VAN: Ich habe Sie vor zwei Wochen in der Berliner Philharmonie gesehen, als Sie für Patricia Kopatchinskaja eingesprungen sind und mit der Staatskapelle Bartóks Zweites Violinkonzert gespielt haben. Parallel waren Sie mit dem London Philharmonic auf Tour, an den folgenden drei Tagen haben Sie zweimal das Beethoven-Violinkonzert in Frankfurt und Amsterdam gespielt, gleich danach noch mal Bartók in Berlin. Nach welchen Kriterien sagen Sie solche Einspringer-Anfragen zu- oder ab?
Christian Tetzlaff: Ein Kriterium für die Zusage: Die Einspringertermine waren in Berlin, wo ich wohne. Ich versuche, für meine Familie die Freiräume so groß wie möglich zu halten, ich habe hier kleine Kinder, das dritte kommt im Frühjahr, da ist so eine Anfrage normalerweise zwiespältig, wenn noch ein Reisetag dazukommt. Das Problem ist, dass ich im Moment alles wahnsinnig gerne spiele …
Eine Freundin, die zwar kein großer Fan klassischer Musik ist, aber viele Werke und Solist/innen kennt, sagte nach dem Konzert in der Philharmonie, dass sie selten jemanden gehört habe, der sie so unmittelbar beeindruckt und angesprochen habe, und dann: ›Merkwürdig, ich hatte vorher noch nie von dem Solisten gehört!‹
Ja, das ist normal so.
Es gibt fast so ein ›Christian-Tetzlaff-Phänomen‹: Sie haben das Image eines großartigen Geigers, werden von anderen Musiker/innen sehr geschätzt, gewinnen Preise, spielen mit allen großen Orchestern, sind gut im Geschäft. Gleichzeitig finden Sie in der Parallelwelt des Marketings kaum statt.
Das ist eine ganz lustige Position: weil ich ja alles spiele, was ich möchte, mit den schönsten Orchestern, und die Aufnahmen mache, die ich möchte. Ich weiß in einem Konzert auch immer, dass ich mein Publikum erreiche, gerade Leute, die gar nicht viel mit klassischer Musik zu tun haben. Aber ich mache gar kein Facebook, keine Onlinegeschichten, keine Werbung in eigener Sache. Es gibt ja viele Auslöser für Bekanntheit: dass man mit Drei das erste Mal konzertiert und deswegen der Name auf alle Ewigkeit bekannt ist, oder dass man immer besonders schicke Sachen anzieht oder was auch immer die äußeren Faktoren sind, die einen Namen dann plötzlich sich verselbständigen lassen, unabhängig von der Qualität des Spiels.
Hat Sie das mal irgendwann mehr gestört?
Mich stört nicht die Tatsache, dass ich nicht auf der Straße angesprochen werde. Was mich manchmal stört ist, wenn man ganz schöne, aber vielleicht ausgefallenere Projekte machen will und Veranstalter dann zweifeln: Mache ich das mit Tetzlaff? Wenn ich was Anderes mit Dingsbums mache, dann ist es halt a priori voll. Dann überlege ich manchmal, vielleicht sollte ich in der Richtung Marketing mal was versuchen … auch auf Youtube gibt es praktisch nichts Anständiges von mir. Aber dann denke ich: Wenn die Leute in ein Konzert gehen ohne das Gefühl, etwas gut finden zu müssen, weil es in aller Munde ist, und dann sagen ›ich habe etwas Schönes erlebt, und ich weiß nicht genau warum!‹, dann balanciert sich das wieder aus.
Gibt es Musik, die sie gerne öfter spielen würden?
Vor allem in Amerika und lustigerweise auch in England gibt es kammermusikalische Werke, die für einige Veranstalter wirklich rote Tücher sind, was nichts mit der Qualität eines Stücks, sondern mit dessen Vermarktungspotential zu tun hat. Auch bei ein paar Konzerten ist das so.
Zum Beispiel?
Wenn man es gut macht, können gerade die großen Werke des 20. Jahrhunderts für das Publikum Schlager sein. Dazu gehört auch das zweite Bartók-Konzert. Das Publikum liebt das. Aber es gibt Veranstalter, die sagen ›naja, ein Bartók ist halt an der Kasse nicht so gern gesehen.‹ Auf eine Woche gesehen liegen sie richtig, auf ein Jahrzehnt gesehen liegen sie falsch. Wenn sie die richtigen Leute einladen, um diese Musik zu machen, dann haben sie einen langfristigen Renner im Programm.
