Das Eingangsportal des Meininger Bahnhofs ist verriegelt, die Fenster auf der Rückseite mit Reklame-Plakaten für eine längst umgezogene Taxizentrale verklebt. Ein roter Pfeil am Bauzaun davor weist den Weg zur geschlossenen Spielbank im Nachbargebäude. Auf den ersten Blick erinnert hier nichts an das mondäne Flair der ehemaligen Herzogresidenz. In einem Schaukasten am Straßenrand lese ich die Titel vergangener Opernpremieren und der jetzt bevorstehenden Uraufführung: Tote Stadt, Feen, Gespenster. Passt zum südthüringischen Städtchen, das bereits zur Mittagszeit wie ausgestorben wirkt. Vor mir erstreckt sich der Englische Garten bis zur Innenstadt und umschließt mit aufkeimendem Grün das große neoklassizistische Theater. Poröse Sandsteinsockel, verlassene Rondelle und leergeräumte Lauben lassen erahnen, wie prächtig der Park, den der Großvater des Meininger Theaterherzogs Ende des 18. Jahrhunderts anlegen ließ, einmal gewesen sein muss. Auf den berühmten Enkel Georg II., der Meiningen Mitte des 19. Jahrhunderts in eine glamouröse Theatermetropole verwandelte, stößt man überall in der Stadt. Streng blickt er im Park als Bronze-Plastik auf die Spaziergänger herab,  etwas milder blickt er aus dem Goldrahmen an der Wand des Theaterfoyers auf die Besucher.

Mit seiner dritten Frau, der Schauspielerin Ellen Franz (für die er nicht nur seinen Platz in der herzoglichen Gruft aufgab, sondern auch etliche andere Privilegien) entwickelte Georg II. die Meininger Prinzipien, die das Theater grundlegend revolutionieren sollten. Plötzlich stand die Ensemble-Leistung über dem Starkult – und zeitgemäßes Theater wurde ein Gesamtkunstwerk aus Musik, Literatur und Bühnenbild, dessen Ergebnis der Regisseur verantwortete. Georg schuf damit die Grundlagen des modernen Regietheaters. Auf seine Prinzipien beriefen sich Stanislawski, Max Reinhardt, Elia Kazan und Lee Strasberg. »Ohne Meiningen kein Hollywood« lautet bis heute das selbstbewusste Credo im Theater.

Als Georg II. das Theater 1866 übernahm, wickelte er die kostspielige Musiktheater-Sparte ab. Lieber wollte er das Geld für Tourneen ausgeben, um seine Ideen weiter zu verbreiten. Zwischen 1874 und 1890 unternahmen die Meininger 81 Gastspielreisen, spielten Schiller, Goethe , Shakespeare und Ibsen und kamen dabei über Paris und London bis nach Oslo und Moskau.

Dafür entwarf Georg II. eigenhändig Kostüme und skizzierte Bühnenbilder, die er bei den besten Theatermalern seiner Zeit, den Gebrüdern Brückner aus Coburg, in Auftrag gab. Deren große Prospekte ließ er immer wieder neu zusammenrollen, um sie auf seine weiten Reisen mitzunehmen. 280 von ihnen sind noch erhalten und im Theatermuseum gegenüber dem Schloss zu bewundern.

Als auf der Bühne am 5. März 1908 gegen Mittag plötzlich Feuer ausbrach, wohl wegen eines nachlässigen Heizers, gab Georg II. die Anweisung, »den Kasten« abbrennen zu lassen. Wichtig waren ihm nur die Kulissen und Requisiten, für deren Rettung viele Meininger selbst Hand anlegten. Sie sollten die Grundlage für ein neues Theater bilden, das schon 1909 wiedereröffnet wurde.

