viele Musiker:innen, die fast nie ›dazu kommen‹, mal etwas Sport zu machen als Ausgleich. Im Berufsalltag kommt man auch nicht einfach so dazu. Man hat nur die Chance, gesund zu bleiben, wenn man den Ausgleich als festen Bestandteil in die eigene Routine integriert. An jedem Instrument verbringt man nun mal viele Stunden am Tag in einer Fehlhaltung. 

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Ich habe das Gefühl, im Leistungssport ist die Möglichkeit, dass man wegen Verletzungen oder Erkrankungen eine Weile pausieren oder ganz aufhören muss – auch solange sie nicht eintritt – viel präsenter als im Musikbetrieb. Wie erlebst du das?

Bei uns im Studium spielte das zumindest nur eine ganz kleine Rolle. Natürlich hatte mal jemand eine Sehnenscheidenentzündung – das sprach sich dann ganz schnell rum, dass man die Person nicht mehr fragen kann für Gigs, die war dann quasi weg vom Fenster. Ich würde sagen, es kann wahnsinnig karriereschädigend sein, über Verletzungen zu sprechen. Ich habe es zumindest so empfunden. Bei uns geht es viel um Durchziehen und Durchhalten. Wenn einem die Finger wehtun, ist das ja auch schon eine Art Schmerz. Da ist dann die Frage: Akzeptieren wir das? Oder bekommt man Wege gezeigt, wie man möglichst schmerzfrei spielen kann? Ich glaube, die meisten Musiker:innen sind nicht schmerzfrei, wenn sie spielen, irgendein Schmerz ist eigentlich die Norm.

Ich war jetzt gezwungen, mich mit dem Thema Schmerz auseinanderzusetzen. Die vielen Möglichkeiten, chronischem Schmerz vorzubeugen und entgegenzuwirken, findet man eben erst, wenn man übr den Tellerrand Musikhochschule hinausschaut: sich Physiotherapie verschreiben lässt, zweimal die Woche und nicht einmal im Monat, und das fest in den Alltag integriert … Aber wenn ich darüber mit Musiker:innen spreche, die gerade in ihrer Karriere gut dastehen, höre ich oft: ›Dafür habe ich keine Zeit.‹ Leichter bis moderater Schmerz wird so lange verdrängt, bis es zu spät ist.

Ich habe in meinem ›alten‹ Körper Schmerz auch verdrängt. Als junger Mensch hat man ja auch noch unfassbare Kapazitäten der zügigen Heilung, aber wenn man bis zur Rente im Orchester spielen will, geht das irgendwann nicht mehr so gut. Und ich kann das eben schon jetzt nicht mehr – einfach so loslegen. Zu einem Tag, an dem ich zweimal eine Dreiviertelstunde üben möchte, gehört jetzt, dass ich mindestens acht Stunden schlafe, weil sich meine Wirbelsäule sonst nicht erholt über Nacht, dass ich morgens 30 Minuten Dehnung, Aufwärmen, Yoga mache, um mich überhaupt ans Instrument begeben zu können, und dasselbe nach dem Üben nochmal. Diese Selbstfürsorge habe ich nur gelernt, als ich stärksten Schmerz erfahren habe. Und ich wünsche mir für meine Mitmenschen, dass das auch anders möglich wäre. 

Warum hast du dich entschieden, deine Geschichte öffentlich zu machen auf Instagram

Am Anfang habe ich eigentlich wenig bis gar nichts geteilt, hatte dafür auch monatelang keine Energie. Aber ich merke, dass jedes Mal, wenn ich in den letzten Monaten jemandem aus der Klassik-Welt begegnet bin, ein riesiger Gesprächsbedarf da war: über das, was ich erlebt habe und was die Konsequenzen für mein Ich-Sein und Musikerin-Sein sind.

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Der Dirigent und Anästhesist Christoph Altstaedt hat im VAN-Interview zu den Reaktionen anderer Musiker:innen auf sein Medizin-Zweitstudium erzählt: ›Es gibt jene, die damit überhaupt nichts anfangen können, weil sie diese Form des Zweifelns nicht kennen, die irritiert sind, wenn jemand den Musikerweg und die Ausbildung infrage stellt. Manchmal hatte ich schon das Gefühl, dass die Leute es als einen Verrat an der Sache empfunden haben.‹ Hast du solche Reaktionen auch erlebt?

