Die Studienabbruchquote an deutschen Universitäten liegt bei etwa 30 Prozent. Wesentlich größer ist die Zahl derer, die während des Studiums mit ihrer Studienwahl hadern, einen Abbruch in Erwägung ziehen, ihren Berufswunsch überdenken. An Musikhochschulen dürfte das nicht anders sein. Trotzdem ist das Reden darüber ein Tabuthema: Das Klischee vom Musikerberuf als Berufung verträgt sich nicht mit einem grundlegenden Zweifel, ob man das Richtige tut. Die Ressourcen, die man selbst und (meistens) die Eltern bis zum Studium schon in die Ausbildung gesteckt haben, sind so groß, dass die Hemmschwelle für den Ausstieg weiter wächst: ›War das alles für die Katz?‹ Die künstlerische Ausbildung an Musikhochschulen ist wiederum oft ganz auf das Berufsziel »Orchester« ausgerichtet und lässt wenig Spielraum für alternative Wege. In einer Podcast-Reihe will die Junge Norddeutsche Philharmonie für das Thema »Ausstieg aus dem Musikstudium« sensibilisieren und einen Austausch initiieren: Was sind die Gründe für den Ausstieg, warum wird über das Phänomen so wenig geredet und inwiefern liegen die Ursachen dafür in der Ausbildung an Musikhochschulen? Einer der Hosts ist der Dirigent Christoph Altstaedt, der selbst sein Musik- für ein Medizinstudium aufgab, dann doch noch seinen Weg in den Musikerberuf fand und heute als freischaffender Dirigent und als Anästhesist arbeitet. Mit Hartmut Welscher sprach er über die Herausforderungen der Neuorientierung, Reaktionen aufs Musizieren in Teilzeit, die schwierige Vereinbarkeit von Musik und Familie und die Scheuklappen mancher Klassikfans.

Christoph Altstaedt • Foto © Peter Gwiazda

VAN: Gab es einen bestimmten Auslöser für deinen ›Ausstieg‹?

Christoph Altstaedt: Es gab bei mir einen Bruch, als ich nach meinem Vordiplom von Detmold nach Berlin gewechselt bin. Da fand die erste Bestandsaufnahme statt: Was kann ich? Erfülle ich meine eigenen Ansprüche? In Berlin hat sich die Messlatte insofern verschoben, als dass ich dort auf einmal mit sehr vielen Leuten konfrontiert war, die unlimitiert schienen in ihren Möglichkeiten. Ich musste mir zum ersten Mal eingestehen, bestimmte Fähigkeiten nicht zu haben und bis zur Abschlussprüfung realistischerweise auch nicht mehr erlernen zu können. Ich fragte mich, ob es so Sinn macht, diesen Weg weiterzuverfolgen. Nach einem Jahr habe ich festgestellt, dass mir die Lust am Studium abhanden gekommen ist, und auch das Musizieren so überlagert ist von diesen negativen Gedanken, dass ich jetzt einen Schritt zurückmachen muss. Dann habe ich mich für Medizin eingeschrieben. Es hat aber nochmal anderthalb Jahre gedauert, bis ich in der ersten Vorlesung saß, weil dieser Abnabelungsprozess von der Musik so schmerzhaft war – das Eingestehen, dass mein Weg nicht so gerade verläuft, wie ich es mir gedacht hatte. Die erste Medizinvorlesung hat dann tatsächlich richtig viel Spaß gemacht. Nicht die Distanz zur Musik, sondern die zum Studium war das Entscheidende. 

Du bist dann trotzdem nach einem Jahr wieder zurückgegangen an die Musikhochschule. Wieso?

Ich hatte das Gefühl, dass ich das Feld nicht kampflos räumen, sondern auf alle Fälle noch mein Diplom machen und das Studium sauber beenden möchte. Ich bin dann für ein Semester an die Musikhochschule zurückgekehrt, um die fehlenden Prüfungen abzulegen, von Korrepetition, über Partiturspiel bis zum Abschlussdirigieren. Dann bin ich wieder ins Medizinstudium gegangen.

Wie kam es dann dazu, dass du neben deinem Medizinstudium doch noch deinen Weg als Musiker gefunden hast?