Gidon Kremer hat einen langen Essay über Beethovens Violinkonzert geschrieben. Was wäre bei Ihnen das Konzert, über das Sie am liebsten etwas schreiben würden oder am meisten zu sagen haben?
Die Stücke, die man am häufigsten spielt, sind meist die, mit denen man die innigste persönliche Beziehung hat. Das Brahms-Konzert spiele ich im Moment am liebsten, das ist tief, vielseitig und auch körperlich extrem befriedigend. Schon der erste Satz ist eine innere Weltreise von himmelhochjauchzend bis zu Tode betrübt. Bei Brahms habe ich das Gefühl, dass ich in jeder Wendung, in jeder Note genau weiß, was er mir erzählt. Und dann gibt es Schubert und Schumann, wo man das auch körperlich erfährt, aber vielleicht etwas hoffnungsloser, weniger aufgefangen, als bei Brahms. Das Beethoven-Konzert spiele ich mit Abstand am häufigsten, bis heute über 300 Mal. Das würde auch mich zu den meisten poetischen Vergleichen und Konstruktionen verleiten. Oder zu einer Interpretationskritik.
BEETHOVEN HÖREN MIT CHRISTIAN TETZLAFF
Orchester haben ihre eigenen Pfadabhängigkeiten der Interpretation, und der Dirigent hat unter Umständen auch seine eigenen Vorstellungen. Wenn Sie bei Orchestern zu Gast sind, sind solche poetischen Bilder, von denen Sie sprechen, schwer zu vermitteln?
Ich habe – zum Beispiel beim Beethoven-Konzert – einen gewissen Erfahrungsvorsprung, und ich rede nur noch in solchen Termini mit Orchestern: ›Es muss klingen wie etwas, was man gerade verloren hat. Woran man sich noch erinnert.‹ Jeder Musiker versteht da sofort, was ich meine. Das Leben ist wirklich schön geworden. Ich mache das schon lange, viele Orchester kennen mich inzwischen auch, und ich habe das Gefühl, wir sind über das Stadium hinaus, wo man sich fragt: ›na wie ist der eigentlich?‹. Ich mache die Musik, wie ich sie empfinde und bringe es auch dem Orchester so nahe. Das geht nur über tiefe emotionale Termini. Und es macht Spaß. Also es macht, glaube ich, dem Orchester auch Spaß.
Und fragen Sie sich dann öfter bei solchen Bildern, wo die Arbeit des Komponisten aufhört und die Themen von Christian Tetzlaff anfangen?
Gute Frage, ich sehe es für mich natürlich immer so, dass ich versuche, dem Kerl hinter der Musik näher zu kommen. Die können ja nur so wenig aufschreiben und haben nur diese paar Kleckse zur Verfügung, um das riesige Gebäude im Kopf auszudrücken. Die erste Regel für mich ist: Alles, was sie schreiben, muss eine Bedeutung haben. Also verstoße ich nicht gegen eine einzige Sache in der Partitur. Da ist man für einen Moment ein Detektiv, der jedes kleinste Indiz dafür verwendet, der Seele des Komponisten im Moment des Schreibens auf die Spur zu kommen. Denn die Komponisten sind ja diejenigen, die die Welt verändern, die neue Einblicke in die Seele geben – das sind nicht die Interpreten. Der Interpret kann glücklich sein, sich ganz mit auf diese Reise zu begeben. Dabei spüre ich die große Möglichkeit, mich zu erweitern, mich in Abgründe zu bewegen, die es in uns allen wahrscheinlich gibt, aber bei denen man normalerweise nicht einfach sagen kann ›So, ich gehe jetzt mal dahin!‹ Das ist ja die Aufgabe, die uns die Komponisten geben, aber auch ihre eigene Mission: dass es bei den Menschen ein Bedürfnis gibt, in sich hinabzusteigen, sich von gewissen Dingen zu befreien, im Konzert weinend zu sitzen und zu merken ›wir sitzen alle im selben Boot, der Komponist, die Leute neben mir.‹ Vorausgesetzt, es ist eine gute Aufführung. Dann erzählt sie davon, dass wir eine Seelengemeinschaft sind. Das geht über den Unterhaltungswert hinaus, unsere Musik hat eine absolute Funktion. Es entstehen ja auch evolutionär keine überflüssigen Dinge, oder? (lacht)
Finden Sie als Detektiv die Indizien nur im Werk, oder suchen sie noch woanders?
