Mit ihm zu arbeiten, sei ein Geschenk des Lebens, schwärmt der Flötist Emmanuel Pahud auf meine Nachfrage, die Sopranistin Carolyn Sampson sieht das ähnlich: »Er ist für mich der vollkommene Musiker, der Talent, harte Arbeit und Fürsorge für die Menschen um ihm herum vereint.« Die Rede ist von dem Cembalisten und Dirigenten Trevor Pinnock. Als einer der Pioniere der historisch informierten Aufführungspraxis ist er seit mehr als 50 Jahren ein bedeutender Teil der Musikwelt, weit über die Grenzen der Alten-Musik-Szene hinaus. Auch mit 77 Jahren pflegt der Musiker eine rege Konzert- und Aufnahmetätigkeit und bleibt dabei stets beeindruckend jugendlich. Dies liegt nicht zuletzt an seiner Neugierde auf Unbekanntes und Ungewohntes, die ihm bis heute erhalten geblieben ist.

VAN: Sie haben in einem Interview gesagt, dass mit dem Beginn der Bewegung der historisch informierten Aufführungspraxis Anfang der 1970er Jahre größere Orchester aufgehört haben, Musik aus früheren Epochen wie Mozart oder Bach zu spielen. Wie ist es dazu gekommen?

Trevor Pinnock: Als wir 1972 angefangen haben, Alte Musik mit historischen Instrumenten auf größeren Bühnen aufzuführen, galt das als eine Art kurioser Nebenschauplatz der Klassikwelt. Nichts wurde ernst genommen, nur von ein paar Leuten. Damals haben die großen Orchester regelmäßig Haydn und Mozart gespielt. Aber als das Musizieren mit historischen Instrumenten immer besser wurde, haben die Sinfonieorchester fast ganz aufgehört, Haydn und Mozart zu spielen. Das war schockierend und sehr schade, denn sie waren immer Teil des Repertoires dieser Orchester und sollten es auch sein.

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Das hat sich ja jetzt auch wieder geändert … 

Ja, jetzt befinden wir uns in einer bemerkenswerten Situation. Als ich vor ein paar Monaten beim Orchestre National de France war, haben die Musikerinnen und Musiker an Horn und Trompeten mich gefragt, ob es mir was ausmachen würde, wenn sie bei Haydn, Mozart und Schubert auf Naturinstrumenten spielen würden. Meine Reaktion: ›Wow! Wie weit sind wir gekommen, wenn solche Fragen jetzt aus einem solchen Sinfonieorchester kommen?‹ Genau auf diesen Spirit hatte ich immer gehofft.

Haben Sie Ihr Ziel also erreicht?

In der Tat. Aber es ist wichtig, sich klar zu machen, was für ein Ziel das war. Das Ziel war nicht ›Authentizität‹, wie viele denken. Uns ging es um Abenteuer. Für mich stand der Gedanke der Neuentdeckungen immer im Mittelpunkt unserer Arbeit. Wenn diese Instrumente für Bach gut genug waren, dann sollten wir auch herausfinden, wie sie klingen. Wenn ich mich gedanklich in diese Zeit zurückversetze, dann wird mir klar, was für ein beeindruckender Pioniergeist herrschte unter den Musikerinnen und Musikern, die dabei waren.

Meine Generation hat online Zugang zu unzähligen Manuskripten, Werken und Abhandlungen – ein Luxus, den Sie nicht hatten. Wie kann man sich die Recherche damals vorstellen? 

Aber es gab Kopien auf Mikrofilm oder auch Fotokopien von der British Library, vieles haben wir auch selbst von Hand abgeschrieben. Ich erinnere mich, dass ich 1976 Konzerte von Carl Philipp Emanuel Bach aufgenommen habe, und ich habe meine Stimmen von Hand herausgeschrieben und dann einen Kopisten dazugeholt. Professionelle Kopistinnen und Kopisten haben die Orchesterstimmen herausgeschrieben, und zwar in der schönsten Handschrift, etwas, das man heute nicht mehr sieht. Außerdem haben wir oft aus ziemlich schlechten Ausgaben gespielt, aber das hatte den Vorteil, dass wir alles in Frage stellen mussten.

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Sie haben 1961 angefangen, Cembalo zu spielen. Wie sind Sie zum ersten Mal mit dem Instrument in Berührung gekommen?

Ich glaube, zum ersten Mal gesehen habe ich ein Cembalo als Chorknabe in der Kathedrale von Canterbury, irgendwann Ende der 1950er Jahre. Wir hatten ein Konzert mit Purcell-Stücken. Und da gab es ein Cembalo, das ich spielen durfte. Ich fand den Klang völlig verwirrend! Aber es muss mich fasziniert haben. Es war ein Instrument von Robert Goble, wunderschön gemacht. Und in meinem ersten Londoner Konzert in der Wigmore Hall habe ich ein Cembalo von Goble gespielt, das mir der kolumbianische Cembalist Rafael Puyana geliehen hatte. Es war allerdings keine historische Kopie, sondern hatte sieben Pedale, mit denen man die Register wechseln und spezielle Effekte erzielen konnte. Es war ein gutes Instrument, aber nicht mit der Freiheit im Klang, die historische Instrumente haben.