Ich hatte unglaubliches Glück, weil ich neben dem Medizinstudium weiter Stipendiat im Dirigentenforum des Deutschen Musikrats geblieben bin. Da habe ich 2006 einen Opernkurs gemacht am Gärtnerplatztheater in München. Im Anschluss kam der Orchestervorstand und meinte: ›Wir suchen einen Korrepetitor mit Dirigierverpflichtung. Deine Arbeit hat uns gut gefallen, wir würden uns freuen, wenn du dir vorstellen könntest, diese Stelle zu übernehmen.‹ Da habe ich erstmal abgewiegelt, aber einige sehr gute Freunde haben mir zugeredet und gesagt: ›Du rutschst von einem Studium ins andere, du hast die wirkliche Arbeitsrealität nie erlebt. Und Oper ist sowieso nochmal etwas ganz anderes als Konzert. Du wirst dir ewig vorwerfen, es nicht wenigstens ausprobiert zu haben.‹ Darum bin ich nach München gegangen und hatte dort ein unglaublich glückliches Jahr. Das Orchester war wahnsinnig nett, der ganze Opernbetrieb hat Spaß gemacht, es war für mich sehr heilsam, das Korrepetitions- und Kapellmeisterdasein zu führen, weil man ein Rad von vielen war, Teil eines Teams, auch Teil eines Orchesters. Das hat meine Sicht verändert auf die Beziehung zwischen Dirigent und Orchester. Es war alles viel netter, als ich es mir vorher vorgestellt hatte. Nach dem Jahr München war für mich dann klar, dass ich gerne beides weitermachen möchte. 

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Du warst dann ab 2010 neben deinem Studium drei Jahre lang Kapellmeister an der Deutschen Oper am Rhein. Wie ging das parallel? 

Als das Angebot aus Düsseldorf kam, habe ich dem dortigen Generalmusikdirektor Axel Kober gesagt: ›So ein Angebot schlägt man natürlich nicht aus, ich hab aber das Medizinstudium in Berlin, das mir sehr viel bedeutet und das ich gerne weitermachen würde.‹ Daraufhin hat er vorgeschlagen, dass ich den Großteil meiner Zeit, von Anfang der Saison bis zum Beginn des Sommersemesters Mitte April, der Oper voll und ganz zur Verfügung stehe, und auch das normale Soll an Vorstellungen dirigiere, wir uns aber darum bemühen, dass alle meine Dirigate in dieses Dreivierteljahr fallen. Zum Sommersemester bin ich dann meistens zurück nach Berlin und habe in einem Semester versucht, möglichst viel aus zwei Semestern unterzubringen. Das haben wir durchgezogen bis zur Geburt unseres ersten Sohnes 2013. Dann habe ich die Stelle an der Deutschen Oper am Rhein aufgegeben, um mein Praktisches Jahr zu machen, das ging nicht anders. Seitdem bin ich freischaffend als Dirigent unterwegs. Bis ich jetzt eben kurz vor der Corona-Pandemie eine Teilzeitstelle als Anästhesist angetreten habe, aus familiären Gründen, weil wir ein drittes Kind gekriegt haben und meine Frau gesagt hat, dass sie nicht alleine mit zwei Kindern und einem Säugling die Stellung halten möchte, während ich irgendwo auf einer sechswöchigen Probenphase bin. Also haben wir beschlossen, dass ich wieder kürzer trete und eben als Mediziner vor Ort arbeite. Das war ein glückliches Timing, denn das fiel ziemlich genau mit dem Anfang der Pandemie zusammen. Ich weiß ehrlich gesagt noch gar nicht, wie es weitergeht. Ich könnte mir vorstellen, beides fortzuführen und diesen dualen Weg weiterzugehen.

Grafik: Thomas Römer, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Die Geigerin Vilde Frang hat in VAN erzählt: ›Ich habe alles, was ich habe, in die Musik gelegt, auf eine existentialistische Art und Weise, quasi auf Leben und Tod. Es würde sich fast wie eine Niederlage anfühlen, wäre ich jetzt nicht da, wo ich bin. Warum hätte ich sonst auf all das andere verzichten sollen?‹ Ist es schwerer, das Zweifeln während des Studiums zuzulassen, wenn man – wie viele klassische Musiker:innen – bis dahin schon so viel investiert hat?

Sicher, die Instrumentalausbildung hat im eigenen Leben meist von frühen Kindertagen an einen extrem hohen Stellenwert – sowohl emotional als auch zeitlich. Als Teenager verzichtet man dann auf vieles, weil man ganz viel in der täglichen Routine dem Instrument unterwirft. Dazu kommt, dass die meisten von uns mit dem Musizieren Positives assoziieren: die Jugendorchesterfreizeit, mit Leuten auf der Bühne zu stehen, großartige Musik zu erleben und zu teilen….