Neubau des Theaters, 1909 • Foto: Public Domain

Vor dem Bühneneingang empfängt mich heute Pressechefin Susann Höfner. Eine schnelle Runde um das Haus, vorbei am Ententeich, wo ein schnatternder Schwarm versucht, auf den künstlichen Ruinen im Wasser zu landen. Susann Höfner weist auf die Säulen aus rötlichem Sandstein an der Theaterrückwand. Ursprünglich sei dies die Frontfassade gewesen, die den Brand fast unbeschadet überstanden hatte. Beim Wiederaufbau wurde sie zum Rückgrat des neuen Theaterbaus.

Im Foyer rahmen Schiller und Goethe das zwei Meter hohe Porträt Georg II. Mit weißem Rauschebart und langem Gehrock scheint er über allem im Raum zu schweben. An den Seitenwänden sind die Büsten von Shakespeare, Grillparzer, Beethoven, Mozart, Brahms und Wagner aufgereiht – Georgs persönlicher Künstler-Olymp. Shakespeare muss ihm darin der liebste gewesen sein – als einziger hält er direkten Blickkontakt zum Herzog-Bild. Georg II. konzentrierte sich auf das Sprechtheater, schätzte aber die genannten Komponisten und natürlich die Meininger Hofkapelle, die bereits seit 1690 existierte und zwischen 1701 und 1731  ihre erste Blütezeit als wichtiges Barockorchester feierte. Das Meininger Theater musste keine Schließzeiten verkraften. Weder die Wende von der Monarchie zur Demokratie, die Zeit des Nationalsozialismus, noch der zweite Weltkrieg unterbrachen die Theaterarbeit. Bereits zu DDR-Zeiten erlangte das Meininger Haus als Bezirkstheater überregionale  Bedeutung und blieb trotzdem ein Nischentheater nahe der Zonengrenze, in dem es möglich war, Stücke aufzuführen, die in Berlin der Zensur zum Opfer gefallen wären. Nach dem Mauerfall erlebte vor allem das Musiktheater  einen rasanten Aufschwung, der nur möglich war, weil prominente Unterstützer wie Vicco von Bülow und August Everding auf ihre Gagen verzichteten. Zu Beginn der 2000er Jahre sorgten schließlich Christiane Mielitz und Kirill Petrenko mit einer legendären Ring-Inszenierung  an vier aufeinander folgenden Tagen für Furore.

Und morgen, zur Uraufführung der Gespenster? Der Vorverkauf sei schleppend angelaufen, gibt Jens Neundorff von Enzberg zu, der seit 2021 Intendant des Staatstheaters Meiningen und des Landestheaters in Eisenach ist und das Projekt von seinem Vorgänger Ansgar Haag übernommen hat. Ursprünglich sollte der Opern-Erstling des norwegischen Komponisten Torstein Aagaard-Nilsen schon 2020 gespielt werden, aber wegen der Pandemie wurde verschoben. 

Über die Auslastung könne er »absolut nicht klagen«, sagt Neundorff von Enzberg. »16.0000 Zuschauer kamen in der vergangenen Spielzeit und Mitte Februar haben wir mit mehr als 3.000 Gästen einen rauschenden Theaterball gefeiert.« Selbst die Feen, eine frühe, eher sperrige Oper Richard Wagners, mit der die aktuelle Spielzeit eröffnet wurde, war acht Mal hintereinander nahezu ausverkauft. Die Feen und Ivan IV – eine Grand Opéra von Georges Bizet, die lange als verschollen galt und im letzten Jahr in Meiningen ihre deutsche Erstaufführung erlebte – waren die erfolgreichsten Opernproduktionen der vergangenen zwei Jahre.

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40 Prozent des Meininger Publikums kommen aus Bayern und Hessen.  Zehrt das Haus noch immer von der Ära Georg II.? »Die besondere Geschichte des Theaters wirkt bis in die Gegenwart«, sagt Neundorff von Enzberg, »trotzdem leben wir nicht mehr zu Zeiten des Herzogs, als Meiningen in ganz Europa der Inbegriff für fortschrittliches Theater war. Nicht jede Produktion ist ein Selbstläufer. Unsere Attraktivität müssen wir immer wieder von Neuem beweisen.« Besonders bei zeitgenössischem Musiktheater, was er persönlich für unverzichtbar halte, überlege er sich genau, in welcher Form er das in Meiningen anbieten könne.