Was meinen Sie mit dieser ›Freiheit im Klang‹?

Wie soll ich das erklären…? Es hatte nicht diese prächtigen Bässe, die man bei den besten historischen Instrumenten finden kann. Allerdings hatte es einen Satz 16-Fuß-Saiten, die für einen gewissen Glanz sorgten. Mit meinem Galliard-Cembalo-Trio – Flöte, Cello und Cembalo – bin ich zum ersten Mal auf historische Instrumente gestoßen. Ich habe jede Woche in einer Instrumentensammlung in London geprobt, im Fenton House in Hampstead. Die Sammlung gibt es immer noch. Da habe ich Geschmack an historischen Instrumenten gefunden.

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Bevor Sie nach London gegangen sind, waren Sie auf der Canterbury Cathedral Choir School [auf der damals noch keine Mädchen zugelassen waren, Anm. d. Red.] und dann auf der Langton Grammar School for Boys. Zumindest in Deutschland sind viele Knabenchöre beziehungsweise die dazugehörigen Internate in Verruf geraten. Wie ist das in England?

Ich hatte das Glück, dass ich nur tagsüber dort war und nachmittags nach Hause gehen und ein ganz normales Leben haben konnte. Ich hatte eine fantastische musikalische Ausbildung, und ich habe das tägliche Singen geliebt. Wir wurden schon in sehr jungen Jahren zu professionellen Musikern. Die verschiedenen Disziplinen, die es beim Musizieren gibt, wurden uns unglaublich gut beigebracht.

Ich kenne viele Leute aus Großbritannien, die ungewöhnlich gut singen können, obwohl sie nicht besonders musikalisch sind. Legt das britische Schulsystem mehr Wert auf Gesang als das deutsche?

Ja, aber ich denke, es gibt noch einen anderen Grund dafür. Ich denke an die Arbeit, die ich mit vielen Orchestern gemacht habe, und an die Gründung dieser Arbeit durch Kammerorchester wie The Academy of St. Martin in the Fields oder The English Chamber Orchestra. Es gab da schon eine Tradition dieser bestimmten Art von ›englischem, sauberem‹ Spielen auf modernen Instrumenten, die nicht so schwer war wie die deutsche Tradition. Man hat einen ziemlichen Kontrast gehört zwischen Karl Münchingers Stuttgarter Kammerorchester mit seinem tiefen und schweren Klang und der ›Leichtigkeit‹ der Academy of St. Martin in the Fields. Dieser englische Weg wurde auf dem Kontinent populär. Ich bin damals als Continuospieler mit der Academy durch Deutschland getourt und sehe im Rückblick, dass es eine ganz natürliche Entwicklung hin zu der historisch informierten Aufführungspraxis war, die dann in den 1980er Jahren an Popularität gewonnen hat.

In den 1960er hatten wir in Deutschland noch dieses von Wagner, Bruckner und Brahms geprägte Klangideal …

Vielleicht war das damals in England schon anders. Sir Thomas Beecham hat schon sehr früh seine berühmten Haydn-Aufnahmen eingespielt. Wenn man sich die anhört, gab es zumindest bei den Geigen diesen sehr englischen, disziplinierten, sauberen Stil.

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Wissen Sie, woher dieser Stil kommt?

Ich habe mich oft darüber gewundert: Ob etwas davon mit der Tradition des gemeinsamen Singens in der Kirche zu tun hat? Für mich scheint es ein Merkmal der englischen Musikausbildung zu sein. Oder vielleicht ist das auch unser Naturell – dass wir gute Teamplayer sind.

Der Musikkritiker Ian MacDonald beschrieb die Langton Grammar School, auf der Sie waren, als ›eine exklusive, private Einrichtung für die Söhne der lokalen Intellektuellen und Künstler. Sehr frei, mit einem starken Schwerpunkt auf der ungehemmten Entwicklung des eigenen Ausdrucks. Eine Brutstätte der jugendlichen Avantgarde‹. War das etwa eine Art Hippie-Schule? Ein Beispiel der berühmten Swinging Sixties in England? 

Naja, als ich dort war, hat der Schulleiter C.H. Rieu es zwar gefördert, dass wir gelernt haben, uns selbst auszudrücken, aber es gab auch einen konventionellen, durchstrukturierten Lehrplan

Ich kam in der Schule nicht gut zurecht. Im Rückblick verstehe ich, dass ich das hatte, was man heute Lernschwierigkeiten nennt, aber damals hat das niemand groß beachtet. Ich erinnere mich also, dass in meinem Zeugnis etwas stand wie: ›Dieser Junge ist nicht fähig, sich auf irgendein Thema zu konzentrieren.‹ Ich habe es nicht geschafft, richtig strukturiert zu lernen, ich habe mein Leben lang daran gearbeitet. Es liegt mir also sehr am Herzen, Menschen mit Lernschwierigkeiten zu helfen, die vielleicht nicht ganz mitkommen.