Es ist zum Beispiel faszinierend, wie innig sich Brahms und Joseph Joachim über Spielanweisungen auseinandergesetzt haben. Brahms schreibt in einem Brief: ›Für mich ist eine Zweierbindung noch immer ein Seufzer.‹ Das ›noch immer‹ ist so schön, weil er sich von der Wagner-Tradition des Singens abgrenzt und explizit auf Schütz, Bach, Mozart bezieht. Eine Zweierbindung ist ein Seufzer, das macht die Musik sprechend; das wurde aber recht brutal aus dem Geigenspiel rausgezüchtet. Der große (heutige) Sostenuto-Ton macht diese Stücke eigentlich inkommensurabel für die Geschichte, die erzählt wird. Und das ist die detektivische Arbeit. Wie sich Mendelssohn und Ferdinand David über Mendelssohns Violinkonzert ausgetauscht haben! Da schreibt Mendelssohn drei Briefe über die Kadenz, wie sie gespielt werden soll, aber das interessiert niemanden. Ich bin auch alt genug, um fragen zu dürfen: Was machen die alle da eigentlich? Und wenn man dann in einer Aufnahme mit Inbrunst das macht, was Mendelssohn vehement einfordert, schreibt ein Kritiker: ›Konnte nicht verstehen, warum Tetzlaff dies und das gemacht hat‹, weil er sich vorher nicht die Partitur durchgelesen, sondern vielleicht die sechs schönsten Aufnahmen angehört hat. Je näher man hinguckt, desto krasser stellen sich die Sachen manchmal dar. Die wirkliche Freiheit liegt nicht darin zu sagen ›er hat piano geschrieben, aber ich möchte forte spielen‹. Eher: ›Diesmal mache ich das fragende Ende ein bisschen so, dass da ein klein wenig mehr Hoffnung am Schluss aufkommt.‹ Man kann in derselben Dynamik Millionen Sachen erzählen, ich fühle ich mich in meiner Freiheit nie eingeschränkt, wenn ich versuche, das umzusetzen, was ich vorfinde.
Das Klassik-Marketing muss hingegen die Person gegenüber der Musik überhöhen, um Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit zu generieren.
Es ist sogar so: die Leute, die sich besonders über das Werk stellen, sind auch die, die besonders erfolgreich sind. Das ist ja eine logische Konsequenz. Das heißt, tendenziell werden schlechtere Interpretationen diesem Marketingaspekt besser gerecht.
Ich vermute, dass das in Bezug auf das Publikum langfristig keine gute Strategie ist, weil man wirkliche Begeisterung nur aus dem Einlassen auf die Musik ziehen kann.
Ja. Ich glaube, man kann das Publikum nur wirklich an die Musik binden, indem man sagt ›Leute wir haben genau das Gegenteil anzubieten. Wir haben eine persönliche Ansprache anzubieten zwischen einem Komponisten und dir! Wir haben die Möglichkeit abzutauchen in Verletzlichkeit und Traurigkeit und Freude!‹ Aber was da gemacht wird, münzt Musik um in Bewunderung für den Interpreten, was keine Münze ist, die dem Publikum letztendlich irgendwas bringt.
Kann man das einfach ausblenden, wenn man in dieser Szene unterwegs ist, oder lässt man es dann doch irgendwie an sich ran?
Das ist mir wirklich ganz egal.
Wann waren Sie das letzte Mal auf Facebook?
Ich war noch nie auf Facebook.
Sie haben aber eine Facebook-Page.
Ja, aber nicht von mir. Vor kurzem hat meine Plattenfirma gesagt, wir müssen irgendwas haben, wo wir Links für neue Veröffentlichungen posten, und dann hat mein Sohn gesagt, dass er mir eine macht, aber ich habe sie noch nie gesehen und war auch noch nie drauf. Das ist ein bisschen peinlich, aber es zieht mich da irgendwie nicht hin.