Wie ist die Stimmung in der Stadt, die zwischen SPD-Bürgerschaft und AfD- Wählern schwankt? Nach aktuellen Hochrechnungen würden auch In Meiningen über 30 Prozent für die extremen Rechten stimmen. Wie reagiert das Theater? Neundorff runzelt die Stirn. »Das ist besorgniserregend, absolut. Als kulturelle Institution sind wir überparteilich, unparteilich – unsere Türen stehen allen offen. Aber zugleich wollen wir unsere kreative Arbeit als vielfältigen Raum beschützen und wir zeigen klare Haltung, sobald dieser bedroht ist. Mit anderen Mitteln als Politiker das tun  – spielerischer. Als vor eineinhalb Jahren eine große AfD-Kundgebung stattfand, die auch am Theater vorbeizog, haben wir nicht zur Gegendemo aufgerufen, sondern die Demonstranten aus drei Boxen vor dem Eingangsportal mit Beethovens 9. beschallt, die Theatermitarbeiter haben dazu gemeinsam mit Bürgern der Stadt gesungen. Dafür wurden wir von AfD-Anhängern als Nazis beschimpft! Absurd …!«

Den Erfolg der AfD sieht Neundorff von Enzberg auch als mediales Ergebnis einer einseitigen, oftmals reißerischen Berichterstattung: »Warum schreibt niemand, dass wir hier in Thüringen mit einer rot-rot-grünen Minderheitsregierung die Finanzierung der Theater bis 2032 gesichert haben? Egal wer ab Herbst in Erfurt sitzt. Wir sollten gerade jetzt viel mehr betonen, was wir erreicht haben.«

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Neundorff von Enzberg ist davon überzeugt, dass sein Theater in Meiningen viel zum demokratischen Diskurs beitragen kann: »Wir können populistische Generalismen entzaubern. Und durch die unterschiedlichsten Stücke, Angebote und Sprachen – mitreissende, subversive, verführende – zum genauen Hinsehen und Zuhören anregen. Wunder können wir natürlich nicht bewirken, auch nicht ausbügeln, was die Politik versäumt hat. Aber solange wir mit kreativen Argumenten punkten, animieren wir zumindest unser Publikum, seine Passivität über Bord zu werfen.«

Einmal im Monat verwandelt sich das Meininger Theaterfoyer in eine Jukebox. Das »Feierabendsingen« lockt Meininger aus unterschiedlichsten Schichten ins Theater. Aus einer Playlist mit wechselnden Themen kann jeder seinen Lieblingssong wählen, den alle dann gemeinsam schmettern.  Viel lustiger als Karaoke sei das, sagt Neundorff von Enzberg: »Plötzlich kommen Menschen ins Theater, die man sonst dort nie sieht.«

Mit Schülern der Musikschule Johann Sebastian Bach in Eisenach plant Neundorff von Enzberg noch in dieser Spielzeit die Kinderoper Brundibar von Hans Krása am Theater Eisenach. Sie entstand  größtenteils im KZ Theresienstadt und rettete dort einige mitwirkende Kinder vor dem sicheren Tod. Zum ersten Mal wird dieses Werk nun in Eisenach aufgeführt. Kooperationen mit Schulen bestünden seit langem, sagt von Enzberg. Inzwischen wachsen sie über Meiningen hinaus und würden auch in Suhl und Hildburghausen ausgebaut. 2021 wurde die Sparte Junges Theater neu gegründet, die sich ausschließlich dem Nachwuchs widmet und Puppentheater, Schauspiel, Musiktheater- und Konzert-Angebote mit und für Kinder und Jugendliche erarbeitet.