Andererseits ist es vielleicht ganz nützlich, vieles aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Meine Ausbildung war ziemlich unkonventionell. Ich war nie an einer Universität, weil ich einfach keinen Platz bekommen habe. Und das meiste von dem, was ich gelernt habe, kam durch meine Begabung für Musik und durch die Beschäftigung mit Musik. Ich tauche also in die Musik ein und frage quasi sie, was ich machen soll. Danach ist es wichtig, dass ich lese und lerne, vor allem wenn es um historisches Material geht. Mein Durst nach neuem Wissen ist noch nicht gestillt, ich lerne noch immer. Aber was immer ich tue, es kommt aus der Musik selbst und meiner Reaktion darauf. Es ist also eher eine private Beziehung, die nicht so sehr von Ideen von außen geprägt ist.

Ich erinnere mich daran, wie Sie bei einem Workshop einigen Studierenden geraten haben, dass sie, wann immer sie eine ausgefallene Interpretationsidee haben, sich vorstellen sollen, wie es wäre, den Komponisten anzurufen und davon zu berichten. Und dann zu überlegen, wie die Antwort lauten könnte. 

Ganz genau. Ich glaube, dass das eine gute Übung  ist, um die eigene Ehrlichkeit im Umgang mit der Musik zu reflektieren. Angenommen, man will  eine großartige Verzierung machen und hält das für die beste Idee der Welt – dann ist es gut, den Anruf durchzuspielen. Denn dann weiß man sofort, ob das nur ein Produkt des eigenen Egos ist oder ob man es wagen kann, es in die Musik einzubauen.

Ich hab das auch ein paar Mal ausprobiert. Aber einen Anruf bei Bach habe ich nie gewagt …

Es ist einfach unmöglich. Die Vorstellung, Bach anzurufen, ist viel zu beängstigend. Mozart ist nett. Aber vor kurzem habe ich etwas Interessantes erlebt: Ich habe Bachs Flötensonate in e-Moll im Radio gehört und dachte, der Anfang sei enorm langsam. Dann habe ich an der Art, wie die Flöte gespielt wurde, an dieser Schönheit erkannt, dass das die Aufnahme sein musste, die ich vor 14 Jahren mit Emmanuel Pahud gemacht habe. Ich war überrascht und fragte mich, ob das sein Tempo war oder etwas, das ich angeregt hatte. Heute spielen wir es ein wenig schneller. Und dann dachte ich an die lange Geschichte, die ich mit Bachs Flötensonaten habe. Ich habe sie zum ersten Mal gespielt, als ich etwa 17 Jahre alt war, dann habe ich sie 1975 mit Steven Preston und Jordi Savall aufgenommen. Später habe ich sie mit Jean-Pierre Rampal eingespielt. Als ich Bachs Flötensonaten 1960 zum ersten Mal gespielt habe, war die allgemein anerkannte, ›normale‹ Geschwindigkeit viel langsamer.  Glücklicherweise überlebt Bachs Musik die wechselnden Moden des Musizierens von Generation zu Generation.

Weder Jean-Pierre Rampal noch Emmanuel Pahud sind Spezialisten, was das historisch informierte Spielen angeht. Haben Sie deshalb jemals gezögert, was die Zusammenarbeit mit beiden angeht?

Nein, ich habe immer mit Musikerinnen und Musikern mit ganz unterschiedlichem Hintergrund gespielt. Das ist bemerkenswert und ich habe von allen viel gelernt. Es gibt einen Musiker, mit dem ich gerne mal ein Konzert gegeben hätte. Als ich Student war, hatte ich eine Freundin, die bei einem Meisterkurs von Frans Brüggen gespielt hat. Der hat plötzlich seine Flöte genommen und wir haben zusammen einen kompletten Satz gespielt. Ich war im Himmel! Damals sind Frans Brüggen und Gustav Leonhardt zur Academy of St. Martin in the Fields gekommen und haben Konzerte gegeben auf modernen Instrumenten, historische Instrumente haben sie auch erkundet. Die Leute erinnern sich wahrscheinlich nicht mehr daran, wie offen das ganze Feld damals war. Irgendwo, man findet das auf YouTube, gibt es eine Aufnahme barocker Orchestermusik, in der Gustav Leonhardt mit einem Orchester unter der Leitung von André Rieu spielt. Können Sie sich das vorstellen? Das waren einfach junge Musikerinnen und Musiker, die ihren Job gemacht haben. ¶