Gewaltige Distanzen kann man an einem ganz normalen Berliner Konzertsonntagnachmittag zurücklegen: etwa von der nicht ersten, aber ersten bedeutenden Oper der Musikgeschichte direkt rüber zu einem intimen Kammerkonzert mit feiner Gegenwartsmusik von sage und schreibe acht verschiedenen Komponisten. Eine Viertelstunde per S-Bahn und Tram, vom Tiergarten in die Prenzlberger Kastanienallee; nicht nur musikalische Welten. Und doch harmoniert es dann ziemlich gut. Wegen dieser Wahlverwandtschaft, die es erstaunlich oft zwischen früher und zeitgenössischer Musik und deren Interpreten gibt, unter Überspringung des gefräßigen 19. Jahrhunderts? (Warum gibt es diese Verbindung? Vielleicht wegen des reflektierten, präzisen Herangehens an jeweilig erforderliche Spielweisen?)


Das Freiburger Barockorchester, das derzeit auf einer seiner regelmäßigen kleinen Tourneen Claudio Monteverdis L’Orfeo konzertant aufführt, hat sich selbst schon an derlei Kontaktknüpfungen gewagt. Ich erinnere mich an ein spannendes Lamento-Konzert im Jahr 2015, das den Bogen von Henry Purcell und anderen englischen Komponisten des 16. und 17. Jahrhunderts bis zu Salvatore Sciarrino und Klaus Huber spannte.

Solche Experimente sind jedoch absent, wenn das FBO (in genregemäß reduzierter Besetzung nennt es sich dann »BarockConsort«) unter René Jacobs einen hochkonzentrierten Orfeo gibt. Zweifellos ist der Große Saal der Berliner Philharmonie für diese Musik ein entschieden zu Großer Saal. Für einige Sänger und einige Instrumente ist das problematisch. Es ist die Zürcher Sing-Akademie, der die raumfüllende Wirkung am organischsten gelingt, agil und wandelbar und stets wohlkonturiert: ein Chorklang wie klares Wasser. Die rapiden Orfeo-Umschläge von ausgelassener Freude in tiefe Verzweiflung und wieder zurück in unerwartete Hoffnung verkörpern die Vokalisten höchst lebendig. Sinnvoll sind sie mittig hinter der Continuogruppe und vor den weiteren Instrumentalisten platziert, was die musikalische Kommunikation begünstigt.

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So gelingt es, getragen vom kompetenten Consort, auch den wichtigsten Sängern, den weiten Raum einigermaßen zu füllen, ohne beseelten Ausdruck zu opfern. Das gilt als erstes natürlich für Yannick Debus mit seinem markanten Bariton als Orpheus: der erste Rockstar der Operngeschichte, den Monteverdi da schuf. Die tiefe Resonanz der langhalsigen Theorbe trägt hypnotisierend Orfeo-Debus’ melismatischen Betörungsgesang, der sogar Höllenwächter zu rühren und (wenn selbst das nicht hilft) einzuschläfern vermag. Ihr Echo finden diese orphischen Künste in den aufsteigenden Figuren zuerst des Violinenpaars, dann des Zinkenpaars, von denen jeweils ein Instrument nach vorn, eins nach hinten gewandt spielt. Das ist von traumhafter Wirkung. Und ein bisschen auch eine musikalische Vorausdeutung auf das mutmachende Echo, das später dem gescheiterten Orpheus zurück in der Lichtwelt nachhallt.

Eine andere, durchaus heitere Transfiguration von Orfeos Betörung findet statt, wenn die kunstbetörte Unterweltkönigin Proserpina ihrerseits die eigene erotische Macht einsetzt, um ihren Gatten Pluto zu erweichen. »Konzertant« heißt hier generell nicht Rumstehen, die ganze Aufführung ist reich an Bewegung, ohne doch mit aufgesetzter Halbszenerie zu nerven. Es wird immer wieder gekniet und geweint, getanzt und gescherzt. Und so entzückt auch die Proserpina von Eva Zaïcik nicht nur mit der Fülle ihres farbenreichen Mezzosoprans, sondern ebenso mit der Fülle des Dekolletés, dessen offensive Präsentation nicht nur Herrn Pluto entzückt. Der einnehmende Spielwitz des Nachmittags begann indes schon damit, dass im Foyer der Philharmonie ein paar Minuten vor Konzertbeginn – statt Saalgong – die Bläsergruppe des BarockConsort im Philharmoniefoyer die berühmte Monteverdi-Fanfare ertönen ließ.