Am Abend sitze ich in den Kammerspielen des Meininger Theaters, einem ehemaligen jüdischen Kaufhaus. Alle 200 Plätze im Zuschauerraum sind besetzt. Auf der Bühne turnen zwanzig Schüler auf Schulbänken, übertrumpfen sich krächzend mit Lieblingssongs, um noch vor Unterrichtsbeginn ein cooles Insta-Reel zu posten, bis der Lehrer auf einem schepprigen Keyboard einen Akkord anschlägt. Die Welle in Meiningen beginnt mit Musikunterricht. Der Lehrer erheischt den Respekt der Schüler erst im Moment der autoritären Gleichschaltung – ein Experiment, das immer mehr aus dem Ruder läuft. Und das sehr realitäts- und schulhofnah, denn Gabriela Gillert, die Leiterin des Jungen Theaters, hat das Stück mit Meininger Schülern erarbeitet. Dass faschistoides Denken immer noch und vor allem überall zu finden ist, übersetzt sie in erschreckend mitreißende Moves und Szenenbilder.

Szene aus Die Welle • Foto © Christina Iberl

Am nächsten Vormittag führen mich Susann Höfner und Ausstattungleiter Christian Rinke durch die Werkstätten. Hohe grüne Fenster, weißer Backstein. Der Malsaal ist das Herz der Werkstätten – zugleich der größte Arbeitsbereich. Auf der Galerie drängen sich Puppen ohne Arme oder Beine, manchen fehlt ein Auge, einigen baumelt ein Strick um den Hals – ein Gruselkabinett, das sich aus den Requisiten abgespielter Stücke zusammengefunden hat. Kulissenteile werden hier hergestellt, auch der Bühnenboden der Gespenster, der aus einer früheren Lohengrin-Produktion stammt, sei hier neu bemalt worden. »Im Übrigen auch der Prospekt, nach dem berühmten Eismeer-Bild von Caspar David Friedrich«, erklärt Herr Rinke. Ein riesiger Styropor-Berg versperrt uns den Weg, Schnee-Verwehungen für das Bühnenbild der Drei Schwestern sollen daraus entstehen. Für die Premiere im März brauchen sie noch Fluff, Volumen, zwei Mitarbeiterinnen sind bereits am Kaschieren. Styropor gilt als Sondermüll, aber noch habe man keine praktikable Öko-Alternative, so Rinke. Allerdings gäbe es Ambitionen verschiedener Thüringer Theater Bühnenbilder in einer Halle bei Eisenach aufarbeiten, auch recyceln zu lassen.

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Zwischen Werkstattbesuch und einem Gespräch mit GMD Killian Farrell bleibt noch Zeit für einen Blick auf die Bühne. Plötzlich finde ich mich inmitten einer Gruppe fröhlicher Würzburger Rentner im Bühnenbild der Gespenster. Die niedrigen Sessel im skandinavischen Chic sind bequem, kurz lehne ich mich zurück. Caspar David-Friedrichs Eismeer-Schollen baumeln direkt vor meiner Nase, ich versuche herauszufinden, welche Teile frisch bemalt wurden, doch die davorgeschobene Ikea-Tapete vereitelt das.

23 Meter sind es vom Bühnenparkett bis zum Schnürboden. Ein schwindelerregender Abstand. Hingegen wirkt der Zuschauerraum, mit seinen prächtigen goldverzierten Rängen, überraschend nah am Bühnengeschehen.

Im Anschluss suche ich einen ruhigen Platz neben Richard Wagner im Foyer, um per Videocall mit Meiningens GMD Killian Farrell zu sprechen. Farrell probt gerade mit dem irischen Kammerorchester in seiner Heimatstadt Dublin.