Sie haben jetzt auf Ihrer Page 229 Likes, Anne-Sophie Mutter hat 164.721.
Ich habe sie noch nie gesehen, deswegen bin ich auch froh, dann weiß ich das auch nicht. Aber auf der Page ist ja auch nichts, also was soll man da liken?
Anne-Sophie Mutter hat ein so genanntes Club-Album aufgenommen, für das sie in einem Berliner Club gespielt und ein paar Dauerbrenner aufgenommen hat. Es gab unzählige Facebook-Posts. Sie hat sich zum Beispiel vor dem Konzert auf ihrer Seite über ihr Outfit ausgetauscht, darüber, welche Schuhe am besten passen und so weiter. Ist das die Zukunft der klassischen Musikkultur?
Nö. Also das würde ich grob gesagt eher als Ende der klassischen Musik sehen. Was wir anzubieten haben, ist das Gegenteil zur Popkultur. Die Popkultur hat eine wunderbare und ganz eindeutig funktionierende Aufgabe in der Gesellschaft, ein Popkonzert bringt sozusagen eine Masse zusammen und begeistert einen durch das Geschehen auf der Bühne. Wir haben eine persönliche Ansprache von irgendeiner Person in irgendeiner Zeit, die jemand anderem etwas Wichtiges zu erzählen hat. Das ist nicht miteinander zu vergleichen. Das heißt, wenn wir unsere Musik populär machen mit solchen Methoden, dann verlieren wir die Möglichkeit, Dinge zu sagen, wie: Es geht hier nur um diese zwei Takte im Piano, wo das Stück zusammenschiebt. Hier passiert was und da, da musst du konzentriert sein. Das ist nicht gleichzeitig zu vermitteln.
Haben Sie das Gefühl, dass da generell etwas verloren geht?
Überhaupt nicht, also ich bin da extrem positiv. Es gibt wahnsinnig viele fantastische junge Dirigenten mit Sinn für alle Zwischentöne ohne Diktaturgehabe. Es gibt sehr viele Konzertstätten, die wunderbar laufen, und es gibt schöne Kammermusik-Ensembles. Es läuft alles auf der zweiten Ebene bestens. Und den Überbau, ›wir müssen die klassische Musik populär machen‹, den halte ich für vollkommen überflüssig. Also nicht finanziell – für die beteiligten Schallplattenfirmen und Künstler – aber darüber hinaus halte ich es für überflüssig und ein bisschen schade, wenn man sich in der Attitüde vor die Musik stellt und kein Mensch mehr erkennen kann, was hier eigentlich erzählt wird, wenn man nicht in der Musik versinkt, sondern nur am Äußeren haften bleibt. Ich kann nicht gleichzeitig im roten Lack auftreten und sagen ›guck mal was für zarte Pflanzen ich in einer Hand habe!‹
Träumen Sie von Musik?
Ich träume lustigerweise sehr oft von Komponisten. Es waren von früher Kindheit an meine Heroen, also erst Dinosaurier, dann Komponisten. Ich glaube das hängt mit so einer romantischen Wild-West-Vorstellung zusammen, dass jemand da ist, der ganz alleine in irgendeine Gegend geht, wo vor ihm keiner war. Wenn man als Kind Schuberts und Schumanns Leben liest, empfindet man so einen Schauder, weil das ›Warum‹ dieser Menschen so riesig gewesen sein muss, der dringende Wunsch, sich als verschlossener Mensch auch mitzuteilen: ›Bitte nehmt mich, meine Seele wahr!‹. Das ist eine tolle Eigenschaft. Trotz der widrigen Lebensumstände so Einiger stelle ich mir Komponisten deswegen auch immer als glückliche Menschen vor.
Gibt es auch Stücke oder Komponisten, bei denen Sie keine Lust haben, sich auf diese Detektivarbeit zu begeben?
Ja, es gibt Leute, mit denen ich eigentlich gar nichts anfangen kann. Zum Beispiel Strawinski ab Sacre du Printemps. Darauf folgen 20, 30 Jahre neoklassizistische Mode, in der meines Erachtens ein interessant klingender Trick nach dem anderen kommt und ich mich frage, sollen wir jetzt bewundern wie trickreich das gemacht ist oder wo ist die Mission? Das gleiche gilt für mich für Prokofjew. Darum spiele ich einfach beide nicht. Aber sonst sind mir über die Jahre alle, mit denen ich mich beschäftigt habe, sehr ans Herz gewachsen.