So extrem habe ich das persönlich nicht gehört, aber ich kenne diese Haltung schon. Wenn ich Zweifel geäußert habe, ob ich in den Beruf zurück will – weil ich Sorgen habe, das wegen körperlicher oder psychischer Unfallfolgen nicht zu bewältigen –, kam als Reaktion: ›Das kannst du jetzt noch nicht wissen. Erstmal abwarten. Du wirst dich so ärgern, wenn du das jetzt an den Nagel hängst.‹ Ich glaube, viele Musiker:innen versuchen, Kolleg:innen zu überreden, möglichst Musiker:innen zu bleiben, weil sie sich sonst auch mit der eigenen Entscheidung für diesen Beruf auseinandersetzen müssten, beziehungsweise damit, warum sie das nie infrage gestellt haben, ob dieser Karrierepfad die insgesamt erfüllendste Option für sie ist. 

Auf Instagram hast du gepostet, dass du oft bewundernd hörst, dass du so eine Kämpferin bist, aber man dir damit nicht zusteht, auch mal Schwäche zu zeigen oder enttäuscht zu sein. 

Diese Erkenntnis hat bei mir großen Herzschmerz ausgelöst. Sobald man wieder auf beiden Beinen stehen kann und sogar mal das Cello angefasst hat, ist sofort der Druck da: Das wäre die perfekte Erfolgsgeschichte, die Rückkehr nach einem so schweren Schlag. Jemandem das Gefühl zu geben, nur der Kampf und die Rückkehr ist ein Erfolg, finde ich schwierig. Denn vielleicht ist die Rückkehr auf die Bühne ja auch mit zu großen Opfern verbunden. Wenn ich mir vorstelle, dass ich noch den Zwang verspüren würde, das jetzt schaffen zu müssen … Ich kann wirklich nur einen Fuß vor den anderen setzen, vorsichtig schauen, ob es für mich an der Oper [in Frankfurt] klappt. 

Viele wollen natürlich die Erfolgsgeschichte hören. Die Realität ist aber: Ich bin aus einer sehr komfortablen Situation plötzlich in ein völlig anderes Leben hineingeworfen worden. Kam gerade von der Musikhochschule, wusste nicht, dass es sowas wie eine Berufsunfähigkeitsversicherung überhaupt gibt. Und sitze jetzt hier und beziehe Hartz IV. Das ist nicht toll, aber das heißt nicht, dass ich im Leben gescheitert bin. Es heißt auch nicht, dass ich keine Künstlerin mehr bin. 

Die Pianistin Gunilla Süssmann, die an fokaler Dystonie erkrankt ist, hat in VAN gesagt: ›Man muss ja nicht unbedingt spielen, um Musiker zu sein.‹ Wie siehst du das? 

Natürlich wird ein Teil von mir immer Musikerin sein. Aber ich habe jetzt erkannt, was ich sonst noch bin, dass ich einen Wert habe als Person, der nicht mit dem Cello verknüpft sein muss. Das sind alte Glaubenssätze, die man schon in der Kindheit total verankert hat. Wenn man mit fünf anfängt und jeder Erfolg mit dem Cello bedeutet Zuneigung und jeder Misserfolg bedeutet Entzug dieser Zuneigung, dann wächst man mit dieser Identifikation auf: Ich bin gut, wenn ich auf dem Cello gut bin, ich bin schlecht, wenn ich auf dem Cello schlecht bin. 

War es während der Behandlung im Krankenhaus Thema, dass du Cellistin bist und welche speziellen Bewegungen für dich wichtig sind?

Als ich nach der Spondylodese-OP zum ersten Mal wieder ein bisschen klarer war, habe ich als erstes gefragt, ob ich mal ein Kind zur Welt bringen könne. Das Cello hat mich in dem Moment zuerst nicht interessiert. Das war dann aber die zweite Frage. Daraufhin meinte der sehr erfahrene Unfallchirurg, dass das noch etwas dauert, aber dann wieder geht. Am meisten Sorgen hat den Ärzt:innen nicht mein Rücken gemacht, sondern mein Schlüsselbein, die Bewegungsfreiheit in der Schulter. Aber das ist inzwischen super geworden, finde ich.