Es sei ein absoluter Glücksfall, nach Stationen als Korrepetitor und Kapellmeister in Bremen und Stuttgart nun die Leitung der Meininger Hofkapelle übernommen zu haben, schwärmt Farrell zur Begrüßung und strahlt über den kompletten Screen. Mit 29 Jahren zählt er zu einem der jüngsten GMDs an einem deutschen Theater. Dass ein Orchester dieser Größe (67 Musiker, 62 Planstellen) eine solche Bandbreite absolviere – 12 verschiedene Opern und zwei Ballette würden sie in dieser Spielzeit spielen: Premieren, Wiederaufnahmen, auch mit besonderem Augenmerk auf das deutsche Repertoire – wäre gerade für jemanden am Anfang der Karriere besonders attraktiv. Sein Einstand mit Wagners Feen sei ideal gelaufen, »auch weil es kein klassisches Referenzstück ist, sondern ein unausgegorenes Frühwerk, das die Keimzellen der Meistersinger, von Tannhäuser und Lohengrin zwar schon in sich trägt, aber unbedingt Kürzungen bedarf, auch für eine stringente Personenregie.«

Farrell genießt es, in jeder Ecke der Stadt Geschichte aufzuspüren. »Nie habe ich mich einem musikalischen Ursprung so nahe gefühlt wie hier in Meiningen«, sagt Farrell. »Ein Orchester mit einer 334 Jahre alten Geschichte, und solchen Vorgängern – Richard Strauss, Hans von Bülow, Fritz Steinbach, Max Reger – das ist doch einfach unglaublich!« Außerhalb des Theaters sitze er am liebsten im Lesesaal des Museums, vertieft in alte Partituren. »Da liegt ein einzigartiger Schatz: Orchestermaterial von Reger, Steinbach, die alten Beethoven-Stimmen, die Bülow noch benutzt hat. Das inspiriert ungemein.« Bei der Vorbereitung für das Reger-Festkonzert im vergangenen November, für das Farrell auch Regers romantische Suite nach Gedichten von Joseph von Eichendorff dirigierte, entdeckte er in den Originalstimmen Notizen des ersten Posaunisten: »Er hatte sich akribisch alle Tourneedaten notiert. Bei einem Konzert in Colmar 1913 schrieb er: ›Besonders gut bei den Franzosen angekommen.‹ Das ist doch nicht nur witzig und musikwissenschaftlich aufschlussreich, sondern vor allem lebendige Kulturgeschichte!«

Den Meininger Sinfoniekonzerten würde er in Zukunft aber gerne etwas »von ihrer Heiligkeit« nehmen, mit eigenen Moderationen, in denen er musikalische Motive und Besonderheiten vorstellt, »natürlich ohne didaktischen Unterton«. Und im Konzertbereich will Farrell den bisherigen Fokus auf das romantische Repertoire öffnen und frühen Barock mit zeitgenössischen Komponisten verbinden: Rameau und George Benjamin zum Beispiel. »Die Geschichte würdigen, aber vorwärtskommen!« Dazu gehöre auch die Suche nach neuen Formen und Formaten, sagt Farrell. »Oper kann  manchmal einfach bieder wirken, es braucht einen langen Atem, eine hohe Konzentrationsdauer, und wir dürfen uns nicht scheuen, nach neuen Wegen und Handschriften zu suchen – gerade auch für das junge Publikum.« In der kommenden Spielzeit sei ein Kinderkonzert mit einer Musikpädagogin aus Weimar geplant, bei dem die Meininger Hofkapelle musikalisch in die Welt des Zirkus eintaucht. Auch Konzerte für Kinder ab zwei Jahren stünden bereits auf dem Programm, wofür man Musik aus dem Nahen Osten mit deutschem Repertoire verbinde. In einem anderen Format wolle man ausprobieren, die Kinder direkt auf die Bühne im Großen Haus neben die Musiker zu setzen, »um die freigesetzte Energie der Klangerzeugung direkt zu teilen.“ Farrell ist gespannt, wie das ankommen wird – vor allem auch bei den Eltern: »Die Generation der 30- bis 40-Jährigen fehlt den Theatern meist – auch uns in Meiningen. Wenn die erkennen, wie positiv sich Musik auf die kognitive und seelische Entwicklung der Kinder auswirkt, gewinnen wir vielleicht auch sie als Publikum wieder zurück.«