Wenn Sie sich als Interpret als eine Art Medium sehen, der über die Musik der Seele des Komponisten näherkommt und auch sich selbst, wie kommt man da wieder raus? In schamanistischen Traditionen gibt es nach dem Ritual für das Medium immer eine Erschöpfungs- oder Erholungsphase. Wie ist das bei Ihnen, wenn Sie zum Beispiel Bergs Violinkonzert gespielt haben? Was passiert danach?
Danach gibt es erst mal ein paar Bier und damit ist das meist ganz schnell abgewälzt. Es ist ein wahnsinnig intensiver Moment, aber dann sind die Freunde da, dann bin ich am nächsten Morgen in der Familie und bringe meinen Sohn zum Kindergarten, das sind zwei vollkommen separate Leben. Mein Leben als Geiger wird Ihnen, da wo ich wohne, nirgends begegnen. Nicht mit Plakaten oder irgendwas, das ist ganz intensiv getrennt. Ich übe zu Hause auch fast gar nicht, also vielleicht eine halbe Stunde oder eine Stunde mal. Der Konzertmoment ist wie eine Explosion, die dann aber sofort vorbei ist.
Da sprechen Sie ein Thema an, was ja immer wieder hervorgeholt wird, wenn es um Sie geht – dass Sie irgendwann mal gesagt haben, Sie üben nur eine Stunde am Tag. Warum ist dieses Thema eigentlich ein so großes?
Ich erzähle das auch eigentlich nur, wenn ich danach gefragt werde, weil ich sehe, dass es ein großes Thema in der Jugend ist. Da werden Leute verschlissen zu Tausenden, die nachher vielleicht keine Musiker werden, weil sie es nicht überlebt haben. Ein Kind, das sieben Stunden am Tag übt, ist ein Fall für UNICEF, finde ich. Das ist wie Kinderarbeit, auch wenn es vielleicht schöner anmutet, als wenn es irgendwo in einer Fabrik arbeitet, aber es ist ein emotionaler Stress für etwas, was eigentlich die größte Befreiung und Ausdruck seelischer Freiheit sein sollte. Jeder Neurologe sagt, dass man mehr registriert, wenn man eine Stunde übt und dann Pause macht, als bei diesem brutalen Durchspielen, das auch so einen latenten Hass gegen die Geige erzeugt. Nur deswegen thematisiere ich das, weil ich möchte, dass die Kinder hören ›aha, der Christian spielt immerhin auch Solokonzerte und hat erst mit 15 drei Stunden täglich geübt!‹ Wenn man mit 15, 16 drei, vier Stunden täglich was intensiv macht, dann kann man dabei viel lernen. Und man kann das dann über die nächsten 30, 40 Jahre weitermachen und dazu lernen. Es ist ein fieses Bild: dass etwas nur dann einen Sinn ergibt, wenn man einfach alles dafür opfert. Johannes Brahms ist es egal, ob derjenige, der spielt, zehn ist oder 40. Nur bei 40 ist die Chance höher, dass das, was erzählt wird, tatsächlich erlebt ist. Im Zirkus ist diese Bewunderung vielleicht nachvollziehbar für einen 10-jährigen der die Teller hochwirft, aber bei uns geht es eben nicht um Fähigkeiten. Bei uns geht es ums Erzählen von Inhalten. Bei einem Kind kann man noch gar nicht wissen, ob es nur gut imitieren kann oder ob er wirklich darauf brennt, Musik zu erzählen.
Haben Sie einen Zuschauer im Kopf, wenn Sie spielen?
Also ein bisschen spiele ich für den in Not und das sind wir fast alle irgendwie, ich zum Beispiel, wenn ich wie gestern im Publikum sitze bei Brahms 4. Sinfonie und mit Brahms tausend Tode gestorben bin vor Angst und Schönheit und vor Stolz, dass jemand das alles ausspricht und kämpft und sich als Mensch bekennt. Ich weiß als Zuhörer genau, was in den guten Momenten passiert, wenn es im Raum zusammenschießt. ¶