René Jacobs im Interview.
Er ist einer der Großen der Barockmusikwelt. Über 250 Platten und CDs hat René Jacobs aufgenommen. Als Countertenor wurde er berühmt und setzt heute seinen Weg als Dirigent, Wissenschaftler und Lehrer fort. Regelmäßig ist Jacobs an der Staatsoper Berlin zu Gast, wo er aktuell quasi gleichzeitig zwei Produktionen dirigiert: Il Primo Omicidio von Alessandro Scarlatti und King Arthur von Henry Purcell. Arno Lücker hat den erkälteten René Jacobs an einem vorstellungsfreien Tag in Berlin getroffen.
VAN: Herr Jacobs, am 1. November war die Premiere von Alessandro Scarlattis oratorium Il Primo Omicidio an der Staatsoper Berlin. Ein Oratorium – auf die Opernbühne gebracht von Romeo Castellucci. Wie war die Zusammenarbeit mit ihm?
René Jacobs: Ich habe das sehr gerne mit ihm gemacht. Regisseure sind oft so egozentrisch. Und Castellucci ist es überhaupt nicht.
Sind Sie schon einmal verfrüht abgereist, weil sich der Regisseur entsprechend aufgeführt hat?
Nein, nie, weil es für die Sänger dann meist sehr schwierig wird, wenn ein Dirigent mitten in der Probenphase die Produktion verlässt. Bei einem Streit von Regisseur und Dirigent befinden sich die Sänger dazwischen. Deshalb gebe ich nicht so schnell auf.
Die Zusammenarbeit von Dirigent und Regisseur*in wird ja vermutlich auch durch Inszenierungsideen erschwert, von denen man schon vorher weiss, dass sie in einem feuilletonistischen Verriss münden werden. Tatsächlich sind Viele meiner Kolleg*innen es leid, sich ›moderne Lesarten‹ von bekannten Opern anzuschauen. Was ist das Problem des Opernregietheaters?
Ich glaube, das ist dadurch entstanden, dass wir immer die gleichen Stücke spielen. Das ist natürlich ein großes Problem. Es gab mal eine Zeit, in der immer neue Opern komponiert und aufgeführt wurden. In früheren Epochen war es die absolute Ausnahme, dass eine Oper der Vergangenheit wiederauftauchte. Jedenfalls im Barock. Unsere heutige Kanonisierung: Das ist das Problem! Ich merke das selbst bei der Barockoper. Zwar werden inzwischen mehr aufgeführt als früher, aber wir haben es dabei fast immer mit den gleichen Komponisten zu tun. Und wenn dann ein Starkomponist wie Händel ausgewählt wird, dann sind es auch von ihm immer die gleichen fünf Opern. Stücke, die schon früh eine Rezeptionsgeschichte hinter sich hatten, werden auch zu häufig gespielt. Das fängt an mit Gluck und wird dann besonders deutlich bei Mozart: Don Giovanni, Le nozze di Figaro und Die Zauberflöte. Ab bestimmten Zeitpunkten wurden diese Opern jedes Jahr irgendwo gezeigt. Das geht durch bis heute. Dadurch entsteht die Lust von Regisseuren, die Geschichten neu zu erzählen. Und das finde ich auch gut. Wenn aber nur die Musik dazu benutzt wird, eine Geschichte zu erzählen, die mit dem eigentlichen Inhalt nichts mehr zu tun hat, entstehen perverse Traditionen. Beispiel Don Giovanni. Oft wurde und wird die Titelrolle mit viel zu alten Sängern besetzt: ältere Playboys. Dabei ist Don Giovanni ein sehr junger Typ! Der Sänger der Uraufführung 1787 – Luigi Bassi – war gerade einmal 21 Jahre alt. Das war jemand, der in der Rolle Grenzen verschob. Alle verlangen nach den »willigen Frauen« und immer wieder nach der Registerarie. Mit Leporellos Madamina, il catalogo è questo, in der dieser die Anzahl und die Herkunft von Don Giovannis Liebhaberinnen aufzählt, wollte Mozart vor allem eine ganz bestimmte Mode der damaligen Zeit aufgreifen. Das Publikum liebte »Katalog-Arien«; Arien also, in denen möglichst viel – und relativ egal, was – aufgezählt wurde. Don Giovanni ist ein Tabubrecher, ein Mörder. Er ist unglaublich brutal und nimmt alles sehr verschwenderisch und rücksichtslos mit. Da benötigt man gar keine moderne Inszenierungsidee; das ist per se modern. Neue Regie-Ideen brauchen aber auch eine Entsprechung in der Musik! Man muss die Partituren wieder neu studieren, Tempi hinterfragen und so weiter.