Der Raum, in dem gut drei Stunden nach der ersten Monteverdi-Fanfare das Zafraan Ensemble sein Konzert beginnt, ist dann eigentlich zu klein für diese Musik. Wenn auch nicht überdisponiert fürs Publikum – es hätten schon noch ein paar mehr als die erschienenen etwa 25 Hörer Platz gefunden im Prenzlberger Dock11, wo es immer wieder interessante Veranstaltungen gibt. Aber über die Qualität einer Kulturveranstaltung sagt die Zuschauerzahl nicht unbedingt etwas aus. Pi mal Daumen kommt hier auf jeweils drei Zuschauer ein Musiker, ebenso ein Komponist; und summa summarum kann der Kritiker seriösissimo bilanzieren, dass das lauter gutes Zeug ist.

Wobei das Kleine und das Große in der neuen Musik öfter in einem spannungsreichen Verhältnis stehen. Manchmal gibt es Werke, die mit großen Worten arg kleinteilige Musik ankündigen. Hier ist das bei Charlotte Seithers 2018/19 entstandenem Stück Lauschgut der Fall, das »der Idee (folgt), das Klavier von seiner akkordischen Tradition zu befreien«. Was dann durch addiertes Klopfen, Zupfen, Pochen auf und im Klavier geschieht, ist durchaus nicht reizlos, aber auch nicht frei vom Risiko gepflegter Langeweile. Lauschgut ist immerhin kurz genug, dass sie nicht eintritt, sondern als bescheidene Spielerei dann doch gefällt.

An diesem Konzertabend ist allerdings die gegenteilige Erfahrung häufiger: expansive Klangerfahrung auch da, wo die Stückerklärung friemelig wirkt. Die Musik von Christoph Bertrand etwa, der sich 2010 nicht mal dreißigjährig das Leben nahm, ist von raumsprengender Energie: so auch Aus für Trio von 2003, aus nur wenigen Tönen entstehend, nur wenige Minuten, trotzdem ein Vulkan.

Da gibt es dann auch Stücke, deren Reiz in drängender Simplizität liegt, etwa Daniel Eichholz’ Habakuk 1 mit dem Komponisten selbst als virtuosem Schlagzeuger oder Iris ter Schiphorsts Hi Bill! von 2005 für Bassklarinette. Daneben klingen Arbeiten von älteren Komponisten, bei denen man es in aller Vorsicht wagen möchte, von Repertoirebildung zu sprechen. Neben Georg Katzer (1935–2019), ostdeutschem Pionier des Komponierens mit elektronischen Mitteln, stehen drei um 1950 geborene Komponisten auf dem Programm. Und bei allem Respekt für Beat Furrer und Pär Lindgren – die Intensität von Claude Vivier erreicht sonst keiner. 1983 fiel dieser kanadische Komponist mit Mitte 30 einem Mord zum Opfer. Seine Musik wie die hier gespielte Pièce pour violon et clarinette aus dem Jahr 1975 ist von so berstender Sehnsucht, innig berührend und clownesk zugleich, dass sie einen stets von Neuem packt. Der Klarinettist Miguel Pérez Iñesta und die Geigerin Emmanuelle Bernard sind erlesene Interpreten dieser Musik, wie überhaupt alle Instrumentalisten technisch erstklassig sind. Das Zafraan Ensemble ist eine jener exquisiten freien Gruppen, die Berlins Musikleben immens bereichern und überhaupt erst wahrhaft gegenwärtig machen. Selbstverständlich, solche Musik hätte mehr Publikum verdient. Aber man kann es auch umdrehen und sagen: Bei dieser Kunst kommt’s noch auf jeden Zuhörer an! Orpheus wäre hingegangen, er hat schließlich aus seinem Hadesgang Erfahrung mit Eccentric dialogues, wie das Zafraan Ensemble dieses Programm nennt. Es ist Teil der Reihe »On the Road«, für die es bis zum Sommer noch fünf weitere Termine gibt: nicht nur im gemütlichen Dock 11, sondern auch in verdientem größeren Rahmen, etwa bei der MaerzMusik und im Mai bei einer Präsentation im Pierre Boulez Saal. ¶

… lebt in Berlin, liebt Musik, schreibt Romane: u.a. ›Beethovn‹ (2020). Zuletzt erschien ›Silence‹. ✉️ KonzertgaengerBerlin@gmail.com

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