Stimmt der Eindruck, dass es in der Musikausbildung sehr stark eine ›Ganz oder Gar nicht‹-Vorstellung gibt, ›Erfolg oder Versagen‹, ›entweder ich gehe diesen Weg ganz bis zum Ende weiter, oder ich scheitere und es ist ganz aus‹? Es gibt ja noch viel dazwischen. 

Ich glaube schon. Ich weiß nicht, ob wir da alle noch diesem tradierten romantischen Bild des künstlerischen Genies hinterhertrauern. Ein Künstler muss etwas Besonderes schaffen, selbstlos, mit ganz viel Disziplin … Wenn man da nicht die höchsten Ansprüche erfüllt, dann ist man es es nicht wert, dann genügt man der Sache nicht. Es gibt diese Verklärung der Kunst: Nur die höchsten Diener mögen der Kunst dienen, und alle anderen sollen es bleiben lassen. Wenn der Interpret nur Mittelmaß ist, wird er dem Werk nicht genüge tun. Einen hohen Anspruch zu formulieren ist einerseits richtig, weil man sich anstrengen muss, um diesen Kunstwerken gerecht zu werden, aber andererseits darf damit nicht ein Ziel verbunden sein, an dem man nur scheitern kann. Diese Mischung aus Leistungsdruck, Geniekult und dem Anspruch, etwas Besonderes sein zu müssen, kann dazu führen, dass Leute aufgeben oder sich bis zur Unkenntlichkeit verbiegen. Warum muss es immer das Außergewöhnliche sein? Warum reicht es nicht, überdurchschnittlich gut Musik zu machen? Warum muss es immer die nächste Argerich, immer der nächste Carlos Kleiber sein? Von dieser Vermarktung wird ganz viel an die jungen Studierenden herangetragen.

Hattest du vor dem Hintergrund dieser tradierten Bilder Angst, dass Leute sagen: ›Dann ist er gar kein richtiger Musiker, wenn er noch Medizin studiert‹?

Ja, während meines Studiums haben das auch deshalb nur die wenigsten gewusst. Ich wollte nicht, dass das publik wird, weil ich Sorge hatte, dass die Anfragen für das Dirigieren ausbleiben, wenn die Leute denken: ›Ach komm, der studiert Medizin, der ist wahrscheinlich nicht überzeugt von dem, was er tut, und wenn er nicht davon überzeugt ist, wie soll er dann uns überzeugen?‹ Und natürlich sind die Konzertveranstalter immer auf der Suche nach dem nächsten 22-jährigen, der außergewöhnlich ist, dem neuen Stern am Dirigentenhimmel. Da passt es natürlich nicht gut, wenn jemand sagt: ›Ganz ehrlich, ich bin auf der Suche und studiere noch etwas anderes.‹ 

Grafik: Thomas Römer, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Der Geniekult in der klassischen Musik ist alt und sitzt tief. Glaubst du, dass der einfach immer weiter reproduziert wird, auch von Medien, oder ändert sich da gerade was?

Ich glaube, dass es sich tatsächlich verändert, weil es nicht mehr genügt, ›Genie‹ zu sein. Das hat man bei der Metoo-Debatte gesehen. Man hat den schauspielerischen, künstlerischen, dirigierenden ›Genies‹ über die letzten hundert Jahre die ganzen menschlichen Vergehen nachgesehen, man hat darüber hinweggeschaut. Aber jetzt nicht mehr. Auch in den Orchestern gibt es zwar immer noch den Wunsch nach diesem dirigierenden genialen Übermenschen, der da vor einem steht und mich von mir aus auch knechtet und niedermacht, weil es ja einem höheren Ziel dient, aber ich glaube, diesen Wunsch hegt inzwischen nur noch eine Minderheit. Die meisten Musiker:innen wollen nicht mehr alles diesem Geniekult unterwerfen, sondern sagen: ›Ich muss mich wohlfühlen beim Spielen, ich möchte natürlich so gut es geht Musik machen, aber ich möchte hier mit meinen Kolleg:innen spielen.‹ 

Und in der Ausbildung? Du hast davon gesprochen, wie die Vermarktungsmechanismen an Studierende weitergegeben werden. 