Eine weitere ›Schuldfrage‹… Sie haben einmal gesagt, Richard Wagner wäre schuld daran, dass seit ihm weniger Barockopern gespielt werden. Wie haben Sie das gemeint?
Wagner hatte einen großen Einfluss auf Meinungen, Ansichten, Werturteile… Er hat ja nicht nur Musik geschrieben. Seine Musik ist immer von höchster Qualität – und ab und zu genial. Leider hat er aber als Schriftsteller seine Meinung über alles und jeden abgegeben. In Musik und Drama geht es bei ihm auch um Barockmusik und die Frage, was ›deutsche‹ und ›undeutsche‹ Musik ist. In Wagners musikschriftstellerischer Nachfolge hat dann Hermann Kretzschmar 1911 in Geschichte des Neuen deutschen Liedes die Lieder Schuberts als den Beginn der deutschen Liedgeschichte markiert. Dabei gab es schon sehr lange vor Schubert wunderbare Lieder in deutscher Sprache, beispielsweise Lieder mit Lautenbegleitung. In Frankreich gab es die Air-de-Cour-Lautenliedtradition und in England sehr prominent die Lieder von Dowland. Die deutschen Barocklieder haben oft so wunderbare Texte, beispielsweise von Martin Opitz. Das ist schon an sich sehr gute Dichtung. So etwas hat Wagner dann als ›schwülstig‹ bezeichnet; ›schwülstig‹ immer als Synonym für ›italianisiert‹. An der barocken Gänsemarktoper in Hamburg schrieben Komponisten wie Georg Philipp Telemann und Reinhard Keiser ihre Werke nach italienischem Modell. Und in gewisser Weise beschäftige ich mich gerade auch mit dem ›Deutschtum‹ in der Operngeschichte, denn bald dirigiere ich erstmals Carl Maria von Webers Freischütz, der ja so etwas ist wie die ›Geburtsstunde der urromantischen deutschen Oper‹. Für Wagner und seine Anhänger galt alles vor dem Freischütz als ›schwülstig‹ und ›italienisch‹.
Ich habe erst zwei Telemann-Opern und ein Stück von Keiser machen können. Als ich hier in Berlin vor 27 Jahren anfing, war Georg Quander der Intendant der Staatsoper Unter den Linden. Ein studierter Musikwissenschaftler! Da ging das. Jetzt versuche ich immer noch, deutschsprachige Barockopern zu verkaufen, auch beispielsweise in Wien. Am Theater an der Wien wurde so viel Barockoper gemacht. Aber total kanonisiert. Am liebsten würde man da alle Händel-Opern produzieren. Aber es geht nicht. Wagner ist an allem schuld.
Telemann und Keiser verwendeten ja in ihren Werken für die Hamburger Gänsemarktoper italienische Arientexte, selbst wenn der Rest der Oper auf Deutsch gesungen wurde. Und schon damals und auch später – bei den nationalsozialistischen Musikwissenschaftlern – bezeichnete man diesen Trend als ein Akt der ›Überfremdung‹.
Ganz im Gegensatz zu England beispielsweise. Die Engländer nahmen Einflüsse von außen immer dankbar und freundlich auf. England hat immer alles akzeptiert! Und jetzt wollen sie aus Europa raus! Die Musik von Purcell ist voll von französischen und italienischen Einflüssen… Die haben alles aufgesogen.