In psychologischer Traumatherapie bin ich aber immer noch wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung, die durch den Unfall und mein darauf folgendes Martyrium in einem renommierten Berliner Krankenhaus entstanden ist. Weil meine Schmerzen nicht ernst genommen wurden vom Fachpersonal im Krankenhaus, wurde ich diesbezüglich tagelang nicht angemessen versorgt. Ich habe fünf Tage lang, bis zu meiner zweiten Operation, keine passende Schmerztherapie bekommen, habe tagelang vor Schmerzen geschrien. Jeden Tag stand man an meinem Bett und hat dieselbe Frage gestellt: ›Frau Bastian, können Sie nicht endlich zugeben, dass Sie eine Drogenvergangenheit haben? Sonst würden die Schmerzmittel ja wirken.‹ Bei mir hat der Cocktail, den sie mir gegeben haben, aber einfach nicht gewirkt.

Die meisten Schmerzmittel sind ja an Männern erforscht und können bei Frauen viel weniger wirksam sein. Auch mentale Angst- und Panikzustände können einen enormen Einfluss auf die Wirkung von Betäubungsmitteln haben. 

Ich hatte mich jedenfalls in meinem Leben vor dem Unfall nie an Partydrogen herangetraut: Das Härteste, was ich bis vor dem Unfall mal genommen hatte, war Ibuprofen. Als junge Frau, die in der Partymetropole in der Nacht auf einem Dach vorgefunden wurde, wurde ich aber direkt vorverurteilt. Dabei war nicht mal Alkohol in meinem Blut. Und selbst wenn ich gelogen hätte und suchtkrank gewesen wäre, hätte ich doch auch eine menschenwürdige Versorgung verdient! Am sechsten Tag kam dann endlich ein Schmerzspezialist an mein Bett, der mir zwei, drei Fragen gestellt, Medikamente gebracht hat und nach einer Stunde war das Thema Schmerz gegessen – der Schmerz war natürlich noch sehr stark, aber ich habe nicht mehr wie am Spieß geschrien. 

In meiner zweiten Woche im Krankenhaus habe ich auch noch einen sexuellen Übergriff erleben müssen durch einen Pfleger auf Station: einen Kuss auf den Mund bei einer fast bewegungsunfähigen Patientin, die absolut gar nicht dazu eingeladen hat, so etwas zu tun – das hat bei mir sofort Todesangst ausgelöst, weil sich in meinem Kopf der Film abgespielt hat: Wenn ich die Person zurückweise, kann sie mir alles spritzen und bringt mich vielleicht um. Oder enthält mir meine Schmerzmittel vor. Wenn ich wehrhaft gewesen wäre, hätte ich ihm wahrscheinlich eine Backpfeife gegeben, aber in meiner fragilen Konstitution hat es mich in Todesangst versetzt. Was ich in diesem Krankenhaus erlebt habe, ist unvertretbar. 

Wie lange dauerte dein erster Krankenhausaufenthalt?

Zwei Wochen. Danach war ich noch fünf Wochen zuhause, bevor ich in die Reha konnte. Da haben Freundinnen und Freunde bei mir rotiert, 24 Stunden, sieben Tage die Woche, immer war jemand da. Das war wahnsinnig rührend, wie alle sich gekümmert haben. Ich konnte nicht alleine sein, hatte krasse Flashbacks von dem Unfall. Und ich konnte anfangs nicht mal alleine aufs Klo gehen, geschweige denn mich anziehen, waschen. Fast drei Wochen nicht zu duschen, das war eine Sache für sich … Auch die Auseinandersetzung mit dem neuen Körper, diese langen Wunden mit den Fäden noch drin – das hat mich so geekelt. Mittlerweile fühle ich mich endlich wieder schön, trotz Narben.  

Bei meiner dritten OP habe ich, was den Krankenhausaufenthalt angeht, zum Glück korrigierende Erfahrungen machen können, habe immer, wenn jemand mein Zimmer betreten hat, gesagt: ›Achtung, ich bin Angstpatientin, Sie müssen alles genau erklären.‹ Und das hat dann sehr gut funktioniert.