Ich glaube, auch da ist viel in der Auflösung begriffen. Wenn ich bei Studierenden oder Jugendorchestern bin, stelle ich immer wieder fest, dass das Ziel, eine Stelle in einem öffentlich finanzierten Orchester zu ergattern, gar nicht mehr die höchste Priorität hat – weil ganz viele Menschen mit der Institution Orchester heute ein Problem haben: es ist schwierig, mit 70 Menschen beruflich ein Leben lang etwas so Hochemotionales wie Musik zu teilen. Ausserdem ist man relativ stark fremdbestimmt: selten entscheiden die Musiker:innen, welches Repertoire und mit welchen Solist:innen musiziert wird.… Das hat viel Konfliktpotential. In den letzten Jahren sind immer mehr Ensembles entstanden aus dem Bedürfnis heraus, nicht mehr im tradierten Sinne zusammenzuspielen. Dadurch wird hoffentlich auch dieser Fokus, Musiker:innen auszubilden, damit sie eine Solo-Stelle im Orchester bekommen, immer mehr in den Hintergrund gerückt. Aufgabe des Studiums muss auch sein, Menschen Lösungen und Optionen aufzuzeigen, die außerhalb des traditionellen Orchesterspiels liegen. Es gibt immer mehr Leute, die Lust haben auf freie Orchestertätigkeit. Da wird sich viel tun, hoffentlich auch was die soziale Absicherung angeht. Das nimmt dann vielleicht auch den Druck von den Studierenden, so dass man nicht mehr sagen muss: ›Ich muss jetzt die 199 Konkurrent:innen für die Solo-Oboenstelle in Dresden ausstechen‹, sondern: ›Hier bin ich, mit meinen Stärken und ich suche mir jetzt Menschen, mit denen ich gerne Musik mache, mit denen ich mich wohlfühle und mein Potential abrufen kann.‹ Denn das ist ja häufig das Problem im Studium: Wenn der Druck so immens wächst – entweder intrinsisch, weil die Leute glauben, sie genügen ihren Ansprüchen nicht, oder von außen, weil die Lehrenden sehr streng sind, oder weil über allem das Probespiel-Damoklesschwert hängt – führt das dazu, dass die Leute gehemmt sind. Und das ist ja eigentlich genau das Gegenteil von dem, was Studium oder Ausbildung sollen: Im Idealfall wird ja alles an Potenzial freigesetzt, was der Mensch mitbringt.

Ein ›genialer Künstler‹, über dessen Missbrauchstaten der Klassikbetrieb lange den Mantel des Schweigens gehüllt hat, war James Levine. Du hast zwei Mal mit ihm in Tanglewood als Stipendiat gearbeitet. Wie wurde dort mit den Vorwürfen umgegangen?

Es war tatsächlich kein Thema. Ich glaube, die meisten hatten von Gerüchten gehört. Aber offen darüber gesprochen hat niemand und ich habe das Monster in ihm auch nicht kennengelernt, sondern nur den überragenden Geist, der die Sachen künstlerisch durchdrungen und fabelhaft geprobt hat.

Auf deiner Webseite gibt es ein Video, in dem du sagst, dass du ›daran glaubst, dass Musik jeden Menschen zu einem besseren Menschen macht‹. Ist das Naivität oder Marketing oder einfach Reproduktion von einer Floskel?

Ich glaube tatsächlich, dass Musik Menschen zu besseren, vollkommeneren Menschen machen kann. Das mag nicht immer im Einzelfall funktionieren und auch ich habe schon mit Menschen musiziert, die armselige Menschen, aber hervorragende Musiker waren, aber ich glaube, dass man durch das Theater, durch die Oper, wo man das Schicksal anderer Menschen miterleidet und miterlebt, tatsächlich zu einem hellhörigeren, sensibleren Menschen werden kann. Dass das bei jedem einzelnen nicht immer funktioniert, ist leider so. Davor sind leider auch Musiker:innen nicht gefeit.

Grafik: Thomas Römer, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Wobei dann immer noch die Frage wäre, um welche ›Kultur‹ es hier geht und ob nicht fast jede Erfahrung den Menschen zu einem ›besseren‹ machen kann, wenn man sich mit der richtigen Haltung und Offenheit nähert. 

Ich muss ja gar nicht die vermeintliche ›Hoch-Kultur‹ sein. Aber ich glaube, dass Musik, Tanz, Kunst wichtig für die Menschwerdung sind. Ich sehe das jetzt bei meinen Kindern. Was wollen Kinder, wenn sie klein sind? Sie wollen spielen, sie wollen, dass man ihnen vorsingt, sie wollen Geschichten hören. Ich fand das bei unserem ersten Sohn eine sehr ermutigende Erfahrung, weil ich das Gefühl hatte, das Bedürfnis nach Kunst, Bewegung, Sport und Musik ist augenscheinlich die Natur des Menschen, weil es das ist, was die Kinder als erstes tun.