Lesen Sie viele Libretti – ohne Blick auf die Partitur?
Ja! Es gibt so viele Libretti, bei denen die Musik auch leider einfach nicht erhalten ist. Das große Beispiel: Dafne von Heinrich Schütz. Wenn da die Musik eines Tages auftauchen würde… Da habe ich aber nicht viel Hoffnung. Oder L’Arianna von Monteverdi. In einem speziellen Fall habe ich tatsächlich erst das Libretto gelesen – und dann die Musik betrachtet. Ich fand den Text so gut, dass ich Angst hatte, dass die Musik dagegen abfällt. Es geht um das Stück L’opera seria von Florian Leopold Gassmann (1729–1774), eine Parodie auf die Opernwelt. Das Libretto ist von Ranieri de’ Calzabigi, dem großen Gluck-Librettisten. In dieser komischen Oper wird eine ernste Oper, wie der Titel schon sagt, produziert. Wie häufig zu dieser Zeit spielt die Opernhandlung an nur einem einzigen Tag. Es ist der Tag der Opernpremiere. Es beginnt früh morgens mit der Verspätung der Primadonna. Weitere Probleme tauchen auf, plötzlich brennt das Theater… Im dritten Akt wird das Stück dann tatsächlich gespielt, aber nicht lange. Das Publikum hasst das Stück, es gibt Buh-Rufe. Das Finale schließlich spielt in den Kulissen. Das Publikum hat nach nur vier Arien die Akteure von der Bühne geschrien. Dieses Libretto las ich also, bevor ich die Partitur Gassmanns anschaute. Die Musik fand ich mehr als okay, aber nicht genial. Weil das Libretto aber so gut ist, haben wir das Stück damals programmiert.
Was ist denn aus Ihrer Sicht die beste Opernmusik mit dem schlechtesten Text – und umgekehrt?
Da muss ich natürlich von den Stücken ausgehen, die ich gut kenne. Herrliche Musik mit gar nicht gutem Libretto? Händels Giulio Cesare!
Und wo ist das Libretto hervorragend – und die Musik schlecht?
[überlegt] Das ist schwerer zu beantworten. Wenn ein Libretto gut ist und die Musik mittelmäßig, kann das Libretto so inspirierend wirken, dass der Dirigent, wenn er Fantasie hat, die Musik besser erscheinen lassen kann, als sie ist. Das ist besonders gut machbar bei barocker Musik, weil dort in den Noten nicht alles steht.
Sie dirigieren ja meist barocke Spezialensembles. Vor ein paar Tagen hat Ihr Kollege Iván Fischer gesagt, dass Orchester der Zukunft sähe so aus, dass alle Musiker*innen sowohl auf barocken als auch auf modernen Instrumenten gleich gut spielen können. Ist das dann das Ende von barocken Orchestern und Ensembles?
Ich stimme Iván Fischer zu. Es ist ja heute schon so, dass es in großen Orchestern Gruppen von sehr motivierten Leuten gibt, die auf Originalklanginstrumenten musizieren. Bis sich das flächendeckend durchsetzt, wird es aber noch dauern. Die Arbeit mit der Akademie für Alte Musik Berlin, dem Freiburger Barockorchester oder dem B’Rock Orchestra finde ich aber gerade spannend, wenn sie Musik von bestimmten Epochengrenzen spielen, wie beispielsweise Beethovens Missa solemnis, die ich jetzt mit dem Freiburger Barockorchester eingespielt habe [erscheint im September 2020 bei harmonia mundi]. Um Beethovens Musik muss man immer kämpfen! Es gibt Momente, in denen ich Beethoven hasse – und Momente, in denen ich seine Musik liebe. Das hat einen großen Reiz, wenn man das mit Ensembles macht, die auf alten Instrumenten völlig kompromisslos zu Werke gehen! ¶
Hinweis: In einer früheren Fassung dieses Textes wurde die Arie »Madamina, il catalogo è questo« aus Mozarts Don Giovanni fälschlicherweise dem Protagonisten der Oper zugeschlagen. Wir haben das korrigiert.