Ich glaube auch, dass die Traumatherapie, die ich seit dem Unfall gemacht habe, mindestens genauso wichtig ist wie die körperliche Heilung, sonst wäre ich gar nicht lebensfähig. Ich war nach dem Unfall unglaublich schreckhaft und hatte ein wahnsinniges Misstrauen in Menschen. 

Hast du im letzten Jahr weiter Cello unterrichtet?

Ja! Ich habe mehrere Monate nach dem Unfall wieder angefangen, ein bis zwei Stunden in der Woche zu unterrichten, weil es das Einzige war, was ich machen konnte. Da musste ich nicht unbedingt durchgängig sitzen. Und ich konnte etwas Geld dazuverdienen, weil meine finanzielle Situation direkt nach dem Unfall mangels Versicherungsschutz sehr prekär wurde. Meine Schüler:innen zu betreuen, hat hat mich vor allem auch mental über Wasser gehalten. Auch mein ehemaliger Cello-Professor Brandon Vamos aus Bloomington hat mich unterstützt, indem er mich einen Online-Meisterkurs für seine Student:innen hat geben lassen. Das war eine große Ehre und total motivierend in dieser ansonsten künstlerisch absolut desolaten Lage.

Foto: privat

Hast du dir für den Wiedereinstieg selbst Tipps geholt von Leuten, die sich gleichzeitig mit Verletzungen und Instrumentalspiel auskennen?

Ich weiß, dass es da einen Spezialisten gibt in Berlin, aber zu ihm bin ich nicht gegangen, weil das von der Krankenkasse nicht übernommen worden wäre. Ich habe aber meinen Physiotherapeut:innen genau erklärt, was ich mache am Cello, habe denen auch vorgespielt, damit sie sehen, was Halte- und was Spielmuskeln sind. 

Ich glaube, das Allerwichtigste in so einer Phase ist, eine mündige Kranke zu werden und Spezialistin für die eigenen Probleme, dass man weiß: Was tut mir gut und was nicht? Es dauert aber, das herauszufinden. Ich bin natürlich keine Physiotherapeutin, habe aber inzwischen einen geschulteren Blick für Muskulatur und Bewegungsabläufe beim Spielen bekommen, das hilft auch beim Unterrichten sehr. 

Was ist dein Plan für die nächsten Wochen?

Mein Plan ist, keinen Plan zu haben. Einen Fuß vor den anderen zu setzen, nicht auszuflippen, wenn Schmerzen kommen, mit Zeit zu schauen, ob ich in dem Beruf arbeiten kann. Ich habe ganz tolle, verständnisvolle Kolleg:innen hier in Frankfurt. Die kennen mich auch schon, wissen, was ich auf dem Instrument kann, das ist ein Riesenvorteil. Ich kann mich einfach darauf konzentrieren, wie mein Körper diese Belastung mitmacht.

Ich gebe mir damit jetzt noch Zeit. Es muss nicht alles sofort perfekt sein. Aber wenn ich im nächsten Sommer nicht merke, dass meine Heilung weiterhin auf einem guten Weg ist und ich relativ schmerzfrei in diesem Beruf arbeiten kann, werde ich mich umorientieren. Ich werde nicht fünf Jahre lang unter starken Schmerzen kämpfen und dann bis ich 65 bin mit Rückenschmerzen im Orchester sitzen. Dazu ist mir mein Leben zu kostbar und ich weiß jetzt, dass ich es mit vielen anderen erfüllenden Dingen verbringen kann, auch wenn das bedeutet, mich noch einige Male neu aufzustellen. Aber ich freue mich riesig auf den Start an der Oper, auch auf die ganzen neuen Kontakte. Man wird etwas einsam, wenn man monatelang nur im stillen Kämmerlein spielt. 

Freust du dich auch auf bestimmte Stücke?

Ja, total. Ich bin ein Strauss-Fan, deswegen freue ich mich am meisten auf Capriccio. Auch wenn das schwer ist! Ich glaube, das wird fantastisch. ¶

... machte in Köln eine Ausbildung zur Tontechnikerin und arbeitete unter anderem für WDR3 und die Sendung mit der Maus. Es folgten ein Schulmusik- und Geschichtsstudium in Berlin und Bukarest. Heute lehrt sie Musikwissenschaft an der Universität der Künste Berlin und ist Redakteurin bei VAN. merle@van-verlag.com

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