Wie haben denn Kolleginnen und Kollegen auf deine Zweigleisigkeit reagiert?

Es gibt jene, die damit überhaupt nichts anfangen können, weil sie diese Form des Zweifelns nicht kennen, die irritiert sind, wenn jemand den Musikerweg und die Ausbildung infrage stellt. Manchmal hatte ich schon das Gefühl, dass die Leute es als einen Verrat an der Sache empfunden haben: ›Wie kannst Du der Musik den Rücken kehren? Sie ist doch unser Ein und Alles!‹ Auf medizinischer Seite waren Anerkennung und Interesse immer groß. Ansonsten habe ich das im professionellen Leben nicht an die große Glocke gehängt, weil ich eben Sorge hatte, dass es mir als Dirigent schadet.

Und jetzt?

Inzwischen habe ich vor allem mit mir selbst meinen Frieden damit gemacht. Ich bin sehr glücklich mit dieser Aufteilung zwischen Familien- und Berufsleben, aber auch mit der Aufteilung zwischen Musik und Medizin. Vielleicht habe ich auch ein Grundvertrauen entwickelt über die Jahre – weil es trotz allem immer schöne Sachen zu dirigieren gab –, dass das auch weiter so sein wird.

Wie ist der Klassikbetrieb mit eurem Familienmodell umgegangen, was hat zum Beispiel deine Agentur gesagt, als du Elternzeit genommen hast?

Ich hatte eine sehr nette Agentin, die bei der ersten Elternzeit sehr schützend ihre Hand über mich gehalten hat, was ich allerdings erst im Nachhinein festgestellt habe. Als dann das zweite Sabbatical für das zweite Kind anstand, hat das zum offenen Bruch mit der Agentur geführt. In dieses halbe Jahr Elternzeit fielen ein paar wichtige Engagements. Nur konnte ich ja die Geburt unserer Tochter nicht verschieben. Es gibt in meiner Branche ganz viele klassische Familienmodelle, in denen der Dirigent oder die Dirigentin weiterarbeiten und der Partner zu Hause auf die Kinder aufpasst. Das wollten wir nicht. Meine Agentur hat daraufhin gesagt: ›Sie müssen sich entscheiden, was sie wollen.‹ Natürlich klang da genau das mit, worüber wir eben sprachen: ›Wenn Sie wirklich dirigieren wollen, dann müssten Sie doch eigentlich jeden Tag auf der Bühne stehen wollen. Wenn Sie das nicht möchten, müssen sie sich fragen, ob es das Richtige für Sie ist.‹ Ich durfte mir dann eine neue Agentur suchen.

Wie hat sich dein Blick auf die Klassikwelt jetzt durch deinen Job in der Klinik verändert?

Wenn ich im OP mal 5 Minuten Kaffeepause habe, gehe ich in einen Raum, da sitzen OP-Pfleger und Anästhesie-Pflegerinnen und Ärztinnen und kaum jemand interessiert sich für Klassik. Das ist ein Riesenproblem, dass wir uns immer in unserer Blase befinden und meinen, man könnte sich mit allen über irgendwelche Tempoübergänge in Bartók-Quartetten unterhalten, während 99 Prozent der Menschen nicht mal Lang Lang kennen. Die Verzerrung findet auch dadurch statt, dass wir leider immer noch ein wahnsinnig elitärer Betrieb sind, oder zumindest so wahrgenommen werden. Ich finde es frappierend, im Krankenhaus sagen viele: ›Ich höre keine Klassik, das ist so unnahbar, das ist das, wo der Professor Doktor immer hingeht, da habe ich als Anästhesie-Pfleger das Gefühl, da gehöre ich nicht hin.‹ Das kriegen wir in der Klassikbubble größtenteils gar nicht mit. Deshalb sind viele jetzt aus allen Wolken gefallen, als sie während der Pandemie zu hören kriegten, dass die Politik nicht an uns denkt und dass der Stellenwert, den Musik im eigenen Leben hat, momentan gesellschaftlich überhaupt nicht geteilt wird. Insofern war die Pandemie auch ein Weckruf. Man kann nicht alle Menschen Brüder werden lassen, wenn man nicht alle Menschen erreicht. ¶

... ist Herausgeber von VAN. Er studierte Development Studies, Ethnologie und Asienwissenschaften in Berlin, Seoul, Edinburgh und an der London School of Economics und arbeitete im Anschluss zehn Jahre als Berater in Projekten der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. 2014 gründete er mit Ingmar Bornholz den VAN Verlag, wo er auch als Geschäftsführer fungiert. hartmut@van-verlag.com

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