Den spezifischen Sound der Meininger Hofkapelle beschreibt Farrell als »einen warmen, zugleich sehr klaren und transparenten Klang, bei dem man alle Feinheiten durchhöre«.  Diese Qualitäten wolle er unbedingt erhalten, »wenn es geht, auch verbessern«. Dafür müsse man immer wieder an der Basis arbeiten, auf Präzision bestehen. »Ich sage dazu Plaque entfernen, wie ein Zahnarzt, ganz pragmatisch, wenn ich versuche, das Zusammenspiel zu optimieren. Nur so kann ich Zuhören ermöglichen. Das ist etwas sehr wichtiges, eigentlich meine Hauptaufgabe. Dass die Musiker verstehen, auf welche Kollegen sie exakt in diesem Moment hören müssen. Nur so entsteht ein unverwechselbarer Klang, einer, der auch das Publikum aufhorchen und innehalten lässt.«

Zur Uraufführung der Gespenster hebt Farrells Vorgänger Philippe Bach den Taktstock. Zartes Gläserklirren dringt aus dem Orchestergraben, das nach wenigen Takten von nervösen Streicher-Pizzicati erstickt wird, ein dunkles Cello-Tremolo bäumt sich auf. Es passt zu diesem Haus, in dem Tradition und Moderne so ineinander verwoben sind, den Vorgängern nicht die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Und so kehren an diesem Abend nicht nur der frühere GMD Philippe Bach in den Graben und Ex-Intendant Ansgar Haag als Regisseur auf die Meininger Drehbühne zurück, sondern auch Henrik Ibsens Geist im umgearbeiteten Lohengrin-Prospekt. Ansgar Haag beschwört eine Familienaufstellung, die sich einfach nicht auflösen lässt – obwohl die Toten ihr Bestes geben, die Lebenden zu beraten und die Drehbühne unzählige Runden fährt. Aus Ibsens Worten fügen sich neue Sätze, die die Schuld der Väter auf die Schultern der narzisstischen Helikopter-Mama Helene Alving laden. Einzig Torstein Aagaard Nilsens Musik weiß einen Ausweg. Denn sie vermag aus bekannten Parametern überraschende, kraftvolle Melodien zu schöpfen und zersetzt spätromantische Streicherflächen mit lässigem Jazz, verwandelt einen fröhlichen Walzer in eine hysterische Tarantella. Das Meininger Ensemble singt jede Silbe des anstrengenden Librettos ausnehmend schön. Allen voran Monika Reinhard als Regine, die ihre perlenden Koloraturen dem ausweglosen Konstrukt aus quälender Erinnerung und erdrückender Liebe entgegensetzt, aber auch Marianne Schechtel als Helene Alving und Mykhailo Kushlyk als Osvald, die in ihren Szenen unwiderstehliche Sogkraft entwickeln.

Mykhailo Kushlyk, Mikko Järviluoto und Shin Taniguchi in den Meininger Gespenstern • Foto © Christina Iberl

Die Meininger Hofkapelle klingt dabei wie von Killian Farrell beschrieben: transparent, mit großer Hingabe zu jeder Klangnuance.

Die Familie als Keim- oder Terrorzelle der Gesellschaft – der Gedanke ist aktueller denn je. In Zeiten, in denen Rechtspopulisten sich wieder bemühen, die Deutungshoheit über diese Konstellation zu erlangen, hinterfragen die neuen Gespenster in Meiningen Eindeutigkeit und Abgrenzung und stellen unaufdringlich gewichtige Fragen – nach dem Klang wahrer Liebe und falscher Erinnerung. ¶